17. Oktober 2024
Die neuen Grenzkontrollen im Schengen-Raum werden das Versprechen der Migrationskontrolle nicht einlösen, sondern die Schleuserkriminalität fördern. In einer Zeit, in der die Macht der Nationalstaaten erodiert, dient die harte Abwehr von Migration vor allem der Inszenierung nationaler Souveränität.
Bundespolizisten kontrollieren Einreisende in die Bundesrepublik am Grenzübergang Elten auf dem Rastplatz Knauheide, 15. Juni 2024.
Am 6. November 1970 trat Willy Brandt als Bundeskanzler vor den Bundestag, um neben der »Ostpolitik« auch die europäische Integration voranzutreiben. Für den Erfolg des europäischen Projekts sei es »dringend notwendig«, dieses »für die einzelnen Bürger in den Partnerstaaten unmittelbar sichtbar und fühlbar zu machen«. Als wichtigste Maßnahme nannte er »die Abschaffung der Grenzkontrollen im Reise- und Warenverkehr«. Für Brandt, der seine Kanzlerschaft ein Jahr zuvor mit dem Programm »Wir wollen mehr Demokratie wagen« angetreten hatte, war dies die logische und erforderliche Schlussfolgerung aus der revolutionären Gründungsidee Europas.
Gegen die zuvor als unhinterfragbar geltende Maxime der europäischen Sicherheitspolitik besagte diese, dass Frieden nicht durch Abschottung und die waffenstarrende Machtbalance gesichert werden könne, sondern nur durch Austausch und Offenheit. Weder die Offensive noch die Defensive diene dem innereuropäischen Frieden, sondern allein die Gemeinsamkeit und Verflechtung – nicht nur der Staaten, sondern vor allem auch der Bürgerinnen und Bürger. An diesem Tag erhielt er dafür nur den Beifall der sozialliberalen Koalition. Aber Idee und Argument setzten sich durch.
In die Kanzlerschaft Helmut Kohls fiel der Prozess von der Unterzeichnung des Schengen-Abkommens 1985 bis zur Abschaffung der innereuropäischen Grenzkontrollen 1995. Europa, hieß es, sei zu den Bürgerinnen und Bürgern gekommen. Der ebenfalls konservative Bundespräsident Roman Herzog feierte dies 1998 als die entscheidende »Zeitenwende« in Richtung Zukunft. Europa habe das anachronistische Territorialprinzip abgeschüttelt. Wohlstand und »Frieden beruht hier nicht mehr auf Grenzen«, sondern auf »internationaler Kooperation«, die wiederum nur dann sicher sei, wenn die Europäerinnen und Europäer diese auch durch Gemeinsamkeit und Wohlstand spürten.
Das war vor noch wenigen Jahren die Sprache des politischen Mainstreams, der die Zukunft Europas fest mit der Gestaltung offener Binnengrenzen verknüpfte. Schengen war dabei der explizite Gegenentwurf nicht nur gegen die nationalistische Vergangenheit, sondern auch gegen jene Abschottungsversuche oder Mauern, auf die illegitime kommunistische Diktaturen zurückgreifen mussten. In den USA war man da schon ein Stück weiter. Hier legte Präsident Bill Clinton die Grundsteine für Grenzbefestigungen, die Kritikerinnen und Kritiker schon damals als »Wall« beschrieben, allerdings ohne jene positiven Assoziationen, die Donald Trump dem Ganzen später verlieh.
In Europa klang den Beteiligten zu dieser Zeit noch der Satz Erich Honeckers im Ohr, dass die Mauer so lange bliebe, wie die Gründe bestünden, die zu ihrer Errichtung geführt hätten. Das war korrekt, nur blieb unklar, was diese Gründe seien. Für ihn war es die »westliche Hetze« und die »Abwerbung« der arbeitenden Bevölkerung; für viele in der DDR war es der Reisewunsch. Aus der Rückschau wissen wir, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis letztere obsiegte. Dies war die historische Situation, in der, »wieder zusammenwächst, was zusammengehört. Das gilt für Europa im Ganzen«, um erneut Brandt zu zitieren.
