14. April 2020
Mit dem Coronavirus steht ein lange erwartetes Ungeheuer vor der Tür. Inmitten der Hilflosigkeit des globalen Kapitalismus ist die Zeit für ein öffentliches, internationales Gesundheitssystem gekommen.
Ärzte in Schutzausrüstung, Barcelona. Flickr/Banc d'Imatges Infermeres.
Das Coronavirus – das ist der alte Film, den wir immer wieder gesehen haben. Seitdem uns der Autor Richard Preston 1994 in seinem Buch Hot Zone. Tödliche Viren aus dem Regenwald mit dem vernichtenden Dämon namens Ebola bekannt gemacht hat, der in einer geheimnisvollen Fledermaushöhle in Zentralafrika geboren wurde, wiederholt sich die Geschichte immer und immer wieder. Ebola war nur die erste in einer Reihe neuer Krankheiten, die auf dem, wie es in der Medizin heißt, »virgin field« (deutsch etwa »jungfräuliches Feld«) des unerfahrenen Immunsystems der Menschheit ausgebrochen ist. Auf Ebola folgten bald die Vogelgrippe, die 1997 auf den Menschen übersprang, und SARS Ende 2002: Beide traten zuerst in Guangdong, dem Produktionszentrum der Welt, auf.
Hollywood hat sich dieser Ausbrüche natürlich begierig angenommen und sie in einer Reihe von Filmen verarbeitet, die uns aufwühlen und erschrecken sollten (Steven Soderberghs Contagion von 2011 zeichnet sich durch seine wissenschaftsgetreue Darstellung aus, und dadurch, dass der Film das gegenwärtige Chaos beinahe unheimlich präzise vorwegnahm). Zusätzlich zu den Filmen und unzähligen reißerischen Romanen haben Hunderte von Sachbüchern und Tausende von wissenschaftlichen Artikeln auf jeden dieser Ausbrüche reagiert. Viele dieser Beiträge haben hervorgehoben, wie schlecht wir weltweit darauf vorbereitet sind, solche neuartigen Krankheiten zu erkennen und auf sie zu reagieren.
Das Coronavirus betritt die Bühne also als vertrautes Monster. Die Sequenzierung seines Genoms (sehr ähnlich wie beim gut untersuchten, verwandten Virus SARS) war ein Kinderspiel, doch die wichtigsten Informationen fehlen noch immer. Die Forscherinnen und Forscher, die Tag und Nacht an der Untersuchung des Ausbruchs arbeiten, stehen vor drei großen Herausforderungen:
Erstens verhindert der anhaltende Mangel an Testkits, insbesondere in den Vereinigten Staaten und Afrika, eine genaue Schätzung der Schlüsselparameter wie etwa der Reproduktionsrate, der Anzahl der Infizierungen sowie der gutartigen Verläufe. Das Ergebnis: ein regelrechtes Zahlen-Chaos.
Zweitens mutiert das Virus, wie auch bei den jährlichen Grippewellen, in dem Maße, in dem es sich zwischen Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlicher Alterszusammensetzung und mit unterschiedlichem Gesundheitszustand bewegt. Die Mutation, die derzeit bei US-Bürgerinnen am ehesten auftritt, unterscheidet sich bereits von der des ursprünglichen Ausbruchs in Wuhan. Eine weitere Mutation könnte gutartig sein oder aber die aktuelle Virulenz, die derzeitig bei den über Fünfzigjährigen stark ansteigt, nochmal verändern. Trumps »Coronagrippe« ist zumindest für ein Viertel der US-Amerikanerinnen und -Amerikaner, die entweder älter sind, ein schwaches Immunsystem oder chronische Atembeschwerden haben, eine tödliche Gefahr.
Drittens: Selbst wenn das Virus stabil bleibt und wenig mutiert, könnten die Auswirkungen auch auf jüngere Altersgruppen insbesondere in ärmeren Ländern und unter von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen schwerwiegend sein. Man erinnere sich an die globalen Auswüchse der Spanischen Grippe in den Jahren 1918–19, der schätzungsweise ein bis zwei Prozent der Menschheit erlegen sind. In den Vereinigten Staaten und Westeuropa war die ursprüngliche H1N1 am tödlichsten für junge Erwachsene. Man vermutete damals, dies sei auf ihr vergleichsweise stärkeres Immunsystem zurückzuführen, das auf die Infektion überreagiere und Lungenzellen angreife, was wiederum eine virale Lungenentzündung auslöse und zu einem septischen Schock führe. In der jüngeren Vergangenheit hat die Epidemiologie noch eine andere Theorie aufgestellt, nämlich dass ältere Erwachsene damals möglicherweise noch ein »Immungedächtnis« von einem vorherigen Ausbruch in den 1890er Jahren hatten, das ihnen Schutz bot.
