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Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

11. Juli 2025

Industrialisieren statt militarisieren

Militärausgaben sind kein Wachstumsmotor und werden die Deindustrialisierung nicht aufhalten – im Gegenteil. Um die Wirtschaft nachhaltig zu stärken, gibt es einen besseren Weg. Ein Gastbeitrag.

Eine parlamentarische Delegation angeführt von Raoul Hedebouw von der belgischen Partei der Arbeit besucht das von Schließung bedrohte Audi-Werk in Brüssel, 18. September 2024.

Eine parlamentarische Delegation angeführt von Raoul Hedebouw von der belgischen Partei der Arbeit besucht das von Schließung bedrohte Audi-Werk in Brüssel, 18. September 2024.

IMAGO / Photo News

Wenn man Hunger hat, kauft man Nahrungsmittel, isst sie – und der Hunger verschwindet. Doch die Nahrungsmittel sind damit verbraucht. Also muss man neue produzieren, um den nächsten Hunger zu stillen. Das ist ein Kreislauf. Wir müssen mobil sein, um zur Arbeit zu gelangen, Familie zu besuchen oder in den Urlaub zu fahren. Dafür nutzen wir öffentliche Verkehrsmittel oder unser eigenes Fahrzeug. Doch durch ständige Nutzung verschleißen diese Verkehrsmittel. Nach einer gewissen Zeit müssen sie gewartet, repariert oder ersetzt werden. Ebenso erfordert die Verkehrsinfrastruktur kontinuierliche Investitionen in ihre Entwicklung, Instandhaltung und die Produktion neuer Fahrzeuge. Das ist der Zyklus in einem Wirtschaftssystem, das darauf ausgelegt ist, den Bedarf und die Nachfrage der Gesellschaft für eine bestimmte Zeit zu decken.

Investitionen in die Rüstungsindustrie nähren hingegen einen Teufelskreis, in dem Frieden zur Bedrohung für Profite wird. Solange Konflikte andauern – etwa der Krieg in der Ukraine, der Völkermord in Gaza oder die von der EU gebilligte und von Ruanda unterstützte Besetzung des Ostkongo –, gibt es einen »Markt« für Waffen. Werden Waffen jedoch nur gehortet und nicht eingesetzt, droht eine Marktsättigung. Für die Rüstungshersteller bedeutet das: Neue Aufträge gibt es nur dann, wenn Waffen auf Schlachtfeldern verbraucht werden. Ihre wirtschaftliche Existenz hängt somit vom Fortbestehen von Kriegen ab.

Die Militarisierung der Wirtschaft erzeugt einen strukturellen Anreiz für Krieg – ein Effekt, der durch die Lobbyarbeit der Rüstungsindustrie zusätzlich verstärkt wird. Noch perfider: Kriege und bewaffnete Konflikte werden zunehmend zur Bewerbung von Waffen genutzt. Manche Unternehmen, etwa solche, die Waffen an Israel liefern, schrecken nicht davor zurück, ihre Produkte mit dem Hinweis zu anzupreisen, sie seien »unter realen Einsatzbedingungen getestet« – und verwandeln so Tod und Zerstörung in ein Verkaufsargument.

Die USA verkörpern diese destruktive Logik in besonders drastischer Weise. Als einziges Land mit einer derart ausgeprägten Industrie, die wesentlich auf der Produktion von Waffen basiert, führen sie seit Jahrzehnten nahezu ununterbrochen Kriege. Allein seit 2001: in Afghanistan (2001–2021), im Irak (2003–2011), in Libyen (2011), in Syrien und im Jemen; zudem unterstützen sie militärisch die Ukraine sowie Israels völkermörderischen Krieg gegen die Palästinenser. Diese permanente Kriegsführung treibt einen gewaltigen Industriezweig an: Allein im Jahr 2024 beliefen sich die US-Waffenexporte auf 318,7 Milliarden US-Dollar – ein Anstieg um 29 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das US-Außenministerium rechtfertigt diesen Anstieg mit der »Auffüllung der an die Ukraine gelieferten Bestände« sowie der Vorbereitung auf »künftige größere Konflikte«.

