13. Februar 2025
Am 3. Februar 2025 verstarb der marxistische Soziologe und Humanist Michael Burawoy. Er hinterlässt uns ein Vermächtnis, das es weiterzutragen gilt: eine Sozialwissenschaft, die den Elfenbeinturm verlässt und sich zur Gesellschaft hin öffnet.
Vordenker einer intervenierenden Soziologie: Michael Burawoy.
»Good news, there is precarity in Germany!« Mit diesem Satz kommentierte Chair Michael Burawoy meinen Beitrag zu einer Konferenz des Johannesburger »Society, Work and Development Institute« (SWOP) im September 2012. Zuvor hatten zahlreiche Inputs Prekarität und Prekarisierung im Globalen Süden facettenreich ausgeleuchtet. Brasilianische Favelas und das Elend in palästinensischen Flüchtlingslagern waren ebenso Thema wie die »precarious society« Südafrikas mit ihren chronischen instabilen Basisinstitutionen. Nach diesem Vorlauf musste meine Intervention zu Prekarität in reichen Gesellschaften geradezu exotisch wirken. »Was kann Prekarität in Ländern mit verwöhnter Arbeiteraristokratie, die es sich auf Kosten des ausgebeuteten Südens gut gehen lässt, schon bedeuten?«, dürften sich viele Anwesend im Stillen gefragt haben.
Mit seinem humorigen Kommentar überbrückte Michael Burawoy die atmosphärische Störung in Sekundenbruchteilen. Lacher im Publikum ließen das Eis schmelzen, fortan war konstruktive Kontroverse angesagt. Ich war und bin noch immer hingerissen, von einem leibhaftigen Burawoy, der mir bis dahin nur aus Büchern bekannt war. Manufacturing Consent, eines seiner Hauptwerke, hatte ich gelesen, weil es sich eignete, der in Deutschland neu entstehenden Managementforschung eine kritische Perspektive entgegenzusetzen. Herrschaft in Betrieben und Unternehmen stößt nach Burawoy auf »politics in production«, auf Produktionspolitiken, deren wichtigste Akteure die Beherrschten, die Arbeiterinnen und Arbeiter, sind. Sie haben jene Transformation von Arbeitskraft in verausgabte Arbeitsleistung zu realisieren, die unter der Kontrolle des Managements erfolgt. Burawoy zeigt anschaulich, wie die Arbeiterinnen und Arbeiter diesen Prozess beeinflussen und auf welche Weise Zustimmung entsteht. Mit seiner »Extended Case Method« ist es ihm gelungen, verallgemeinerbare Schlüsse aus empirischer Einzelfallforschung zu ziehen. Das war ihm möglich, weil er selbst an den Orten gearbeitet hat, die er wissenschaftlich erkunden wollte – in sambischen Kupferminen ebenso wie später in der Arbeitswelt Ungarns oder Russlands.
Das alles war mir bekannt. Ich begegnete dem Chair meines Panels daher mit größtem Respekt. Doch dann entpuppte sich der weltbekannte Soziologe Burawoy als Menschenfänger. In den Folgejahren durfte ich ein ums andere Mal erleben, wie soziologische Kommunikation funktionieren kann, ohne sich mit trockener akademischer Zurückhaltung zu begnügen. Wenn Michael vortrug, ließ er den ganzen Körper sprechen. Er unterhielt sein Publikum mit Gestik und Mimik auf eine interaktive und zugleich überaus charmante Art. Michael war ein außergewöhnlicher Wissenschaftsentertainer, der Soziologie dennoch mit großer Ernsthaftigkeit betrieb. Mit höchsten akademischen Weihen ausgestattet, lag ihm jeglicher Standesdünkel fern. Zum Zeitpunkt des Johannesburger Kolloquiums war er bereits Präsident der International Sociological Association (ISA, 2010-2014), aber behandelte uns Anwesende so, als stünden wir auf einer Stufe – ganz gleich, ob wir im Fach, in Gewerkschaften oder sozialen Bewegungen tätig waren.