In jedem Fall breitete sich die Grippe bevorzugt in Armeelagern und Feldgräben aus, wo sie junge Soldaten zu Zehntausenden dahinraffte. Dies wurde zu einem entscheidenden Faktor im damaligen Kräftemessen der Imperialmächte. Dass die deutsche Frühjahrsoffensive von 1918 zusammenbrach – und Deutschland den Krieg verlor – kann der Tatsache zugeschrieben werden, dass die Alliierten, anders als ihre Feinde, ihre kranken Armeen durch neu angekommene amerikanische Truppen ersetzen konnten.
In ärmeren Ländern hatte die Spanische Grippe jedoch ein völlig anderes Profil. Selten wird erwähnt, dass fast 60 Prozent der weltweiten Sterbefälle (das sind mindestens zwanzig Millionen Tote) damals im Punjab, in Bombay und anderen Teilen Westindiens auftraten, wo Getreideexporte nach Großbritannien und brutale Praktiken der Beschlagnahme mit einer großen Dürre zusammenfielen. Die daraus resultierende Nahrungsmittelknappheit trieb Millionen von armen Menschen an den Rand des Hungertodes. Sie wurden Opfer einer fatalen Wechselwirkung zwischen Unterernährung – die ihr Immunsystem schwächte – und einer grassierenden bakteriellen sowie viralen Lungenentzündung. Ähnliches geschah im britisch besetzten Iran. Eine Jahre überdauernde Dürreperiode, die Cholera, Nahrungsmittelknappheit, gefolgt von einem ausgedehnten Malariaausbruch hatten den Tod von schätzungsweise einem Fünftel der Bevölkerung zur Folge.
Der Blick in die Vergangenheit – und insbesondere die unbekannten Wechselwirkungen mit Unterernährung und bereits bestehenden Infektionen – sollte uns warnen: COVID-19 könnte in den dicht besiedelten, krankheitsanfälligen Slums Afrikas und Südasiens einen anderen, noch tödlicheren Verlauf nehmen. Inzwischen treten Fälle in Lagos, Kigali, Addis Abeba und Kinshasa auf, aber niemand weiß, wie die Krankheit sich dort unter den lokalen Gesundheitsbedingungen entfalten wird. Angesichts fehlender Tests wird dies auch lange unbekannt bleiben. Manche behaupten, dass die Pandemie in Afrika nur milde Auswirkungen haben wird, da die dortige urbane Bevölkerung eine der jüngsten der Welt ist. Angesichts der Erfahrung von 1918 ist dies jedoch eine kurzsichtige Prognose. Genauso wie die Annahme, die Pandemie würde, wie die saisonale Grippe, mit wärmerem Wetter zurückgehen. Tom Hanks hat sich kürzlich in Australien, wo gerade noch Sommer ist, mit dem Virus angesteckt.
In einem Jahr dürften wir mit Bewunderung auf Chinas Erfolg bei der Eindämmung der Pandemie zurückblicken, aber mit Schrecken auf das Versagen der Vereinigten Staaten (Ich würde an dieser Stelle waghalsig behaupten, dass Chinas Angaben zum raschen Rückgang der Neuinfektionen mehr oder weniger zutreffend sind). Die Unfähigkeit unserer Institutionen, die Büchse der Pandora geschlossen zu halten, überrascht natürlich wenig. Seit dem Jahr 2000 haben wir wiederholt Zusammenbrüche des Gesundheitssystems beobachten können.
Sowohl in der Grippesaison 2009 als auch 2018 waren die US-amerikanischen Krankenhäuser heillos überlastet. Nach Jahren des profitorientierten Abbaus stationärer Kapazitäten wurde der schockierende Mangel an Krankenhausbetten deutlich. Diese Krise geht auf die Offensive von Unternehmen zurück, die Reagan an die Macht brachten und die führende Demokratinnen zu Sprachrohren des Neoliberalismus machten. Nach Angaben der American Hospital Association ging die Zahl der stationären Krankenhausbetten zwischen 1981 und 1999 um außerordentliche 39 Prozent zurück. Ziel war es, die Gewinne zu steigern, indem man dafür sorgte, dass der Anteil an belegten Betten pro Krankenhaus möglichst hoch lag. Dieses Ziel des Managements – nämlich 90 Prozent Belegung – bedeutete jedoch, dass die Krankenhäuser im Fall von Epidemien oder medizinischen Notfällen nicht mehr in der Lage waren, den Zustrom von neuen Patientinnen und Patienten aufzufangen.