»Ein Panzer produziert keine Energie, befördert keine Innovationen, erleichtert keinen Transport und schafft keine neuen Gebäude. Er mobilisiert Ressourcen, ohne nachhaltige Sogwirkung für die Wirtschaft.«

Entgegen der offiziellen Rhetorik bietet die Militarisierung der Wirtschaft keinen Schutz – im Gegenteil: Sie erhöht die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen. Die europäische Geschichte liefert hierfür eindrucksvolle Belege. Besonders in Deutschland führten die massiven Aufrüstungswellen des 20. Jahrhunderts zu zwei verheerenden Weltkriegen und hinterließen einen zerstörten Kontinent. Die Wiederholung einer derartigen Militarisierung würde bedeuten, erneut Leben zu opfern, ganze Gesellschaften zu zerstören – einzig, um eine Industrie am Laufen zu halten, die von Unsicherheit lebt. Ihr Fortbestehen basiert auf der ständigen Erzeugung von Bedrohung. Um es mit den Worten des Ökonomen Michael Roberts zu sagen: »Militärkeynesianismus funktioniert nur in Kriegszeiten.«

Rüstung bringt kein Wachstum

Die europäische Wirtschaft befindet sich in einer Sackgasse. Deutschland, die größte Industriemacht des Kontinents, steckt in einer Rezession. »Bestehende Wertschöpfungsketten oder Produktionskapazitäten in unseren traditionellen Industriezweigen – etwa der Automobil-, Stahl-, Aluminium- oder Chemiebranche – könnten neue Perspektiven durch die Umstellung auf und Versorgung einer wachsenden industriellen Verteidigungsbasis eröffnen«, erklärt die Europäische Kommission. Doch die Hoffnung, dass die Militarisierung der Wirtschaft den alten Kontinent auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zurückführt, dürfte trügerisch sein – und womöglich nur von kurzer Dauer.

Um die Wirkung verschiedener Arten von Investitionen zu vergleichen, verwendet man in der Wirtschaft den sogenannten Multiplikatoreffekt. Dieser Begriff beschreibt das Phänomen, dass eine anfängliche Ausgabe eine Reihe weiterer Ausgaben, Investitionen und wirtschaftlicher Aktivitäten nach sich zieht. Wenn zum Beispiel in einen Windpark investiert wird, kann die erzeugte Energie Fabriken antreiben, Unternehmen anziehen und neue Arbeitsplätze schaffen. Investitionen in den Schienenverkehr erleichtern den Handel und den Transport von Waren, was die Wirtschaftstätigkeit ankurbelt. In die Forschung zu investieren, kann den Weg zu Innovationen frei machen, die die industrielle Entwicklung stärken. Einen Bagger oder Bulldozer herzustellen, hilft beim Bau von Gebäuden, Straßen oder Brücken. Ein Panzer hingegen produziert keine Energie, befördert keine Innovationen, erleichtert keinen Transport und schafft keine neuen Gebäude. Er mobilisiert Ressourcen, jedoch ohne nachhaltige Sogwirkung für die Wirtschaft.

Mehrere neuere Studien haben sich mit den Auswirkungen von Militärausgaben auf die Wirtschaft befasst. Laut dem Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) haben diese Ausgaben nur einen geringen Wachstumseffekt, da sie weitgehend von den Bedürfnissen der Gesellschaft entkoppelt sind, seien es private Unternehmen, der Staat oder die Verbraucher. Wie der Wirtschaftswissenschaftler der Katholischen Universität Löwen, Paul Van Rompuy, kürzlich in Erinnerung rief, hat die amerikanische Investmentbank Goldman Sachs berechnet, dass sich der Multiplikator der Verteidigungsausgaben der EU im Rahmen des Programms »Rearm Europe« nach zwei Jahren auf gerade einmal 0,5 belief.

Laut der GWS (Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung) können sie kurzfristig, zum Zeitpunkt der Waffenkäufe, eine gewisse wirtschaftliche Dynamik erzeugen, werden langfristig jedoch keine nennenswerten Auswirkungen haben. Der CEO von ArcelorMittal Europe, Geert Van Poelvoorde, fasst die Situation klar zusammen: »Die Lieferung von Stahl für die Verteidigung ist kein Problem. 1.000 Panzer sind 30.000 Tonnen. Das entspricht nur drei Produktionstagen in einer einzigen Fabrik. Also nein, die Wiederbelebung der Verteidigung bedeutet nicht automatisch die Wiederbelebung des Stahlsektors.«

Die Studien betonen zudem, dass selbst diese geringen positiven Effekte von mehreren Faktoren abhängen – insbesondere davon, inwieweit die Militärausgaben tatsächlich der heimischen Industrie zugutekommen und nicht in Importe fließen. Außerdem hängt es davon ab, wie diese Ausgaben finanziert werden – etwa ob sie zulasten anderer Haushaltsposten wie Infrastruktur oder öffentlicher Dienstleistungen gehen.