Das fiel Michael offenkundig leicht, weil er für sein großes Anliegen – eine Soziologie, die Grenzen zwischen nationalen Wissenschaftskulturen überbrückt – Verbündete benötigte. »Globale Soziologie muss in erster Linie eine lokale Soziologie sein, keine Soziologie, die über dem Boden schwebt und sich leicht in einem falschen Universalismus verfängt« , notiert er, auf seine programmatische Rede zurückblickend, die er als scheidender ISA-Präsident während des XVIII. Weltkongresses der Soziologie in Yokohama gehalten hatte. Eine globale Soziologie müsse »vor Ort« betrieben werden. Deshalb sei es sinnvoll, dass Soziologinnen und Soziologen aus Ländern des Globalen Südens die theoretische Dominanz »westlicher« Paradigmen hinterfragen. Entsprechende Kritik müsse sich jedoch auf einen universellen Rahmen beziehen, der wechselseitige Kommunikation überhaupt erst ermögliche. Sie müsse auf »reflexiven« Theorien eines globalen Kapitalismus gründen, die ihren eigenen Universalitätsanspruch beständig hinterfragen, umriss der Visionär Burawoy die Leitidee seines Projekts.
Die Idee einer weltumspannenden soziologischen Kommunikation konkretisierte der ISA-Präsident in der von ihm gegründeten Zeitschrift Global Dialogue, die zunächst in siebzehn Sprachen, darunter zwei chinesische Dialekte, erschien. Die Übersetzungen werden bis heute neben einer Redaktion von Teams aus Ländern geleistet, die ehrenamtlich arbeiten. Die Idee einer globalen Soziologie ging aus einem Konzept hervor, das den Arbeitssoziologen Burawoy weit über die Grenzen seines ursprünglichen Fachgebiets hinaus bekannt machte. Als 95. Präsident der American Sociological Association (2003–2004) hatte er das Programm einer »public sociology« vorgelegt, die den akademischen Elfenbeinturm verlassen und sich direkte an die Zivilgesellschaft und deren Akteure wenden sollte. Hintergrund dieses Vorhabens war eine, wie Michael sie nannte, »dritte Welle der Vermarktlichung«, die wissenschaftliches Wissen kommodifizierte und universitäre Einrichtungen tendenziell in »Profitcenter« verwandelte. Unter diesen Bedingungen ließ sich Wissenschaftlichkeit nur noch verteidigen, so Burawoy, wenn sich Soziologinnen und Soziologen mit Akteuren außerhalb der Hochschulen verbündeten.
»Globale Soziologie muss in erster Linie eine lokale Soziologie sein, keine Soziologie, die über dem Boden schwebt und sich leicht in einem falschen Universalismus verfängt.«
Mit seinem Vorschlag sorgte Michael im Fach für heftige Kontroversen, deren Ausmaße ihn selbst überraschten. Ich gestehe offen: An mir war diese intellektuelle Schlacht bis zu jenem Abend, als ich an einer Sitzung der Open-Sociology-Arbeitsgruppe Johannesburg teilnehmen durfte, völlig vorbei gegangen. Dann erlebte ich Michael inmitten einer Gruppe junger Soziologen und Soziologinnen, die allesamt in sozialen Bewegungen aktiv waren. Sie konfrontierten den Begründer der »public sociology« mit Problemen aus ihrer Praxis. Wie Michael selbst einräumte, ist an dem Konzept einer öffentlichen Soziologie eigentlich nichts neu. In der ihm eigenen Bescheidenheit beanspruchte der an der University of California lehrende Soziologe lediglich, einem Modus soziologischer Wissensproduktion einen Namen gegeben zu haben, dessen Geschichte vielleicht mit Marx’ Vorschlag aktivierender Arbeiterbefragungen begann, ohne mit der Aktionsforschung der (Post)-Achtundsechziger zu enden.
Michael, der zuerst Mathematik studiert hatte, liebte Vier-Felder-Schemata. Dementsprechend teilte er das Fach in vier Typen soziologischer Wissensproduktion. Professionelle und angewandte Soziologie erzeugen instrumentelles Wissen, die kritische und die öffentliche Soziologie reflexives Wissen, das die Grundlagen der instrumentellen Wissensproduktion hinterfragt. Während sich die professionelle und die kritische Soziologie an ein akademisches Publikum wenden, ist die nicht akademische Zivilgesellschaft Adressat von anwendungsorientierter und öffentlicher Soziologie. Anders als viele Kritiken behaupten, zielt die öffentliche Soziologie keineswegs auf eine Überwindung oder gar Beseitigung anderer Soziologien. Im Gegenteil, die professionelle Soziologie ist die Basis aller anderen Formen soziologischer Wissensproduktion. Sie ist jedoch, zumal in ihrem Anwendungsbezug, nicht geeignet, die Basisannahmen zu hinterfragen, die ihr zugrunde liegen. Dazu wird eine reflexive Soziologie benötigt.