In den letzten zwanzig Jahren wurde die Notfallmedizin weiter reduziert: In der Privatwirtschaft durch den Imperativ des »Shareholder-Value«, der die Erhöhung kurzfristiger Dividenden und Gewinne vorsieht, und im öffentlichen Sektor durch Sparmaßnahmen und Kürzungen in den Bereitschaftshaushalten der Bundesstaaten und des Bundes. In der Konsequenz stehen nur noch 45.000 Betten auf Intensivstationen zur Verfügung, um die zu erwartende Welle schwerer und kritischer Coronavirus-Fälle zu bewältigen. (Zum Vergleich: im Verhältnis zur Bevölkerungszahl stehen den Südkoreanerinnen mehr als dreimal so viele Betten zur Verfügung wie den US-Amerikanerinnen). Laut einer Untersuchung von USA Today hätten »nur acht Staaten genügend Krankenhausbetten, um die 1 Million US-Bürgerinnen ab 60 Jahren zu behandeln, die an COVID-19 erkranken könnten«.
Die USA befinden sich im Anfangsstadium eines medizinischen Hurrikan Katrina. Während Expertinnen sich für eine massive Ausweitung der öffentlichen Investitionen in die medizinische Notfallversorgung aussprechen, mangelt es an grundlegender Ausstattung und an Notfallbetten.
Die nationalen und regionalen Vorräte werden auf einem Niveau gehalten, das weit unter dem liegt, was in epidemischen Krisenszenarien als notwendig erachtet wird. So fällt das Debakel fehlender Testkits mit einem kritischen Mangel an grundlegender Schutzausrüstung für das Gesundheitspersonal zusammen. Militante Krankenschwestern, soziales Gewissen der Nation, klären über die verheerenden Implikationen der unzureichenden Vorräte an Schutzausrüstungen wie N95-Gesichtsmasken auf. Sie machen darauf aufmerksam, dass die Krankenhäuser einen idealen Nährboden für antibiotikaresistente Superbakterien wie C. difficile bieten. Die Komplikationen, die solch eine Infektion auslösen könnte, könnte für viele Patienten auf sekundärem Weg tödlich ausgehen.
Der Ausbruch des Virus hat eine extreme Klassenspaltung im Gesundheitswesen der USA unmittelbar sichtbar gemacht, die auch schon Bernie Sanders‘ Präsidentschaftskampagne landesweit auf die Agenda gesetzt hat. Diejenigen, die über eine gute Krankenversicherung verfügen und auch von zu Hause aus arbeiten oder unterrichten können, sind weitgehend gut isoliert und geschützt, sofern sie die empfohlenen Schutzmaßnahmen einhalten. Beschäftigte im öffentlichen Dienst und andere Arbeitende aus gewerkschaftlich organisierten Bereichen mit akzeptablen Krankenversicherungen werden sich hingegen zwischen Einkommen und dem Schutz ihrer Gesundheit entscheiden müssen. Und die Millionen von Niedriglohnbeschäftigten im Dienstleistungssektor und in der Landwirtschaft, die Arbeitslosen und die Obdachlosen werden den Wölfen zum Fraß vorgeworfen.
Bekanntermaßen sieht jede allgemeine Krankenversicherung, die diesen Namen verdient, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vor. 45 Prozent der Beschäftigten haben diesen Anspruch jedoch derzeit nicht. Sie sehen sich praktisch dazu gezwungen, die Infektion entweder zu übertragen oder vor leeren Tellern zu sitzen. Zudem haben sich 14 republikanische Staaten geweigert, ein Gesetz für bezahlbare Pflege zu erlassen, das Medicaid (ein Versicherungsprogramm für Menschen mit geringem Einkommen) auf die arbeitenden Armen ausdehnen würde. Denn aktuell ist zum Beispiel jede vierte Person in Texas gar nicht versichert. Ihnen bleibt nur die Notaufnahme des Bezirkskrankenhauses, um sich behandeln zu lassen.
