04. Januar 2023
Der in Moskau lebende Sozialist Michail Lobanow ist ein führender linker Putin-Kritiker. Seine Inhaftierung zeigt, dass die russischen Behörden entschlossen sind, jeden Widerstand gegen den Ukraine-Krieg mundtot zu machen.
Michail Lobanow bei einer Protestaktion gegen das Ergebnis der russischen Parlamentswahlen, Moskau, 20. September 2021.
IMAGO / ITAR-TASSAm vergangenen Donnerstag wurde Michail Lobanow – ein linker Politiker, Gewerkschafter und prominenter Kritiker von Wladimir Putins Militarismus – in Moskau verhaftet. Polizeibeamte stürmten die Wohnung von Lobanow und seiner Frau, der Soziologin Alexandra Zapolskaja. Lobanow wurde während der Durchsuchung geschlagen. Fotos, die ihn am Boden liegend neben einem Blutfleck zeigen, zirkulierten in den sozialen Medien. Noch am selben Tag fand eine Gerichtsverhandlung statt: Aufgrund von »Gehorsamsverweigerung gegenüber der Polizei« wurde er zu fünfzehn Tagen Gefängnis verurteilt.
Am selben Tag wurden die Wohnungen weiterer Aktivistinnen und Aktivisten in verschiedenen Städten Russlands durchsucht. In Moskau brach die Polizei in das Haus der 88-jährigen Mutter von Sergej Zukasow ein, einem linken demokratischen Politiker und ehemaligen Bezirksabgeordneten, der inzwischen das Land verlassen hat. Wie Lobanow hat auch Zukasow aufgrund seiner jahrelangen Basisarbeit in den Gemeinden Moskaus viele lokale Anhängerinnen und Anhänger.
Es ist zu befürchten, dass die Inhaftierung von Michail Lobanow länger als fünfzehn Tage andauern könnte. Im Sommer war er bereits für eine ähnlich lange Zeit inhaftiert, da ihm »Diskreditierung der Armee« und »Aufstachelung zum Hass« gegen die Regierung vorgeworfen wurde. Lobanow hatte über den Klassencharakter von Putins »militärischer Sonderoperation« in der Ukraine geschrieben, die die Ärmsten der Bevölkerung in den Krieg führt. Er erhielt außerdem eine Geldstrafe, weil er ein Transparent mit der Aufschrift »Nein zum Krieg« an seinem Balkon befestigt hatte.
Die Repressionen gegen Oppositionelle, die nicht auswandern, hat seither erheblich zugenommen. Ilja Jaschin, ein weiterer prominenter Oppositioneller, wurde jüngst wegen der »Verbreitung von Falschinformationen« (das heißt wegen seiner Berichterstattung über die Gräueltaten in Butscha) zu einer achteinhalbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Der Verhaftung von Lobanow war eine Hetzkampagne der kremlnahen Medien vorausgegangen. Bereits im September wurde ein Video veröffentlicht, das verrückte »Enthüllungen« über Mitglieder seines Teams enthielt. Einen Tag vor seiner Verhaftung forderte ein großer Propagandasender, Lobanow solle »Jaschin folgen« und für acht Jahre ins Gefängnis gehen oder zumindest seinen Lehrauftrag an der Moskauer Universität verlieren.
Auch wenn dies noch nicht bestätigt werden konnte, steht die Razzia in Lobanows Haus (und wahrscheinlich auch die anderen) nach Angaben des Ermittlers im Zusammenhang mit dem Verfahren gegen Ilja Ponomarjow, einem Politiker, Unternehmer und ehemaligen Abgeordneten der Duma. Im März 2014 war er der einzige Abgeordnete, der gegen die Annexion der Krim stimmte. Kurz darauf migrierte er ins Ausland und wurde von Russland auf die Liste international gesuchter Verdächtiger gesetzt.