So bekannt der erste Teil dieses Zitates ist, so selten wird der wichtige zweite Satz erinnert. Doch war es für ganze Generationen von Bundespolitikerinnen und -politikern selbstverständlich, dass die deutsche Einheit ohne stetig vertiefte europäische Integration ein Traum bleiben müsse. Darum ist es bemerkenswert, wenn Deutschland nun – gegen den ausgesprochenen Protest zahlreicher Nachbarstaaten – vollumfänglich wieder Grenzkontrollen einführt. Die Aussetzung Schengens, so der sächsische Innenminister Schuster, sei eine unschöne aber notwendige »Rosskur«, um innerhalb Europas wieder dafür zu sorgen, dass alle ihre Pflichten erfüllten und so die Lage an den europäischen Außengrenzen unter Kontrolle brächten.
Unklar bleibt in all den Rufen allerdings, was »Kontrolle« überhaupt bedeuten soll, welche Formen von Abschreckung und Gewalt an der laut der Internationalen Organisation für Migration der UN ohnehin lange schon »tödlichsten Grenze der Welt« zusätzlich angewandt werden sollen, und welche Rückwirkung eine solche Grenze auf die EU haben wird, deren Existenzberechtigung, Binnenakzeptanz und internationale Anerkennung in nicht unerheblichem Maße von der Menschenrechtspolitik des Friedensnobelpreisträgers 2012 abhängen.
»Von den europäischen und US-amerikanischen Außengrenzen und aus unzähligen Studien, Berichten und Policy Papers ist bekannt, dass Grenzbefestigungen gegen Migration ökonomisch, sozial und politisch sehr teuer sind, dass sie aber Migration nicht regulieren.«
Als Deutschland zum 16. September die Grenzkontrollen einführte, war es schnell die Gewerkschaft der Polizei, die die Effizienz der stationären Kontrollen anzweifelte. Anders als ein ungewöhnlich einstimmiger Chor an Migrationsfachleuten von linksliberalen Akademikern bis zum Befürworter des Ruanda-Plans Gerald Knaus, forderte sie allerdings weitere Rechte und verstärkte mobile Kontrollen, wohingegen die Migrationsforschung empirisch belegt hat, dass Grenzverhärtungen bestenfalls Migrationsrouten verschieben. Aus der Politik kamen hingegen primär europarechtliche Bedenken.
Doch Recht kann man ändern. Oder einfach nicht anwenden. Dies geschieht routiniert an den europäischen Außengrenzen, wo illegale Pushbacks und Gewaltakte an der Tagesordnung sind. Es geschieht ebenso innerhalb des Schengen-Raums, wo Deutschland seit Jahren ungeachtet des expliziten Widerspruchs des Europäischen Gerichtshofs Grenzkontrollen durchführt.
Von den europäischen und US-amerikanischen Außengrenzen und aus unzähligen Studien, Berichten und Policy Papers ist bekannt, dass Grenzbefestigungen gegen Migration ökonomisch, sozial und politisch sehr teuer sind, dass sie aber Migration nicht regulieren. Vielmehr wird lokales Wissen über weniger oder nicht kontrollierte Nebenwege zu einem neuen, ökonomisierbaren Gut.
Blicken wir beispielhaft auf die Grenzen entlang der berühmten »Balkanroute«. Die derzeit beschworene Vokabel der »Zurückweisung« ist dort tägliche Praxis. Migrantinnen und Migranten sprechen von der Grenzüberwindung als »Game«, bei dem mitzählt, wie viele Versuche es bis zum Erfolg braucht. An den Grenzcamps entstehen »Game Shops« in denen man die Ausrüstung erwerben und Ortskundige anheuern kann. In der Grenzpolizei und den lokalen Verwaltungen greift die Korruption um sich. Mit anderen Worten: Je breiter die Kontrollen, je höher die Mauer, desto wichtiger werden Schleppernetzwerke. Grenzkontrollen rufen indirekt genau jene Kriminalität hervor, gegen die die Grenzsicherung vorgehen soll, ohne dass man damit dem Versprechen von Migrationskontrolle näher käme.