»Militärausgaben werden kein Wirtschaftsmotor sein: Ein Großteil der Mittel wird ins Ausland abfließen, während Kürzungen bei Sozialausgaben und bei produktiven Investitionen das Wachstum negativ beeinflussen werden.«

Heutzutage kommt jedoch ein großer Teil der Rüstungsaufträge Ländern außerhalb der Europäischen Union zugute, in erster Linie den Vereinigten Staaten. Zwischen Juni 2022 und Juni 2023 wurden 78 Prozent der Ausgaben für militärische Anschaffungen an nicht-europäische Anbieter vergeben, 63 Prozent davon an US-amerikanische Unternehmen. »Wir haben nur ein paar Jahre, um uns zu stärken. Wir werden uns bei denjenigen ausrüsten, die schnell produzieren können. Wir werden daher nichts ausschließen. Trotzdem, nach drei Jahren Krieg in der Ukraine gibt es viele europäische Industrieunternehmen, die ihre Produktionskapazität noch nicht wirklich erhöht haben«, räumt der Chef des belgischen Verteidigungsministeriums (CHOD), General Frederik Vansina, ein.

Selbst die Wirtschaftszeitung L'Echo ist besorgt: Ein massiver Anstieg der Einkäufe von Ausrüstung »Made in USA« würde der europäischen Wirtschaft einen wichtigen Geldsegen entziehen. Und das würde die militärische Abhängigkeit von den USA nur verlängern und gleichzeitig eine neue Unterordnung in industrieller und technologischer Hinsicht schaffen.

Ein zweites Problem: Diese Militärausgaben gehen mit einer Rückkehr zur Haushaltsdisziplin in Europa einher, zu Lasten von Investitionen in den sozialen Bereich und in die Infrastruktur. Carsten Brzeski, Leiter der Abteilung Globale Makroökonomie bei ING, warnt: »Es wird einen negativen Multiplikatoreffekt geben, wenn ein Teil der Militärausgaben durch Kürzungen an anderer Stelle finanziert wird.« Kurzfristig werden die Militärausgaben also kein Wirtschaftsmotor sein: ein Großteil der Mittel wird ins Ausland abfließen, während Kürzungen bei Sozialausgaben und bei produktiven Investitionen das Wachstum negativ beeinflussen werden.

Eine Studie von Giorgio d'Agostino, J. Paul Dunne und Luca Pieroni – Universitätsprofessoren mit Schwerpunkt auf der Analyse von Militärausgaben – zeigt, dass Rüstungsausgaben langfristig einen signifikanten und anhaltend negativen Effekt auf das Wirtschaftswachstum haben. Auf Basis von Daten aus 83 Ländern zwischen 1970 und 2014 kommen die Autoren zu dem Schluss, dass ein dauerhaft erhöhter Militärhaushalt das Pro-Kopf-BIP senkt, da Ressourcen von produktiveren Investitionen abgezogen werden. Selbst die RAND Corporation, der mit den US-Streitkräften verbundene Think Tank, erkennt an, dass Investitionen in die Infrastruktur einen höheren Multiplikatoreffekt haben als Militärausgaben. Die Schlussfolgerung ist also, dass eine Erhöhung der Verteidigungsbudgets auf Kosten der Infrastruktur das langfristige Wachstum negativ beeinflussen wird.

Entgegen einer von Kriegstreibern verbreiteten Behauptung ist die Rüstungsindustrie auch kein Jobmotor. Untersuchungen in den USA zeigen, dass bei gleichem Investitionsniveau in zivilen Sektoren wie Gesundheit, Bildung oder erneuerbare Energie deutlich mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Eine aktuelle Studie von Greenpeace, die sich ebenfalls mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der Erhöhung der Militärhaushalte zwischen 2013 und 2023 in Deutschland, Italien und Spanien befasst, kommt für Europa zu genau demselben Ergebnis.

Daher fordert der Ökonom Thomas Piketty eine Neuausrichtung der Prioritäten auf »menschliches Wohlergehen und nachhaltige Entwicklung«, mit massiven Investitionen in »kollektive Infrastrukturen (Bildung, Gesundheit, Transport, Energie, Klima)«.