Heute ist Ponomarjow in der Ukraine ansässig, wo er eine Informationskampagne gegen die russische Aggression leitet. Laut eigener Aussage ist er der Teil der sogenannten Russischen Legion (Russen, die in den ukrainischen Streitkräften kämpfen) und steht einer Gruppe von Partisanen innerhalb Russlands nahe, die Sabotageakte auf Eisenbahnstrecken verüben (diese wiederum haben jegliche Verbindung zu dem Politiker bestritten). In diesem Jahr wurde gegen Ponomarjow ein Verfahren wegen der Verbreitung von »Falschinformationen« über die russische Armee eröffnet.
In Wirklichkeit gab es zwischen Lobanow und Ponomarjow keinerlei Verbindung – letzterer hat dies bereits öffentlich bestätigt. Das bewusst provokative und verschwörerische Agieren Ponomarjows könnte sich vom Vorgehen des Moskauer Sozialisten Lobanow kaum stärker unterscheiden, der vielmehr für eine transparente öffentliche Politik steht, die von einem Team Gleichgesinnter unterstützt wird. Diese jahrelange, ehrliche aktivistische Arbeit hat ihm ein hohes Ansehen eingebracht.
Lobanow ist es besonders gut gelungen, Bürgerinnen und Bürger in formal legitimen Strukturen (studentischen Fachschaften, Gewerkschaften, Wahlen) zu mobilisieren, die aufgrund der massiven Entpolitisierung der russischen Gesellschaft von der herrschenden Klasse dominiert werden. Das demokratische Potenzial dieser Institutionen kann nur durch Selbstorganisierung von unten wiederbelebt und erweitert werden. Für Lobanow und den ihn umgebenden Kreis von Aktivistinnen und Politikern besteht die größte Herausforderung darin, in diesen Bereichen politisch zu arbeiten und der imperialen, kriegstreiberischen Propaganda eine konstruktive, vereinende Agenda entgegenzusetzen. In den Augen der Behörden und ihrer Sondereinheiten gilt genau das als die »radikalste« Politik im heutigen Russland. Lobanow unterstützte zudem Kirill Ukrainzew, den Vorsitzenden der Gewerkschaft der Kuriere und Paketzusteller. Dieser verbüßt eine Haftstrafe wegen »Verstoßes gegen das Versammlungsrecht«. Die Gewerkschaft hatte kürzlich in verschiedenen Regionen des Landes einen viel beachteten Streik durchgeführt.
In Moskau hat dieser politische Ansatz zu echten Erfolgen geführt. Das kommunale Projekt Vidvyzheniye (Ernennung; oder Du bist die Bewegung), das von Lobanow und Alexander Samjatin initiierte wurde, stellte im September trotz des massiven Widerstands vonseiten der Behörden zehn Kandidierende bei den Bezirkswahlen auf. Die von Vidvyzheniye unterstützten Kandidierenden, deren Basisarbeit zum Sammelpunkt für lokal aktive Bürgerinnen und Bürger wurde, errangen 23 Sitze.
Ein weiterer potenzieller Grund für die jüngste Welle der Repression ist eine zweite Mobilmachung der Armee, die 2023 anstehen könnte. In diesem Fall, könnten die Behörden jetzt schon versuchen, diejenigen zu isolieren, die sich dieser Mobilmachung am heftigsten widersetzen würden. Dies gilt insbesondere jetzt, da sich allmählich auch Gruppen gegen die Mobilmachung aussprechen, die nicht mit der traditionellen politischen Opposition in Verbindung gebracht werden – vor allem die Mütter und Ehefrauen derjenigen, die zum Kampf in der Ukraine einberufen wurden.
Diese Frauen hatten zunächst bessere Bedingungen für die Soldaten gefordert und die Beendigung der Missstände, die sich im Zuge der Einberufung ereigneten. Sie suchten einberufenen Männern, die als vermisst galten, und forderten das Recht dieser Männer auf Heimkehr ein. Doch mit der Zeit begannen sie, ein Ende des Krieges, eine Minderung der nuklearen Drohungen und der militaristischen Rhetorik der Regierung zu verlangen. Diese Frauen bestehen auf einen direkten Austausch, doch anstatt darauf einzugehen, gründet die Regierung fingierte Frauenorganisationen, die sie selbst kontrolliert. Eine direkte Repression dieser Frauen erfolgte bislang nicht, da dies das Risiko bergen könnte, den Unmut der Massen zu schüren. Stattdessen nimmt die Regierung prominente Oppositionelle ins Visier und verurteilt sie zu hohen Haftstrafen, um den Rest der Gesellschaft einzuschüchtern.