Die tödlichen Widersprüche eines privaten Gesundheitssystems sind in Zeiten der Seuche in der gewinnorientierten Industrie der Pflegeheime am deutlichsten zu erkennen. Dort leben 2,5 Millionen ältere US-Amerikaner und -Amerikanerinnen, von denen die meisten über Medicareversorgt werden. Die Pflegebranche schlägt aus niedrigen Löhnen, personeller Unterbesetzung und illegalen Kostensenkungen Kapital. Zehntausende sterben jedes Jahr, weil die Einrichtungen grundlegende Verfahren zur Infektionskontrolle vernachlässigen – und weil die Regierungen dabei versagen, das Management für ihr Handeln, das man getrost als vorsätzlichen Totschlag bezeichnen könnte, zur Rechenschaft zu ziehen. Für viele Heime – insbesondere in den Südstaaten – ist es billiger, Strafen für Verstöße gegen die Hygienevorschriften zu zahlen, als zusätzliches Personal einzustellen und dieses angemessen auszubilden.
Es überrascht kaum, dass ein Pflegeheim in Kirkland, einem Vorort von Seattle, zum ersten Epizentrum der Übertragung des Corona-Virus in den Vereinigten Staaten wurde. Ich habe mit Jim Straub, einem alten Freund und Gewerkschafts-Organizer in Pflegeheimen in der Gegend von Seattle, gesprochen, der derzeit einen Artikel für The Nation schreibt. Er bezeichnete die Einrichtung als »eine der am schlechtesten ausgestatteten des Staates« und das gesamte Pflegeheimsystem des Staates Washington »als das am stärksten unterfinanzierte des Landes – eine absurde Insel kargen Leidens inmitten der Geldberge der Tech-Industrie.«
Er hat außerdem darauf hingewiesen, dass die Beamten des öffentlichen Gesundheitswesens den entscheidenden Faktor, der die rasche Übertragung der Krankheit von dem erwähnten Pflegeheim auf zehn weitere, nahe gelegene Pflegeheime erklärt, übersehen haben: »Die Mitarbeiterinnen von Pflegeheimen im teuersten Mietmarkt Amerikas arbeiten in der Regel an mehreren Arbeitsplätzen gleichzeitig, in der Regel in mehreren Pflegeheimen«. Die Behörden haben es versäumt, die Namen und Orte dieser Nebenberufe zu erfragen und haben somit jegliche Kontrolle über die Verbreitung von COVID-19 verloren. Und niemand schlägt bisher vor, den mit der Infektion verbundenen Arbeitsausfall zu kompensieren.
Im ganzen Land werden sich Dutzende, wahrscheinlich Hunderte weitere Pflegeheime zu Corona-Hotspots entwickeln. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden sich schließlich für die Tafeln und gegen Arbeit unter solchen Bedingungen entscheiden und zu Hause bleiben. In diesem Fall könnte das ganze System zusammenbrechen – und es ist wohl kaum zu erwarten, dass die Armee dazu bereit sein wird, Bettpfannen zu leeren.
Die Argumente für einen Versicherungsschutz für alle und bezahlte Krankentage werden mit dem zunehmenden, tödlichen Voranschreiten der Pandemie zwingender. Während Biden darauf fixiert ist, Trump anzugreifen, müssen sich die progressiven Kräfte, wie von Bernie vorgeschlagen, zusammenschließen, um bei dem Parteitag der Demokraten, der Mitte Juli in Milwaukee stattfinden wird, die Partei für Medicare for All zu gewinnen. Bei dieser Gelegenheit, bei der auch der demokratische Präsidentschaftskandidat gewählt wird, müssen die Delegierten von Sanders und Warren an einem Strang ziehen. Doch auch abseits der Wahlpolitik gibt es einiges zu tun: Aktivistische Kämpfe gegen Zwangsräumungen, Entlassungen, gegen Arbeitgeberinnen, die sich gegen Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall weigern, stehen bevor. Angst vor Ansteckung? Demonstrierende, die mit Sicherheitsabstand zueinander protestieren, ergeben eher noch ein stärkeres Bild im Fernsehen. Es ist an der Zeit, die Straßen zurückzuerobern.
Eine allgemeine Krankenversicherung und die damit verbundenen Forderungen sind jedoch nur ein erster Schritt. Es ist enttäuschend, dass weder Sanders noch Warren in den Vorwahlen auf den Rückzug großer Pharmakonzerne aus der Forschung und Entwicklung neuer Antibiotika und antiviraler Mittel aufmerksam gemacht haben. Von den achtzehn größten Pharmaunternehmen haben sich fünfzehn völlig aus diesem Feld der Forschung zurückgezogen. Herzmedikamente, süchtig machende Beruhigungsmittel und Behandlungen gegen männliche Impotenz sind Profitmacher, nicht aber die Bekämpfung von Krankenhausinfektionen, neu aufkommenden Krankheiten und traditionellen Tropenkillern. Ein universeller Impfstoff gegen die Grippe – das heißt also ein Impfstoff, der auf die unveränderlichen Teile der Oberflächenproteine des Virus abzielt – ist seit Jahrzehnten eine Möglichkeit, die aber nie profitabel genug erschien, um Priorität zu erlangen.