Im Unterschied zur klassischen kritischen Soziologie, die diese Reflexion innerhalb des Fachs leistet, sucht öffentliche Soziologie gezielt den Austausch mit außerwissenschaftlichen Akteuren und Öffentlichkeiten. Ihr Ziel ist es, öffentliche Debatten über Fragen von allgemeinem Interesse zu initiieren. Eine organische öffentliche Soziologie steht beispielsweise in engem Austausch mit sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren. Diesen Ansatz hat eine Autorengruppe um den ehemaligen SWOP-Direktor Karl von Holdt später unter dem Label »critical engagement« konkretisiert.
»Burawoy hat einem Modus soziologischer Wissensproduktion einen Namen gegeben, dessen Geschichte vielleicht mit Marx’ Vorschlag aktivierender Arbeiterbefragungen begann.«
Was das bedeutet, konnte ich in Johannesburg hautnah erleben. Zu dieser Zeit befanden sich in der Platinmine von Marikana 5.000 Arbeiter im Streik. Die Polizei hatte mit Schnellfeuergewehren auf Streikende geschossen, 34 Bergleute starben. Während die Schüsse der Polizei von Regierungsseite als Notwehr bezeichnet wurden, zeichnete das SWOP auf der Basis jahrelanger Forschungen im Platin- und Goldgürtel Südafrikas ein völlig anderes Bild. Viele Bergleute hatten eine Migrationsgeschichte; sie beherrschten die englische Sprache nicht und waren auch sozialräumlich segregiert. Demgegenüber führten die Funktionärsgruppen der dominanten Gewerkschaft National Union of Miners (NUM) ihre Verhandlungen in englischer Sprache. Tarifverträge wurden betriebs- und firmenbezogen abgeschlossen.
Eine Folge war, dass in einigen Minen 4.500 Rand (etwas mehr als 450 Euro), in der anderen aber 9.000 Rand Monatslohn brutto gezahlt wurden. Das hat die Benachteiligten zu dezentralen »Nachverhandlungen« animiert. Kleinere, radikalere Gewerkschaften, die sich nicht aufs Englische beschränkten, nutzten diese Spielräume. Migrantische Bergleute fühlten sich von der NUM nicht mehr repräsentiert; die daraus resultierende Unzufriedenheit entlud sich in gewalttätigen Auseinandersetzungen. Mit seinen Forschungen ermöglichte das SWOP einen neuen Blick auf die Ereignisse. Das so erzeugte Wissen war im engen Austausch mit Gewerkschaften und Bergleuten entstanden. Die solidarische Grundhaltung der Forschenden änderte nichts daran, die NUM und die nominal linke Regierung des Landes wegen ihrer Vernebelungstaktik schonungslos zu kritisieren. Öffentliche Soziologie ist, das illustrieren die Marikana-Ereignisse, das Gegenteil einer vordergründig parteinehmenden Wissenschaft. Zu ihren Anliegen gehört, auch dann zu öffentlicher Debatte beizutragen, wenn soziologische Erkenntnisse sich kritisch zu Akteuren verhalten, in denen man eigentlich Verbündete sieht oder sah.
Wie sich Spannungen und Widersprüche zwischen ergebnisoffener und in diesem Sinne neutraler empirischer Forschung einerseits, dem »critical engagement« der Forschungsgruppe andererseits, ausbalancieren lassen, wurde am besagten Abend von der Public Sociology Gruppe Johannesburg intensiv und auf hohem Niveau diskutiert. Als ich selbst aufgefordert wurde, mich zu positionieren, geriet ich allerdings ins Schleudern. Darum bemüht, der Jenaer Prekarisierungs- und Gewerkschaftsforschung zu akademischer Anerkennung zu verhelfen, fand ich die Idee einer öffentlichen Soziologie attraktiv, ahnte aber bereits, wie die professionelle Soziologie im deutschsprachigen Raum reagieren würde. Es dauerte bis zum ersten Besuch Michaels im Jenaer Postwachstumskolleg, um meine Reserven zu überwinden.
