18. Oktober 2024
Matthias Miersch gilt als Parteilinker. Und so weckt seine Ernennung zum Generalsekretär Hoffnungen auf eine sozialdemokratische Wende der SPD. Dass Miersch Kanzler Scholz vor sich hertreiben wird, ist mit Blick auf seine Laufbahn allerdings kaum zu erwarten.
Matthias Miersch während der Pressekonferenz im Willy-Brandt-Haus am Tag nach dem Rücktritt des ehemaligen Generalsekretärs Kevin Kühnert, 8. Oktober 2024.
Nach dem Rücktritt von Kevin Kühnert setzen die SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken nun Matthias Miersch als kommissarischen Generalsekretär ein. In der Berichterstattung wird Miersch als Parteilinker geframed. Er selbst kündigte bei seinem ersten Auftritt in der neuen Funktion an, kein bequemer Ja-Sager werden zu wollen. Das muss er auch nicht werden – er ist es längst.
Die Motivation, sich einer politischen Partei anzuschließen, ist oft ein vielschichtiges Geflecht aus Idealismus, Identität und Interessen. Der Idealismus treibt Mitglieder an, die von bestimmten Werten und Visionen für die Gesellschaft geleitet werden. Die Identität spielt eine Rolle für jene, die vor allem auf der Suche nach einem Zugehörigkeitsgefühl sind. Interessen wiederum motivieren Mitglieder, die persönliche, berufliche oder gruppenspezifische Ziele verfolgen.
Besonders in linken Bewegungen beginnen viele ihre politische Laufbahn mit großen Idealen und dem aufrichtigen Wunsch, die Gesellschaft grundlegend zu verändern. Sie identifizieren sich stark mit den Werten ihrer Partei und sehen in ihr ein Vehikel für sozialen Wandel. Doch wie die Geschichte immer wieder gezeigt hat, ist der Weg vom überzeugten Idealisten zum pragmatischen Karrieristen oft kürzer als gedacht. Der Weg von Matthias Miersch innerhalb der SPD und ihrer Bundestagsfraktion illustriert dies eindrücklich.
Miersch wurde am 19. Dezember 1968 in Hannover geboren. Bereits seit 2005 ist er Mitglied des Deutschen Bundestages, wo er den Wahlkreis Hannover-Land II vertritt. Der SPD-Politiker studierte Rechtswissenschaften an der Universität Hannover und promovierte 2003. Nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder die von ihm selbst gestellte Vertrauensfrage wunschgemäß verloren hatte, wurden 2005 Neuwahlen ausgerufen. Seitdem sitzt Matthias Miersch im Bundestag. Beinahe zwanzig Jahre ist das nun her.
»Als selbsternannter Vermittler zwischen den Parteiströmungen trug der Niedersachse so zur Fortsetzung einer Koalition bei, die von vielen an der Parteibasis abgelehnt wurde.«
Im Jahr 2015 wurde er erstmals in den Sprecherkreis der Parlamentarischen Linken gewählt. Seit 2019 ist er einer der stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion und leitet den Bereich Umwelt, Energie, Landwirtschaft und Tourismus. Mierschs Engagement für Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit steht im Spannungsfeld zur realpolitischen Ausrichtung der SPD. In dieser Funktion verkörpert Miersch die Ambivalenz des linken Parteiflügels im politischen Machtgefüge. Als Sprecher der Parlamentarischen Linken positioniert er sich zwar als Verfechter progressiver Werte, doch seine Rolle wirft Fragen auf: Inwieweit kann er tatsächlich linke Positionen in einer Partei durchsetzen, die sich in Regierungsverantwortung pragmatischen Kompromissen beugt?
In der SPD-Bundestagsfraktion hat sich Miersch besonders in den Bereichen Nachhaltigkeit, Umwelt- und Energiepolitik profiliert. Von 2005 bis 2009 war er zunächst der Sprecher für nachhaltige Entwicklung, anschließend wurde er zum umweltpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion gewählt. In dieser Funktion setzte er sich unter anderem für die schrittweise Abkehr von Atomkraft zur Energieerzeugung ein und äußerte vorsichtige Kritik an den TTIP-Verhandlungen. Sein »Nein« zur Schuldenbremse im Rahmen der namentlichen Abstimmung im Bundestag 2009 sollte eines der wenigen Male bleiben, in denen Miersch offenbar aus Überzeugung gegen die Mehrheit in der Fraktion stimmte. Im Jahr 2015 stand die SPD bei 25 Prozent in den Umfragen, die Parteilinke war nach der verheerenden Umsetzung der Agenda-Politik noch immer auf der Suche nach sich selbst. In dieser Zeit wurde Miersch erstmals zum Sprecher der Parlamentarischen Linken, dem Zusammenschluss linker Bundestagsabgeordneter der SPD-Fraktion, gewählt – mit einer Zustimmungsrate von satten 100 Prozent.