Sollte die Antibiotika-Revolution rückgängig gemacht werden, drohen alte Krankheiten neben neuen Infektionen wiederaufzutauchen, und Krankenhäuser werden zu Leichenhäusern werden. Selbst Trump wettert gerade opportunistisch gegen absurd hohe Verschreibungskosten. Wir brauchen eine entschlossenere Vision, die darauf abzielt, Arzneimittelmonopole aufzubrechen und die öffentliche Produktion lebenswichtiger Medikamente zu ermöglichen (Früher war dies möglich: Während des Zweiten Weltkriegs verpflichtete die Armee den Immunologen Jonas Salk und andere Forschende dazu, den ersten Grippeimpfstoff zu entwickeln). Wie ich vor fünfzehn Jahren in meinem Buch Vogelgrippe. Zur gesellschaftlichen Produktion von Epidemien schrieb:
»Zugang zu lebensrettenden Medikamenten, einschließlich Impfstoffen, Antibiotika und Antistatika, sollte ein Menschenrecht sein, und zwar weltweit kostenlos erhältlich. Wenn die Nachfrage als Marktanreiz zur billigen Herstellung dieser Arzneimittel nicht ausreicht, sollten die Regierungen und Non-Profit-Organisationen die Verantwortung für Herstellung und Verteilung übernehmen. Dem Überleben der Armen muss zu jedem Zeitpunkt höhere Priorität eingeräumt werden als den Profiten der großen Pharmakonzerne.«
Angesichts der aktuellen Pandemie muss ich hier hinzufügen: Die kapitalistische Globalisierung erweist sich als biologisch unhaltbar, solange es keine wirklich internationale, öffentliche Gesundheitsinfrastruktur gibt. Eine solche Infrastruktur wird es erst geben, wenn die Macht der großen Pharmakonzerne und der gewinnorientierten Gesundheitsversorgung durch die Kraft zivilgesellschaftlicher Bewegungen gebrochen ist.
Dies erfordert einen unabhängigen sozialistischen Entwurf für das menschliche Überleben, der über einen zweiten New Deal hinausgeht. Seit der Occupy-Bewegung haben es die Progressiven geschafft, die Einkommens- und Vermögensunterschiede auf der Prioritätenliste an die erste Stelle zu rücken. Eine beachtliche Leistung. Jetzt müssen Sozialistinnen und Sozialisten den nächsten Schritt wagen und das Gesundheitswesen und die Pharmaindustrie in den Fokus nehmen und für Sozialeigentum und die Demokratisierung ökonomischer Macht eintreten.
Daneben müssen wir auch unsere politischen und moralischen Schwächen ehrlich betrachten. So sehr ich mich auch über eine neue linke Generation und die Rückkehr des Wortes »Sozialismus« in den politischen Diskurs gefreut habe: Es gibt auch ein beunruhigendes Element des nationalen Solipsismus und eine extremen Selbstbezogenheit in den progressiven Bewegungen, ähnlich wie auch beim neuen Nationalismus. In den Vereinigten Staaten sprechen wir eigentlich nur über die US-amerikanische Arbeiterinnenklasse und die radikale Geschichte Amerikas und vergessen, dass Eugene V. Debs durch und durch Internationalist war. Alles andere kommt mir manchmal wie eine linke Version der Parole »America First« vor.
In der Auseinandersetzung mit der Pandemie sollten Sozialistinnen jede Gelegenheit nutzen, an die Dringlichkeit internationaler Solidarität zu erinnern. Konkret bedeutet das, dass wir unsere progressiven politischen Verbündeten und Idole dazu bewegen müssen, eine massive Ausweitung der Produktion von Testkits, Schutzmitteln und Medikamenten zur kostenlosen Verteilung an arme Länder zu fordern. Es liegt an uns, dafür zu sorgen, dass Medicare for All nicht nur zur Innen- sondern auch zur Außenpolitik wird.
Mike Davis ist Soziologe und Historiker. Er veröffentlichte u.a. City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles und Planet der Slums.