Wir saßen im Garten an den Bahngleisen; unser Fellow war in intensive Debatten mit der Jenaer Forschungsgruppe verstrickt. »Michael hat gesagt, was ihr macht, ist öffentliche Soziologie!«, fasste ein Mitarbeiter die Debatte zusammen. Wie hätte ich noch widerstehen können. Mit dem ihm eigenen Optimismus hatte Michael alle Bedenken aus dem Weg geräumt. Öffentliche Soziologie wurde zu einem Querschnittsthema des gesamten Postwachstumskollegs. Michael war mehrfach in Jena, Redner auf einer ersten Jenaer Konferenz zu öffentlicher Soziologie, es entstanden gemeinsame Bücher und gemeinsam mit Brigitte Aulenbacher, der die Federführung oblag, folgte ich Michael für einige Jahre in der Herausgeberschaft des Global Dialogue.
Das Echo, das der weltbekannte Soziologe mit seinem Vorschlag einer öffentlichen Soziologie auslöste, war im deutschsprachigen Raum allerdings ein geteiltes – vorsichtig gesagt. Michael Burawoys Beteiligung an einer Weber-Kontroverse während des Frankfurter Soziologentags war zunächst ohne nennenswerte Resonanz geblieben. Zwar veröffentlichte das Fachmagazin Soziale Welt 2005 die Agenda für eine öffentliche Soziologie, der Soziologe Heinz Bude hatte kommentiert. Doch von wenigen Ausnahmen wie der Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer einmal abgesehen, blieb das Konzept ohne nennenswerte Resonanz. Als sich das änderte, wiederholte sich freilich auf ungleich geringerem Niveau, was Michael bereits in den USA und vielen anderen soziologischen Gemeinschaften erlebt hatte. Bei jüngeren, gesellschaftlich engagierten Soziologinnen und Soziologen stieß sein Vorschlag auf großes Interesse, mitunter geradezu auf Begeisterung. Die Spitzenvertreter der professionellen Soziologie reagierten jedoch überwiegend ablehnend oder geradezu pikiert. Wer sich einen Eindruck von jener Melange aus Missverständnissen, Ressentiments und Fehlinterpretationen verschaffen möchte, die neben berechtigter Kritik die Debatte dominierte, mag eine Besprechung im Berliner Journal für Soziologie nachlesen, die Friedhelm Neidhardt, ehemals Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB), verfasst hat.
»Öffentliche Soziologie ist das Gegenteil einer vordergründig parteinehmenden Wissenschaft. Zu ihren Anliegen gehört, auch dann zu öffentlicher Debatte beizutragen, wenn soziologische Erkenntnisse sich kritisch zu Akteuren verhalten, in denen man eigentlich Verbündete sieht.«
Einen »Burawoy-Hype«, wie ihn Neidhardt zu erkennen glaubt, hat es im deutschsprachigen Raum nie gegeben. Im Gegenteil, Versuche zur Etablierung einer öffentlichen Soziologie bemühen sich mitunter um bewusst gewählte Distanz zum Namensgeber. Dies mag damit zusammenhängen, dass Michael verkörperte, was selbst die klassische Kritische Theorie eher umgehen möchte. Michael gelangte »als Marxist in den Wissenschaftsbetrieb«, wie er selbst schrieb. Gemeinsam mit seinem langjährigen Freund, dem Klassentheoretiker Erik Olin Wright, steht er für einen »sociological Marxism«, der auf die »dritte Welle der Vermarktlichung« reagiert und, so Burawoy, konsequent mit einem Sowjetmarxismus bricht, der kaum mehr als »eine notdürftig verschleierte Ideologie des herrschenden Parteistaats« war. »Der soziologische Marxismus gibt theoretische Gewissheiten und praktische Imperative auf und versucht stattdessen, eine Balance oder einen Dialog zwischen Theorie und Praxis zu erreichen. Es geht ihm nicht nur darum, die Welt zu verändern, um sie besser zu verstehen. Wir spüren reale Utopien auf, die die kollektive Fantasie in Schwung bringen, aber wir befragen sie auch in Bezug auf ihre mögliche Verallgemeinerbarkeit«, so Burawoy in seinem Artikel »Marxismus nach Polanyi«.
So definiert, handelt es sich, mit Stuart Hall gesprochen, um das Gegenteil eines denkfaulen Marxismus. In Abgrenzung zu diversen Parteimarxismen verstehen sich die Protagonisten eines »sociological Marxism« als »Marxian«, nicht als »Marxist«. Sie plädieren für eine – niemals abgeschlossene – Reinterpretation klassischer Texte unter Berücksichtigung des zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Wissens. Zum »pragmatischen Realismus« (Erik Olin Wright) so verstandener Theoriebildung gehört es, Begriffe wiederzuentdecken und mit neuem Inhalt zu füllen, die seitens der marxistischen Orthodoxie längst ad acta gelegt worden waren.
