26. September 2023
Die Neue Alte Linke ist hin- und hergerissen zwischen Drogenkonsum und Abstinenz, Spontanität und Disziplin, Grundeinkommen und Planwirtschaft. Ihr jüngstes Trauma: Der Neoliberalismus stirbt – aber ohne ihr Zutun.
»Mark Fisher erkannte die Neue Linke als rationale Antwort auf die Versteinerung und ›Überstaatlichung‹ der Alten Linken.«
Illustration: Oleg BuyevskyDie Cover kamen in grellen, fluoreszierenden Farben – orange, gelb, rot, blau, türkis, aber auch pechschwarz. Oben standen die meist kurzen Titel, unten die Namen der Autorinnen und Autoren. Eine Gruppe von schwarz gekleideten Demonstrierenden, die Fahnen der anarchistischen Bewegung schwenkten, hatten sich 2010 mit diesen Objekten – überdimensionierten Papp-Nachbildungen von Büchern – gerüstet, um sich der ständigen Polizeipräsenz im Londoner Stadtzentrum entgegenzustellen.
Einen Monat zuvor hatten Studierende, die in Italien gegen Silvio Berlusconis Bildungsreformen protestierten, das Konzept »Book Block« erfunden. Damals füllten sich die Straßen Roms mit Werken wie Platons Republik, Tausend Plateaus von Deleuze und Guattari, aber auch Melvilles Moby Dick, Cervantes’ Don Quijote, Petronius’ Satyricon oder Luther Blissetts Q.
Der spätere »Book Block« in London war eine Reaktion darauf, dass die konservativ-liberale britische Regierung harte Kürzungen für den Bildungssektor und eine Erhöhung der Studiengebühren angekündigt hatte. Auch hier war das Spektrum der Autorinnen und Autoren breit gefächert. Zu sehen waren Rachel Carsons Der stumme Frühling, Herbert Marcuses Der eindimensionale Mensch, Theodor W. Adornos Negative Dialektik und Ivan Illichs Entschulung der Gesellschaft – allesamt Klassiker der Gegenkultur.
Neben diesem Kanon der Neuen Linken der 1960er und 70er Jahre waren auch einige neuere Anschaffungen darunter, von denen Mark Fishers Kapitalistischer Realismus ohne Alternative eine der auffälligsten war. Das 2009 erschienene Buch wurde von der Kritik gelobt und gut verkauft und ist schon jetzt ein Klassiker der Studierendenbewegung von 2010.
Irgendwo zwischen einer dadaistischen Performance und einer Guerilla-Offensive angesiedelt, bildete der Book-Block-Protest, der Fishers Essay mit sich führte, eine Momentaufnahme einer spezifisch neuen Linken, der Millennial Left: akademisch, intellektuell, theorieinteressiert, aber immer noch offen kämpferisch. Sie glaubte an transformativen Wandel und den Aufbau von Institutionen – ganz im Gegensatz sowohl zu der subironischen Sensibilität, die die frühere Gen-Z-Kohorte plagte, als auch zum ostentativen Konformismus der Babyboomer.
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Anton Jäger ist Ideenhistoriker und Autor des Buches »Hyperpolitik: Extreme Politisierung ohne politische Folgen« (Suhrkamp 2023).