Das Märchen der Innovationsförderung

Der technologische Rückstand Europas gegenüber den USA und China stellt heute eine existenzielle Herausforderung dar. Dies ist die Warnung, die der ehemalige Direktor der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, in seinem Bericht über die europäische Wettbewerbsfähigkeit ausspricht: »Der technologische Wandel beschleunigt sich rasant. Die EU hinkt bei aufkommenden Technologien, die das künftige Wachstum ankurbeln werden, hinterher.« Ein für diesen Rückstand typischer Bereich sind die Batterien, eine Schlüsseltechnologie, die für die industrielle Transformation unerlässlich ist.

Der Konkurs von Northvolt ist ein trauriges Beispiel dafür. Das 2017 von einem ehemaligen Tesla-Mitarbeiter gegründete schwedische Start-up sollte den industriellen Aufschwung Europas im Bereich der elektrischen Batterien symbolisieren, einem strategischen Sektor, der von Asien dominiert wird. Northvolt profitierte von spektakulären privaten und öffentlichen Finanzierungen (über 15 Milliarden Euro) und nahm eine Giga-Batteriefabrik in Schweden in Betrieb, die damals als Modell für die technologische Souveränität Europas gefeiert wurde. Sie zählte bis zu 6.500 Beschäftigte. Im November 2024 meldete Northvolt jedoch aufgrund mangelnder Liquidität Konkurs an, wodurch die Ambitionen der EU zunichte gemacht wurden und die europäischen Steuerzahler auf nicht zurückgezahlten Krediten sitzen blieben.

Dieses Fiasko zeigt die strukturellen Mängel Europas im Bereich der industriellen Innovation. Diese Zahlen klingen beeindruckend, bekommen aber eine ganz andere Dimension, wenn man sie mit einem der chinesischen Batteriegiganten vergleicht, der seit 25 Jahren in der Branche tätig ist und allein fast 21.000 Ingenieure ausschließlich für Forschung und Entwicklung beschäftigt.

Die Europäische Union liegt heute in vielen technologischen Bereichen zurück – etwa bei digitaler Spitzentechnologie, grünen Technologien, autonomem Fahren sowie beim Ausbau von 5G und dem künftigen 6G. Ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind deutlich geringer als die der USA und Chinas, zudem sind die europäischen Bemühungen oft fragmentiert. Der Europäische Rechnungshof hat kürzlich einen Bericht veröffentlicht, in dem er vor einem kritischen Rückstand Europas im Bereich der Mikroprozessoren warnt. Diese sogenannten »Chips« bilden das Herzstück aller elektronischen Geräte – von Autos über Smartphones bis hin zu Satelliten und Anwendungen der künstlichen Intelligenz. Der Rechnungshof stellt fest, dass die derzeitige Strategie der Europäischen Kommission nicht ausreichen wird, um diesen Rückstand aufzuholen. Einige Monate zuvor hatte der Europäische Rechnungshof bereits Alarm geschlagen, weil zu wenig in künstliche Intelligenz investiert wird.

»Eine Erhöhung der Mittel für das Militär wird auf Kosten der zivilen Forschung und Entwicklung gehen, was sich sogar negativ auf das Gesamtvolumen der Innovationen auswirken könnte.«

Angesichts dieser Tatsache versucht die Europäische Kommission uns zu beruhigen, indem sie behauptet, dass »höhere Investitionen in die Verteidigung auf die gesamte Wirtschaft positive Signalwirkung haben, zur Wettbewerbsfähigkeit, zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Innovation in zahlreichen Sektoren beitragen würden, von der Luftfahrt bis zum Schiffbau, von der Stahlindustrie bis zur Raumfahrt, vom Transportwesen bis zur künstlichen Intelligenz«.

Das am häufigsten zitierte Beispiel für diese Idee ist das Internet, das als Ergebnis von US-Militärprogrammen dargestellt wird. Diese Argumentation ist nicht stichhaltig, und diese Strategie droht unseren technologischen Rückstand in all diesen zivilen Bereichen noch weiter zu vergrößern.

In ihrem Bestseller The Entrepreneurial State blickt die Ökonomin Mariana Mazzucato auf die Entstehung des Internets zurück, das in seinen Anfängen von DARPA, der Agentur des US-Verteidigungsministeriums, finanziert wurde. Sie zeigt, dass nicht der militärische Zweck der Investitionen ausschlaggebend war, sondern die strategische Rolle, die der Staat spielte: langfristige Finanzierung der Forschung, Koordinierung von Universitäten, Unternehmen und Laboratorien im Hinblick auf ehrgeizige Projekte, unabhängig von ihrer unmittelbaren Rentabilität.

