24. Oktober 2024
Liberale Politiker und Ökonomen warnen davor, dass eine Erhöhung des Mindestlohns zu einem massiven Abbau von Arbeitsplätzen führen würde. Diese Behauptung ist völlig aus der Luft gegriffen.
Beschäftigte in Niedriglohnbranchen wie dem Einzelhandel würden von einer Mindestlohnerhöhung besonders profitieren.
Die Massenarbeitslosigkeit droht! Der Mindestlohn wird Millionen Jobs vernichten! Das klingt erst einmal nach altbekannter Propaganda, die schon seit Jahren von der Wirklichkeit widerlegt wurde - ist aber tatsächlich das Ergebnis einer brandneuen Studie der Bundesagentur für Arbeit.
Aber der Reihe nach: Die letzte substanzielle Erhöhung des Mindestlohns gab es 2022. Damals beschloss die Ampel-Koalition einen Mindestlohn von 12 Euro die Stunde und umging damit den üblichen Weg über die Mindestlohn-Kommission. Von dieser Erhöhung waren knapp 20 Prozent der Betriebe direkt betroffen, heißt: Sie zahlten ihren am schlechtesten entlohnten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bis dahin weniger als 12 Euro.
Zuvor hatte der Mindestlohn 10,45 Euro betragen. Die Erhöhung auf 12 Euro war also substanziell, aber keineswegs dazu angetan, Armut zu verhindern. Schon 2018 hatte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf Anfrage der Linksfraktion ausgerechnet, dass ein Mindestlohn von 12,63 Euro notwendig wäre, um eine armutsfeste Rente zu bekommen. Das ist sechs Jahre und eine ordentliche Inflation her - und dennoch liegt der Mindestlohn immer noch darunter. Dementsprechend gab es auch keine Beschäftigungseffekte. Soll heißen: Die Erhöhung des Mindestlohns sorgte nicht für Arbeitslosigkeit, auch wenn viele neoliberale Ökonomen und Politikerinnen das zuvor prognostiziert hatten.
Dieses Muster können wir seit Jahren beobachten: Wann immer es eine Verbesserung in der Lohnpolitik geben soll, erklären Deutschlands Top-Ökonomen, dass die große Entlassungswelle kurz bevorstehe. Schon vor der Einführung des Mindestlohns warnte Deutschlands prominentester Ökonom Hans-Werner Sinn mit Horror-Szenarien vor 1,1 Millionen Arbeitslosen, die durch einen einheitlichen Mindestlohn geschaffen werden könnten. 2010 schrieb er in der Süddeutschen Zeitung: »Wird ein einheitlicher Mindestlohn eingeführt, der zumindest in einigen Segmenten des Arbeitsmarktes über dem Marktlohn liegt, so verringert sich die Menge der Stellen, die rentabel bewirtschaftet werden kann. Ein Teil der Menschen, die man schützen will, wird deshalb in die Arbeitslosigkeit getrieben.«
Heute wissen wir, dass nichts dergleichen passierte. Dennoch kommen jedes Mal, wenn ein höherer Mindestlohn gefordert wird, bürgerliche Ökonominnen und Politiker und behaupten: Dieses Mal wird es aber wirklich Massenarbeitslosigkeit geben!
»Allein das ist ein Armutszeugnis im wortwörtlichen Sinne: 58 Prozent der Betriebe zahlen ihren untersten Lohngruppen weniger als 14,41 Euro.«
Auftritt: Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, kurz IAB. Dabei handelt es sich um ein Forschungszentrum, das der Bundesagentur für Arbeit angegliedert ist. Und dieses IAB hat kürzlich deutsche Betriebe danach gefragt, ob sie von den Mindestlohnerhöhungen in den vergangenen Jahren betroffen waren, und wie sie mit weiteren Erhöhungen umgehen würden. Von den letzten Erhöhungen waren demzufolge knapp 30 Prozent direkt oder indirekt betroffen. Sollte der Mindestlohn nun auf knapp 14 Euro erhöht werden, wie es dem Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil vorschwebt, wären sogar 58 Prozent der Betriebe betroffen.
Allein das ist ein Armutszeugnis im wortwörtlichen Sinne: 58 Prozent der Betriebe zahlen ihren untersten Lohngruppen weniger als 14,41 Euro. Für den bürgerlichen Sachverstand ist das aber kein Grund, diese Armut anzuprangern. Vielmehr geht nun die Angst um, dass diese armen, armen Betriebe sich diese Lohnerhöhung nicht mehr leisten könnten. Und verrückte Welt: Ein Drittel der betroffenen Betriebe rechnet laut der neuesten Studie tatsächlich mit einer Abnahme der Beschäftigung. Mal ehrlich: Was sollen diese Betriebe auch anderes sagen? Wäre ich ein Unternehmer, der seine Beschäftigten mit einem Hungerlohn abspeist, dann würde ich ja wohl kaum antworten: Kein Problem, wir erhöhen die Löhne gerne! Das ist in etwa so aussagekräftig, als würde man die Shell- und Aral-Chefs danach fragen, was sie von Windkraft halten.
Dennoch dürfen wir uns nun von der bürgerlichen Presse erklären lassen, dass dieses Mal die große Massenarbeitslosigkeit bestimmt kommt. Diese Berichterstattung ist zwar Unsinn, aber immer noch deutlich bequemer als die Beantwortung der Frage, warum eigentlich so viele nicht von ihrem Lohn leben können. Und wenn diese Journalistinnen und Journalisten ihr Ziel erreichen und die Mindestlohnerhöhung hintertreiben sollten, dann werden sie bereitstehen, um den armutsbetroffenen Aufstockern vorzurechnen, wie sehr sie der Gesellschaft auf der Tasche liegen. Die vierte Gewalt bei der Arbeit!
Ole Nymoen betreibt den Wirtschaftspodcast Wohlstand für Alle und ist Kolumnist bei JACOBIN.