Wie einige der Architekten und Verfechter der Agenda 2010 – Gerhard Schröder, Olaf Scholz, Hubertus Heil – stammt Miersch aus Niedersachsen. Gerhard Schröder nannte Miersch einen »großen Sozialdemokraten«, als er ihm 2013 in seinem Unterbezirk die Medaille für dessen fünfzigjährige SPD-Mitgliedschaft überreichte. Seit diesem Jahr gehört Miersch dem Parteivorstand der SPD an.
Ein anderer, mit dem ihn inzwischen eine der in der Politik seltenen Freundschaften verbindet, ist der heutige Parteichef Lars Klingbeil. Klingbeil arbeitete von 2001 bis 2003 im Wahlkreisbüro von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Im Jahre 2005 zog Klingbeil als Nachrücker erstmals in den Bundestag ein, da war er gerade einer der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Jusos. Inzwischen gehört er als Seeheimer zum rechten Parteiflügel.
»Die Rolle des Vorsitzenden der Parlamentarischen Linken habe sich im Wesentlichen darauf beschränkt, abweichende Stimmen wieder einzunorden. Etliche Abgeordnete verließen den Zusammenschluss, da dieser zu einem ›Abnickverein‹ verkommen sei.«
Vor der Bundestagswahl 2017 war die SPD in Wählerumfragen inzwischen unter 20 Prozent gerutscht. Der damalige Parteivorsitzende Sigmar Gabriel, ein weiterer Niedersachse im Machtzirkel der Genossen, rief als Kurs »Zurück zu den Wurzeln« aus. Miersch und die Parteilinke forderten in diesem Zuge eine Debatte über eine mögliche Wiederaufnahme der Vermögenssteuer. Martin Schulz übernahm als Kanzlerkandidat, nachdem Gabriel sich in der Bevölkerung Umfragen zufolge als äußerst unbeliebt erwies. Kurz darauf wurde Schulz sogar mit 100 Prozent Zustimmung zum Parteivorsitzenden gewählt. Der Schulz-Zug rollt, hieß es damals. Dennoch verlor die SPD die Bundestagswahl krachend. Schulz kündigte an, dass es nicht zu einer erneuten Großen Koalition kommen werde, selbst dann nicht, wenn die Verhandlungen von Union, FDP und Grünen zur sogenannten Jamaika-Koalition scheitern sollten.
Als Erster demontierte der damalige Seeheimer-Chef Johannes Kahrs seinen eigenen Parteivorsitzenden. Eine Große Koalition sei eine Frage der staatspolitischen Verantwortung. Miersch äußerte sich gegenüber einer erneuten GroKo zunächst kritisch, warnte gar vor »weichgespülten Formelkompromissen«. Seine anfängliche Skepsis wich allerdings zügig einem pragmatischen Kompromiss, was Kritikerinnen und Kritiker als Aufgabe linker Prinzipien werteten. Als selbsternannter Vermittler zwischen den Parteiströmungen trug der Niedersachse so zur Fortsetzung einer Koalition bei, die von vielen an der Parteibasis abgelehnt wurde. Seine Zustimmung begründete Miersch damit, dass im Gegenzug linke Inhalte durchsetzbar gewesen wären. Letztendlich konnte er allerdings keine substanziellen linken Forderungen durchsetzen, was Fragen nach dem tatsächlichen Durchsetzungsvermögen des linken Parteiflügels aufwirft. Miersch allerdings wollte sich für seinen Kurswechsel, der ergebnislos blieb, dennoch belohnen lassen.
Demokratische Organisationen werden im Laufe der Zeit von einer kleinen Führungselite dominiert. Durch die Notwendigkeit von Bürokratie und Hierarchien erlangen einige wenige Personen mehr Einfluss und Kontrolle, was zur Ausbildung einer Oligarchie führt. Diese Führungsgruppe neigt dazu, ihre Macht zu bewahren und ihre eigenen Interessen über die der Basis zu stellen, was echte Demokratie in komplexen Organisationen erschwert. Beschrieben wurde dies von dem Soziologen Robert Michels im Jahr 1911 in seinem Werk Das eherne Gesetz der Oligarchie. Michels nutzte damals die SPD als Beispiel, um zu zeigen, dass auch in demokratisch organisierten Parteien mit ursprünglich egalitären Zielen der Trend zur Machtkonzentration praktisch unausweichlich sei.
Die Rolle Mierschs in der Parlamentarischen Linken konnte ihm zwar innerparteiliches Gewicht verleihen, dies reichte jedoch kaum, um substantielle Veränderungen in Richtung einer linken Politik zu bewirken. Obwohl er innerhalb der Parlamentarischen Linken Einfluss auf strategische Entscheidungen nahm, blieb stets unklar, ob dies ausreichen könnte, um den Kurs der Gesamtpartei nachhaltig zu prägen. Mierschs Position verdeutlicht das Dilemma linker Politik in der SPD: Man laviert zwischen ideologischem Anspruch und machtpolitischem Pragmatismus, und versucht dabei die eigene Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren.