Im Klartext: Obwohl der Vorläufer des Internets in einem militärischen Rahmen entstand, ist die Weiterentwicklung einer visionären öffentlichen Politik zu verdanken – nicht der militärischen Logik selbst. Und nur im zivilen Rahmen und mit dem Ehrgeiz zehntausender Forscher und Wissenschaftlerinnen des Europäischen Zentrums für Kernforschung (CERN), ihre wissenschaftlichen Entdeckungen schnell zu verbreiten, konnte sich die moderne Form des Internets ab Anfang der 1990er Jahre entwickeln.

Es gibt also keinen Grund zu glauben, dass ein Umweg über Investitionen in die militärische Forschung notwendig sei. Im Gegenteil, dieser Umweg kann sich sogar als kontraproduktiv erweisen, da das Gebot zur Geheimhaltung die Verbreitung von Innovationen für die zivile Nutzung bremst. Vor allem wird eine Erhöhung der Mittel für das Militär auf Kosten der zivilen Forschung und Entwicklung gehen, was sich sogar negativ auf das Gesamtvolumen der Innovationen auswirken könnte. Weit entfernt von der Illusion, Rüstung habe positiven Einfluss, brauchen wir einen echten Plan für massive öffentliche Investitionen in zivile Zukunftstechnologien auf europäischer Ebene. Andernfalls wird sich unser technologischer Rückstand – und die damit einhergehende Deindustrialisierung – noch weiter vergrößern. Wir dürfen weder finanzielle Mittel noch Brainpower zugunsten militärischer Programme opfern, wenn es um zentrale technologische Prioritäten geht.

Bremsklotz für die Klimawende

Die Militarisierung unserer Wirtschaft ist auch keine Antwort auf die Krise, die die energieintensivsten Branchen wie die Eisen- und Stahlindustrie oder die chemische Industrie derzeit durchmachen. Die Mittel, die in die Energiewende investiert werden sollten, fließen anderswohin. Diese Sektoren sind zwischen steigenden Energiekosten und einer schwächelnden Industrienachfrage gefangen. Ohne eine strukturelle Lösung für diesen doppelten Druck ist die gesamte industrielle Zukunft des Kontinents gefährdet.

Energie ist die Grundlage jeder wirtschaftlichen Aktivität. Sie lässt Züge fahren, heizt Wohnungen und treibt die Maschinen an, die die Güter herstellen, die wir jeden Tag benutzen. Ohne ausreichende und erschwingliche Energie ist ein industrieller Aufschwung nicht möglich. Doch heute ist Europa in einer problematischen Abhängigkeit: ehemals russisches Gas, heute amerikanisches Flüssiggas. Eine kostspielige Abhängigkeit: Energie ist in Europa zwei- bis viermal so teuer wie in den USA oder China, die Versorgung ist instabil und grundsätzlich nicht mit den Erfordernissen des Klimaschutzes vereinbar.

Um aus dieser Abhängigkeit von teuren und umweltschädlichen fossilen Energieträgern herauszukommen, sind massive Investitionen in erneuerbare Energien erforderlich. Zum Erreichen der Ziele für erneuerbare Energien müssten nach Schätzungen der Europäischen Union bis 2030 jährlich mehr als 570 Milliarden Euro für Investitionen mobilisiert werden, im darauffolgenden Jahrzehnt sogar 690 Milliarden Euro pro Jahr. Diese riesigen Summen müssen sowohl die Erzeugung erneuerbarer Energien als auch die Infrastruktur für Transport und Speicherung sowie den Umbau der Netze finanzieren. Derzeit erreichen die Investitionen jedoch nur etwas mehr als die Hälfte dieses Niveaus.

Warum klaffen Bedarf und Wirklichkeit so weit auseinander? Laut dem Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Universität Uppsala, Brett Christophers, ist der kapitalistische Markt nicht in der Lage, auf diese Herausforderung zu reagieren. In seinem Buch The Price is Wrong. Why Capitalism Won't Save the Planet zeigt er auf, dass die kurzfristigen Gewinnaussichten bei erneuerbaren Energien zu gering und unsicher sind, um privates Kapital in der erforderlichen Höhe anzuziehen. Doch die Pläne der Europäischen Kommission beharren trotzdem weiter auf diesem Weg: Die Strategie bleibt konzentriert auf den Markt und das Wohlwollen der großen multinationalen Energiekonzerne.