Wie sich eine Reinterpretation marxscher Kategorien mit zeitgenössischem sozialwissenschaftlichem Wissen verbinden lässt, hat Michael anhand der Werke Pierre Bourdieus und später Karl Polanyis eindrucksvoll demonstriert. Die professionelle Soziologie im deutschsprachigen Raum hält die Verbindung von Marxismus und Soziologie freilich überwiegend noch für ein Oxymoron, für eine Verbindung einander ausschließender Begriffe. Eine Verknüpfung von »public sociology« und »sociological Marxism« erscheint manchen Rezipientinnen und Rezipienten als besonders riskant oder gar als gefährlich. Michael begegnete solchen Klassifikationen mit Gelassenheit. Für ihn treibt die Konkurrenz der verschiedenen Soziologien die Wahrheitssuche an; wer sich hingegen in Ignoranz übt, verhält sich provinziell. Umso mehr hat sich Michael über die Anerkennung gefreut, die ihm der kritische Soziologe Claus Offe während einer ISA-Konferenz in Wien zuteilwerden ließ.
Am Kampf der Soziologien kann Michael Burawoy aktiv nicht mehr teilnehmen. Am 3. Februar 2025 wurde er beim Überqueren einer Straße von einem dunkel getönten SUV überfahren, mehr als 70 Fuß durch die Luft geschleudert und tödlich verletzt. Der Fahrer flüchtete.
Die Nachricht vom Tod dieses großen Soziologen und Humanisten, dem ich selbst sehr viel verdanke, hat mich zutiefst schockiert. Nach einem Moment des Innehaltens habe ich dann eine LP aufgelegt, deren Songs ich zum ersten Mal hörte, als wir nach dem Treffen der Public Sociology Gruppe Johannesburg in der Wohnung der Burawoy-Schülerin Michelle Williams zu Abend aßen. Wir hörten den damals noch völlig unbekannten Sixto Rodriguez mit seinem Song »Searching for Sugar Man«, den ich seither mit Michael assoziiere. Der Liedermacher hatte bis 1970 zwei Platten veröffentlicht, die beide floppten. Überall, außer in Südafrika, wo Sixto ohne sein Wissen zur musikalischen Ikone der weißen Protestjugend und zum Superstar geworden war. Zwei Journalisten suchten nach ihm, fanden ihn als Bauarbeiter in Detroit und verhalfen ihm zu grandiosen Konzerten in Südafrika. Der Film, der diese Ereignisse dokumentiert, wurde inzwischen mit einem Oscar ausgezeichnet.
Vielleicht ergeht es Michael in gewisser Weise wie Sixto Rodriguez. Anders als der Liedermacher ist der Soziologe schon seit vielen Jahren überall auf der Welt bekannt; deutsche Übersetzungen seiner Hauptwerke gibt es, sieht man von der zitierten Ausnahme ab, aber nicht. Wäre es nicht an der Zeit, dem hierzulande noch immer relativ unbekannten Menschenfänger, Brückenbauer, öffentlichen Soziologen und marxistischen Intellektuellen Michael Burawoy endlich jene Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, die er seit langem verdient?
Vielleicht erreichen kritische Studierende, für Michael die wichtigste Teilöffentlichkeit des Fachs, was der professionellen deutschen Soziologie bisher nicht gelungen ist. Sie können in Angriff nehmen, was Michael uns als ISA-Präsident mit auf den Weg gegeben hat: »Die Soziologie ist in einer einzigartigen Position, um sich einer Welt der Ungleichheit zu stellen: erstens um die Ungleichheit und ihre vielfältigen einander überschneidenden Formen zu verstehen; zweitens um zu erkennen, dass wir zusammen mit sozialen Bewegungen eine lebendige Rolle bei diesen Ungleichheiten spielen; und drittens um zu erkennen, dass trotz aller Unterschiede unser Schicksal als Soziologinnen und Soziologen eng mit dem Schicksal der Menschheit verbunden ist.«
Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er ist Mit-Herausgeber des kürzlich erschienen Sammelbandes »Die Zukunft des Automobils. Innovation, Industriepolitik und Qualifizierung für das 21. Jahrhundert« sowie Ko-Autor des kürzlich erschienen Beitrags »Klasse gegen Klima? Transformationskonflikte in der Autoindustrie«.