Als sich 2018 nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen schließlich doch Koalitionsgespräche zwischen Union und SPD angedeuteten, wurde in Erwägung gezogen, dass Miersch möglicherweise in die Regierung eintreten könnte, etwa als Minister für Justiz. Schließlich wurde er zu einem der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt. Weggefährten beschreiben ihn als kühl und sachlich, aber stets freundlich. Er könne flammende Reden für linke Anliegen halten, dann sogar emotional werden. Der Linie der jeweiligen Vorsitzenden der Partei habe er sich allerdings stets gebeut. Vielleicht habe er sich dagegen auch nie durchsetzen wollen, um seine Karrierepläne nicht zu gefährden. Kam das Gespräch auf mögliche Nachfolger des Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, wusste er sich immer geschickt ins Gespräch zu bringen.
»Statt als Motor eines Linkskurses tritt Miersch eher als ausgleichender Pragmatiker auf, der zwischen den Strömungen der Partei vermittelt. Die Hoffnung, er könne die Ampelkoalition in Richtung einer dezidiert sozialdemokratischen Agenda lenken, entbehrt daher realistischer Grundlage.«
Abweichlerinnen und Abweichlern machte er jedenfalls stets klar, warum im höheren Interesse nun Geschlossenheit gefragt sei. Miersch sei ein »ganz Glatter«, sagt einer. Die Rolle des Vorsitzenden der Parlamentarischen Linken habe sich im Wesentlichen darauf beschränkt, abweichende Stimmen wieder einzunorden. Etliche Abgeordnete verließen den Zusammenschluss, da dieser zu einem »Abnickverein« verkommen sei. Miersch veröffentlichte auf seiner Homepage zwölf Thesen für eine neue linke Politik der SPD. Etwas davon umgesetzt oder auch nur gefordert hat er öffentlich jedoch nie.
Nachdem am 8. Oktober 2024 Kevin Kühnert nach eigenen Angaben aus gesundheitlichen Gründen vom Amt des Generalsekretärs zurücktrat, kam für Miersch der nächste Sprung. Auf Vorschlag seines Freundes Lars Klingbeil wurde Miersch zum kommissarischen Nachfolger Kühnerts berufen. Gleich zu Beginn seiner ersten Pressekonferenz verkündete Miersch, sich für die einsetzen zu wollen, die »niemals so viel verdienen werden«, wie die Reichen. So klingt einer, der nicht vorhat, wirklich etwas an den herrschenden Verhältnissen zu verändern. Schließlich verkündet die SPD Seit 2015 nach jeder verlorenen Wahl in Strategie- und Positionspapieren, dass sie sich nun endlich auf die »arbeitende Mitte« fokussieren wolle. Das »niemals« von Miersch steht also für ein Weiter-so des Klein-Klein-Reformismus und nicht für radikale Umverteilung. Die soziale Ungleichheit soll im Kern unangetastet bleiben. Nahtlos in dieses Zeitgeschehen fügt sich so auch Mierschs Kritik an der ursprünglich geplanten Anschbfinanzierung für Langzeitarbeitslose.
In seinem Werk Die Neue Unübersichtlichkeit von 1985 beklagt Jürgen Habermas den Verlust utopischer Energie in der Politik. In diesem Essayband beschäftigt er sich mit den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der späten Moderne und argumentiert, dass die utopischen Energien, die in früheren Jahrzehnten eine treibende Kraft für politischen Wandel waren, zunehmend erschöpft sind.
Matthias Miersch ist der Protoyp eines Politikers, dem nach einer Jahrzehnte währenden Karriere in der Berufspolitik jede utopische Energie fehlt. Politiker von seinem Schlage sind vermutlich auch noch »stolz darauf [...], keine Vision zu haben, und [sehen] sich selbst als pragmatische Problemlöser«, wie der Politologe Cas Mudde vor einiger Zeit konstatierte. Miersch als vermeintlich linker Hoffnungsträger innerhalb der SPD erweist sich bei genauerem Hinsehen also als fragwürdige Figur.
Zwar hoffen manche, er könne Scholz zu einer stärker sozialdemokratischen Politik bewegen, doch ein Blick auf Mierschs politische Karriere weckt Zweifel an dieser Einschätzung. Statt als Motor eines Linkskurses tritt Miersch eher als ausgleichender Pragmatiker auf, der zwischen den Strömungen der Partei vermittelt. Die Hoffnung, er könne die Ampelkoalition in Richtung einer dezidiert sozialdemokratischen Agenda lenken, entbehrt daher realistischer Grundlage. Sein bisheriges Wirken deutet nicht darauf hin, dass er bereit oder in der Lage ist, die nötigen Konfrontationen zu suchen, um die SPD nachhaltig nach links zu verschieben. Miersch geht es um Miersch. Eine erneute Kandidatur für den Bundestag hat Miersch bereits angekündigt. Er bleibt auf Kurs. Sein nächstes Ziel dürfte eine erneute Große Koalition und ein Posten im Kabinett sein.