»Eine starke Industrie ist ohne bezahlbare, grüne und verlässliche Energie nicht denkbar.«

Auch die großen, energieintensiven Industrieunternehmen zeigen sich skeptisch gegenüber den Plänen der Kommission. Aditya Mittal, CEO von ArcelorMittal, betont, wie schwierig es wegen der Energiekosten ist, Dekarbonisierungsprojekte in Europa umzusetzen: »Es bleibt entscheidend, die hohen Energiekosten anzugehen, die es der Industrie sehr schwer machen, Fortschritte bei großen Dekarbonisierungsprojekten zu erzielen.« Wouter Remeysen, CEO von BASF Antwerpen und Vorsitzender des Chemieverbands Essenscia, beklagt: »Wir treten beim größten Knackpunkt für die Industrie auf der Stelle: bei den Energiekosten. Abgesehen von gemeinsamen Einkäufen lese ich nicht viel Konkretes darüber.« Auch wenn ihr Ziel offensichtlich darin besteht, den Druck zu erhöhen, um mehr staatliche Beihilfen und Subventionen zur Steigerung ihrer Profite zu erhalten, ist das Energieproblem, das sie aufwerfen, dennoch real – und die von der Kommission vorgeschlagenen Lösungen sind bei weitem nicht ausreichend.

Zum Vergleich: China hat bis 2023 mehr in erneuerbare Energien investiert als die USA und die Europäische Union zusammen. Und 2023 ist keine Ausnahme: Über die letzten zehn Jahre hinweg hat China durchweg mehr investiert als sie. »China ist in der Vergangenheit und noch heute weltweit führend bei Investitionen in Solar- und Windenergie – sowohl bei Solar- und Windkraftwerken, die Strom auf erneuerbare Weise erzeugen, als auch bei Turbinen- und Zelltechnologien«, erklärt Brett Christophers. Diese Resultate sind »so weit von marktgesteuerten Entwicklungen entfernt, wie man es sich nur vorstellen kann. Es geht hier nicht um den Privatsektor, der Investitionsmöglichkeiten sieht, sie nach Rentabilitätsaussichten bewertet und entsprechend entscheidet: investieren oder nicht? Es ist der Staat, der alle notwendigen, ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen mobilisiert, um sicherzustellen, dass er seinen Verpflichtungen nachkommt«, fährt der Professor an der Universität Uppsala fort.

Diese energiepolitische Herausforderung zu bewältigen, ist eine Grundvoraussetzung für die Wiederbelebung unserer Industrie, die Verringerung unserer Energieabhängigkeit und die Einhaltung unserer Klima-Abkommen. Investitionen in die Energieinfrastruktur würden unserer Industrie ebenfalls große Chancen eröffnen. Die Energiewende – vom Aufbau der Kapazitäten für die Erzeugung erneuerbarer Energie bis zur Speicherung von Energie, über Verkehrsinfrastruktur und, nicht zu vergessen, alles, was die Gebäude-Isolierung betrifft – erfordert riesige Mengen an Materialien, Komponenten und Technologien, wodurch sich beachtliche Perspektiven für Stahl, Chemie und das gesamte industrielle Gefüge eröffnen.

Die Bewältigung dieser energiepolitischen Herausforderung ist eine zentrale Voraussetzung für die Wiederbelebung unserer Industrie, die Verringerung unserer Abhängigkeit von Energieimporten und die Einhaltung unserer Klimaziele. Investitionen in die Energieinfrastruktur eröffnen zudem bedeutende Chancen für die industrielle Wertschöpfung. Die Energiewende – vom Ausbau erneuerbarer Erzeugungskapazitäten über Energiespeicherung und Verkehrsinfrastruktur bis hin zur energetischen Gebäudesanierung – erfordert enorme Mengen an Materialien, Komponenten und Technologien. Daraus ergeben sich vielversprechende Perspektiven für die Stahl- und Chemieindustrie sowie für das gesamte industrielle Gefüge.