Dies sind alles bekannte Fakten, weswegen man fragen muss, was diese Kanalisierung des breiten und »heißen Themas« Migration allein auf Grenzfragen erreichen soll, wenn die angewandten Maßnahmen so offenkundig scheitern? Mit Blick auf die Grenze zwischen den USA und Mexiko spricht der US-amerikanische Migrationsforscher Nicholas de Genova von einem immer wieder neu inszenierten »Grenzspektakel«. Der normale Vorgang der Mobilität wird durch Grenzziehungen zu Migration erklärt, dann zu illegaler Migration und letztlich zur kriminellen und hochgradig gefährlichen Invasion hochgespielt.
Um diese Gefahren abzuwenden, können an den Grenzen und gegen Migrantinnen und Migranten besonders repressive Formen von Politik, Sprache, Rechtsfreiheit und Polizeimacht etabliert werden, die im Binnenland gegen eigene Bürgerinnen und Bürger nur schwer denkbar wären. Der Umweg über die Grenze aber normalisiert sie, sodass sie am Ende doch in die Gesellschaft hineinwirken. Die Beispiele reichen vom Einsatz von Grenztruppen zur harten Niederschlagung der »Portland Riots« im Zuge der Proteste nach dem Mord an George Floyd oder mit Blick auf Deutschland die Vielzahl der Gedankenspiele, Sozialleistungen in ungekannter Weise zu kürzen. Die österreichische Historikerin Judith Kohlenberger fasst dies mit dem Begriff der »neuen Härte« zusammen, die über den Migrationsdiskurs etabliert und dann in der Gesellschaft ausgeübt wird.
»Nimmt man Stimmen wie de Genova oder Kohlenberger ernst und blickt man zurück auf die Gründe, warum Europa seinen Bürgerinnen und Bürgern einst das Recht auf unkontrollierte Binnenmobilität verlieh, zeigt sich, dass es bei all der Rede um Migrationspolitik de facto um Europapolitik geht.«
Nimmt man Stimmen wie de Genova oder Kohlenberger ernst und blickt man zurück auf die Gründe, warum Europa seinen Bürgerinnen und Bürgern einst das Recht auf unkontrollierte Binnenmobilität verlieh, zeigt sich, dass es bei all der Rede um Migrationspolitik de facto um Europapolitik geht. Das Grenzspektakel ist ein Souveränitätsspektakel. Es geschieht vor dem Hintergrund einer kruden Commonsense-Wahrnehmung von Recht, derzufolge Staaten Herr über die eigenen Dinge sein müssten. In der Realität haben sie allerdings – und mit großem Verve – nicht nur zahlreiche grundlegende Kompetenzen an die EU abgegeben.
Die Figur der Hoheit der nationalstaatlichen Souveränität über internationalen Verflechtungen ist in vieler Hinsicht ein Anachronismus. Europäische Gerichte und internationale Organisationen harren auf die Verbindlichkeit internationaler Normen. Transnationale Unternehmen führen den Staaten in ganz anderer Art die Grenzen ihrer Macht vor Augen. Und selbst innerhalb der Staaten drängen zunehmend die eigenen Gerichte, Bürgerinnen und Bürger und Medien auf die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten. In Zeiten, in denen Nationalstaaten das Organisationsmuster der Weltordnung bilden, zugleich aber ihre Macht zunehmend zerfällt, wird die harte Abwehr von Migration und die Inszenierung von Grenzen zum letzten Ausweg für Nationalstaaten, um die Sinnhaftigkeit ihrer Existenz zu beweisen. Nur sie, so die Botschaft, können die Bürger und vor allem die Bürgerinnen durch Abschließung effektiv gegen Eindringlinge schützen.