Die Schikanen und Gewalt, die Lobanow erduldete, weisen – wie viele ähnliche Fälle – auf einen äußerst gefährlichen Aspekt der Lage in Russland hin. Denn mit der Invasion der Ukraine hat die Putin-Regierung eine Spirale der externen wie internen Gewalt losgetreten. Sollte sie nun versuchen, diese Spirale intern aufzuhalten, würde die Regierung eingestehen, dass die Kriegsgegner Recht hatten und Russland wäre höchstwahrscheinlich dazu gezwungen, ein Friedensabkommen zu ukrainischen Bedingungen zu unterzeichnen (das bedeutet also auch den Abzug der Truppen aus den besetzten Gebieten).
Die Regierung ist jedoch nicht mehr in der Lage, mit eigenen Mitteln das Ausmaß der Gewalt zu erhöhen. Sie ist vielmehr gezwungen, ihr Gewaltmonopol mit anderen motivierteren Gruppen im Land zu teilen. Die Trennlinie zwischen staatlichen Machtstrukturen und privaten militärischen und paramilitärischen Formationen, die Verbindungen zu bestimmten Zirkeln oder Personen an der Macht unterhalten, wird immer weiter aufgeweicht.
Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist die private Militärfirma Wagner Group, die von Jewgeni Prigoschin geleitet wird. Dieser saß in der Sowjetunion noch wegen Raubs im Gefängnis, stieg dann in die Wirtschaft ein und gewann allmählich das Vertrauen von Putin. Seine Soldaten kämpfen in der Ukraine, doch seine innenpolitischen Ambitionen und offenen Meinungsverschiedenheiten mit der Armee und der Staatsspitze werden immer deutlicher. Analysten sehen in Prigoschin und seiner Privatarmee ein Anzeichen für eine mögliche Entwicklung hin zu einer offen faschistischen Diktatur.
Mit der Repression von Politikern und Aktivistinnen, die für ihre vermeintlich umstürzlerischen Aktivitäten belangt werden, betreiben die Sicherheitsdienste die »Zerstörung« der russischen Gesellschaft im Grunde selbst.
Wir wissen nicht, wie sehr die Konfrontationen und das mutwillig provozierte Chaos in Russland noch eskalieren werden. Das Ziel von Politikern und Aktivisten wie Lobanow ist es im Gegensatz zur Putin-Regierung nicht, die Gesellschaft zu »zerstören«, sondern sie wiederherzustellen – auf Basis einer neuen, demokratischen und egalitären Ordnung.
Im September schrieb Michail Lobanow:
»Die nukleare Erpressung der Menschheit wurde gerade in einem System ermöglicht, in dem einige wenige über Reichtum und Macht verfügen, während alle anderen demütig für sie schuften und von alltäglichen Problemen zermürbt werden, bis sie dazu berufen werden, zu sterben. Der Zusammenbruch eines Systems, das auf eklatanter ökonomischer und politischer Ungleichheit beruht, wird nicht das Ende der Geschichte bedeuten. Und ist an Euch und an mir, zu sehen, was darauf folgen wird
Die Ungleichheiten, die diese Welt zerreißen und die zu ständigen militärischen Risiken führen, werden nur durch Solidarität und radikale Demokratie überwunden werden. Die Alternative zu einer rechtsextremen nationalistischen Diktatur, die unverhohlen auf Gewalt beruht, ist ein internationalistisches Projekt, das dem Interesse der gesamten Menschheit dient.«
Heute braucht Michail die größtmögliche Unterstützung aller linken und demokratischen Kräfte, der Gewerkschaften, der Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen und aller anderen, die über die neue globale Welle der Militarisierung und Faschisierung beunruhigt sind.
Kirill Medwedew ist Dichter, Übersetzer und Aktivist. Er lebt in Moskau.