Eine Studie des IWF, die auch europäische Länder einbezieht, zeigt, dass Investitionen in erneuerbare Energien einen hohen Multiplikatoreffekt haben: Eine Investition in Höhe von 1 Prozent des BIP führt in den Folgejahren zu einem Anstieg des Gesamt-BIP zwischen 1,11 Prozent und 1,54 Prozent und ist damit mehr als doppelt so hoch wie entsprechende Ausgaben für die Rüstung. Diese Effizienz ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass erneuerbare Energien mehr lokale Arbeitsplätze schaffen, die Binnenwirtschaft stärker ankurbeln und weniger von Importen abhängen. Das erfordert, sich vom Marktdogma zu lösen und den Energiesektor wieder in die eigene Hand zu nehmen, um massiv zu investieren. Aber jeder Euro, der für die Rüstungsindustrie bereitgestellt wird, ist ein Euro, der für diese lebenswichtigen Investitionen fehlt. Man wird auf Militärausgaben keine solide Industrie aufbauen können. Denn ein starker Kontinent braucht eine starke industrielle Basis – und eine starke Industrie ist ohne bezahlbare, grüne und verlässliche Energie nicht denkbar.

Ein Angriff auf  die arbeitende Klasse

Überall in Europa drehen die Regierungen die Geldhähne weit auf, um die Militärbudgets aufzublähen. In Belgien hat die sogenannte Arizona-Regierungskoalition im April in einer Vereinbarung beschlossen, den Militärhaushalt um weitere 4 Milliarden Euro pro Jahr zu erhöhen, um die von der NATO vorgegebene Norm von 2 Prozent des BIP zu erreichen. Was auffällt, ist die Leichtigkeit, mit der diese Milliarden plötzlich »gefunden« wurden, obwohl uns seit Jahren immer wieder gesagt wird, dass »der Haushalt knapp ist«, dass »kein Geld da ist« für Renten, Gesundheitsfürsorge, Bildung oder Wohnraum.

Und das ist nur der Anfang. Auf dem NATO-Gipfel wurde eine Erhöhung der Militärausgaben auf 5 Prozent des BIP beschlossen. Die Frage ist »nur«, wie schnell die militärischen Investitionen erfolgen sollen. Die riesigen Summen selbst werden nicht infrage gestellt.

»Die Gründe für die Krise der europäischen Industrie sind zu hohe Energiepreise, technologischer Rückstand, zu geringe Nachfrage und multinationale Konzerne, die sich weigern, in die Industrie der Zukunft zu investieren, um die Dividenden ihrer Aktionäre zu schützen.«

Wer wird für die Explosion dieser Budgets aufkommen? Für Mark Rutte, Generalsekretär der NATO, scheint die Antwort klar: »Im Durchschnitt geben die europäischen Länder bis zu einem Viertel ihres Nationaleinkommens für Renten, Gesundheit und soziale Sicherheit aus. Wir brauchen nur einen kleinen Teil dieses Geldes, um unsere Verteidigung erheblich zu stärken.« Der belgische Verteidigungsminister Theo Francken findet klare Worte, wenn er darlegt, wie er sich die künftige Gesellschaft vorstellt: »Jahrelang haben wir uns über die Amerikaner lustig gemacht, weil sie arm sind, weil sie süchtig sind, weil sie keine soziale Absicherung haben oder weil man beim Zahnarzt 1.000 Dollar bezahlen muss. Wir wollten dort nicht leben, weil sie ihr ganzes Geld für harte Sicherheit ausgaben. Natürlich ist es viel angenehmer, Geld für Renten, Arbeitslosenversicherungen und ein kubanisches Gesundheitssystem auszugeben, in dem man mit einer großen Tasche voller Medikamente für 13 Euro aus der Apotheke kommen kann. Aber wer hat am Ende recht?«

In Deutschland wird indessen darüber diskutiert, die Arbeitszeit in den von der Militarisierung betroffenen Sektoren zu erhöhen. Militarisierung ist die Entscheidung für eine brutale Gesellschaft – und sie ist ein sozialer Angriff auf die arbeitende Klasse. Indem sie die Angst vor einem Krieg instrumentalisiert, will die Regierung eine Schocktherapie durchsetzen, um soziale Sicherheit abzubauen und die arbeitende Klasse zu schwächen.

Ein Plan für die Zukunft

Die Gründe für die Krise der europäischen Industrie sind zu hohe Energiepreise, technologischer Rückstand, zu geringe Nachfrage und multinationale Konzerne, die sich weigern, in die Industrie der Zukunft zu investieren, um die Dividenden ihrer Aktionäre zu schützen. Die Deindustrialisierung ist bereits in vollem Gange. Wie wir gesehen haben, wird dieser Prozess nicht durch die Militarisierung der Wirtschaft aufgehalten.

In einem früheren Artikel haben wir bereits Folgendes dargelegt: »Seit mehreren Jahrzehnten hat die Europäische Union keine Industriepolitik zur Stärkung strategisch wichtiger Industriezweige betrieben. Stattdessen hat sie die industrielle Entwicklung in die Hände des Marktes gelegt. Mit der Lissabon-Strategie in den 2000er Jahren setzte die EU auf Wettbewerbsfähigkeit durch Freihandel, Deregulierung des Arbeitsmarktes und Privatisierung. Ab den 2010er Jahren lag der Fokus auf Sparmaßnahmen welche zu einem Jahrzehnt der Stagnation und zu geringen öffentlichen Investitionen führten. Europa ist zu einer untergehenden Macht geworden, die immer mehr hinter den USA zurückbleibt und mittlerweile von China überholt wurde.«

Heute manövriert uns die Europäische Kommission von einer Sackgasse in die nächste: Auf das Scheitern der Marktgläubigkeit folgt nun der Übergang in einen Kriegsmodus. Der Bruch mit dem russischen Gas, das durch das viel teurere amerikanische Fracking–Gas ersetzt wurde, hat die europäische Industrie in eine Krise gestürzt. Die Kriegssucht und die Flucht in die Militarisierung werden diese Situation nur noch weiter verschärfen. Mit den Plänen zur Militarisierung der Wirtschaft steigen die Börsenkurse von Rüstungsunternehmen wie Rheinmetall, Dassault, BAE Systems, Leonardo, Thales und Saab an den großen europäischen Börsen. Aber wie wir gesehen haben, machen Waffenhändler Profit auf Kosten der arbeitenden Klasse und opfern so die Entwicklung unserer Industrie.

»Es sind die Investitionen von heute, die die Welt bestimmen, in der wir morgen leben und die wir unseren Kindern hinterlassen.«

Die Militarisierung unserer Wirtschaft führt entweder zu Krieg oder zu einer Krise und in beiden Fällen zum Niedergang der Industrie. Eine Krise, weil es ohne Krieg keine dauerhaften Absatzmärkte geben wird. Einen Krieg, weil das dann die einzige Möglichkeit ist, die Krise der Branche abzuwenden. Und schließlich zum Niedergang unserer gesamten Industrie, denn die Militärausgaben gehen auf Kosten anderer für unsere Industrie strategisch wichtige Investitionen.

Es ist Zeit für einen Kurswechsel. Europa zu reindustrialisieren statt zu militarisieren, ist nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit. Solch eine Entscheidung geht weit über die industrielle Frage hinaus. Es ist eine gesellschaftliche Entscheidung. Wollen wir, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa Solarkollektoren, Windkraftanlagen, umweltfreundliche Wohnungen und das größte High-Speed-Schienennetz der Welt bauen? Oder wollen wir, dass sie Waffen produzieren, die zum Töten und Zerstören bestimmt sind? Will man öffentliche Gelder investieren, um das Klima zu retten, sinnvolle Arbeitsplätze zu schaffen, Zugang zur Gesundheitsversorgung und angemessene Renten zu gewährleisten? Oder will man es für den Kauf von Kampfjets und den Ausbau der Rüstungsindustrie, die nur in Kriegszeiten floriert, verschleudern?

Vor dieser grundlegenden Wahl stehen wir heute – und sie steht im radikalen Gegensatz zu dem, was uns die Europäische Kommission und die Regierung aufzwingen wollen. Es sind die Investitionen von heute, die die Welt bestimmen, in der wir morgen leben und die wir unseren Kindern hinterlassen.

Die europäische Industrie wird nicht durch die Logik der »Kriegswirtschaft« gerettet werden. Diese Strategie ist eine gefährliche Illusion: Sie würde die öffentlichen Finanzen ruinieren, nicht die Nachfrage ankurbeln, nicht unseren technologischen Rückstand und nicht den energiebedingten Wettbewerbsnachteil aufholen und das Risiko in Kauf nehmen, Europa in eine Spirale von Konflikten zu verstricken.

Umgekehrt kann eine langfristig angelegte Industriepolitik, die demokratisch mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geplant wird, eine wirksame Antwort auf die wirtschaftliche, soziale und ökologische Krisenlage sein. Dies ist der Weg, den wir einschlagen müssen, wenn wir eine Industrie wollen, die den Menschen dient und nicht Profitgier und Kriegstreiberei.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Lava.

Benjamin Pestieau ist stellvertretender Generalsekretär der PTB und Teil der Abteilung »Welt der Arbeit«.

Max Vancauwenberge ist aktiv in der PTB.