Dies geschieht nicht in »Einzelmaßnahmen«, wie es in der politischen Sprache oft heißt, sondern in einer Kaskade. Erst letztes Jahr boxten die Regierungen die europäische Asylreform GEAS durch, die im Kern auf weitgehend rechtsfreie Zonen der Immobilisierung von Migrantinnen und Migranten durch Internierung setzt. Italien setzte zudem die Auslagerung seiner Asylverfahren nach Albanien; ein Deal, der letztlich kaum etwas anderes bewirken wird, als mediterrane Migration durch staatliches Handeln auf die Balkanroute umzuleiten. Keine zwölf Monate später und bevor diese Maßnahmen auch nur in Kraft getreten sind, reichen sie schon nicht mehr. Jetzt braucht es die »neue Härte« an den deutschen Grenzen und auch hier werden die beschlossenen Maßnahmen scheitern und darum schnell überboten werden.
Das Scheitern des Grenzschutzversprechens wird so zum Gewinn für regressive Kräfte. Denn die Unzulänglichkeit der Maßnahmen lässt die Regierenden – anders als zu Beginn des europäischen Projekts – nicht den eingeschlagenen Weg hinterfragen, sondern legitimiert stets weitere nationale Maßnahmen.
»Der eingeschlagene Weg und die rasende Geschwindigkeit des sich selbst verhärtenden migrationspolitischen Scheiterns führen weiter in die Normalisierung von im Kern rechten identitären Positionen.«
Bei der Rückkehr von Grenzkontrollen geht es also keineswegs nur um kleinere Widrigkeiten für Privilegierte auf dem Weg in den Sommerurlaub, wie einige oberschlaue Linke zu erkennen meinen. Es geht um die Re-Installation von Souveränitätsideen, die in deutlicher Anleihe bei Carl Schmitt nationale Ansprüche und Entscheidungshoheit über Grundrechte und internationale Verbindlichkeiten stellen. In der trüben Realität äußert sich dies meist in Schuldzuweisungen nationaler Politiker an andere Staaten. Bis vor Kurzem traf dies in erster Linie außereuropäische Staaten, denen man vorwarf, per Migration einen »hybriden Krieg« zu führen und kriminelle Schleuserbanden gewähren zu lassen.
Die Einführung nationaler Grenzkontrollen zur Migrationskontrolle verlagert die Schuldfrage nun allerdings sichtbar auf den benachbarten Schengen-Partnerstaat und damit auch auf die EU. Die Zentrifugalkraft der Schuldzuweisung wirkt hier in beide Richtungen. Für die einen kommt immer der Staat seiner Pflicht der Abwehr nicht ordentlich nach, der näher an den Außengrenzen liegt. Für die anderen hindern die grenzferneren Staaten aufgrund hehrer, aber unpraktischer Menschenrechtsvorstellungen die tatsächlichen Grenzhüter an der Ausübung ihres harten Jobs. Mit Migrationsregulierung hat all das wenig zu tun, sehr viel aber mit der politischen Inszenierung von Steuerungsillusionen und Sicherheitsversprechen – ohne die realen Gründe der sozialen Unsicherheit durch Austerität, Korruption und den zunehmenden Autoritarismus erwähnen zu müssen.
An der Grenze geht es nur mehr in der Verkehrung des Eingangszitats von Willy Brandt darum, Staatlichkeit wieder »unmittelbar sichtbar und fühlbar zu machen«. Europäisch bedeutet dies eine integrationspolitische Umkehr vom Streben nach einer europäischen Gesellschaft zurück zu nationalen Gemeinschaften, die, wenn es hart auf hart kommt, auf sich selbst gestellt seien. Der eingeschlagene Weg und die rasende Geschwindigkeit des sich selbst verhärtenden migrationspolitischen Scheiterns führen weiter in die Normalisierung von im Kern rechten identitären Positionen. Und deren Ziel ist es, dass es »hart« kommt und sich endlich wieder trennt, was auseinander gehört. Und dies gilt natürlich nicht nur für Europa, sondern für die Gesellschaft im Ganzen.
Frank Wolff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Forschung) der überparteilichen Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung mit Sitz in Berlin und Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück.