06. Januar 2021
Seit Beginn der Corona-Krise wird mit Meditations-Apps großes Geschäft gemacht. Praktiken für mehr Achtsamkeit können Stress zwar kurzfristig lindern – die gesellschaftlichen Ursachen dafür lassen sie aber unberührt.
Die Achtsamkeitsindustrie boomt in Zeiten der Pandemie.
»Du bist der Hammer! Hör endlich auf, an Deiner Großartigkeit zu zweifeln und beginn’ ein fantastisches Leben«. Geht es nach spirituellen Ratgebern mit Titeln wie diesem, ist es mit Mindfulness – also Achtsamkeit –, Meditation und esoterischem Coaching ganz einfach, glücklich zu sein. Gerade während der Corona-Krise und im Lockdown klingt die Aussicht auf Gelassenheit und innerer Ruhe verlockend. Denn alles was man dazu braucht, ist sich selbst.
Es ist daher kein Wunder, dass die Nachfrage nach Meditations- und Mindfulness-Apps in den vergangenen Monaten rasant gestiegen ist. Seit Mitte letzten Jahres bemühen sich auch immer mehr deutsche Firmen und Universitäten um Kooperationen mit der Achtsamkeits-Industrie. Hier beschleunigt sich ein seit Jahren anhaltender Trend: Spiritualität, wachsendes esoterisches Bewusstsein und Meditation scheinen die neuen Allheilmittel gegen den Kapitalismus-Blues zu werden.
Ein Blick in die Szene offenbart einen kuriosen Mix aus Praktiken, die sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben: Coaching, Esoterik, Selbstoptimierung, Meditation und Mindfulness-Training – mal spirituell oder religiös, mal gänzlich säkularisiert ohne jeglichen Glauben an eine kosmische Kraft.
Obwohl diese Sparte der Wohlfühlindustrie im Kontext des Wellness-Hypes noch in den Kinderschuhen steckt, ist sie bereits milliardenschwer – und soll noch um ein Vielfaches wachsen. Wenn man seine Zufriedenheit in Zeiten des Klimawandels, globaler Pandemien und wachsender sozialer Ungleichheiten im gesellschaftlichen Äußeren nicht findet, erscheint es verheißungsvoll sie im individuellen Inneren zu suchen.
Achtsamkeit und Spiritualität sind heute ein Milliarden-Dollar-Geschäft – allen voran Meditations- und Mindfulness-Apps. Alleine in den vergangenen fünf Jahren wurden rund 2500 neue Apps für Meditationen auf den Markt geschwemmt. Darunter: The Mindfulness App, Breethe, Waking Up, Inscape, Meditopia und – selbstverständlich – Buddhify. Der Wert der zwei größten, Headspace und Calm, wird insgesamt auf deutlich mehr als 1 Milliarde US-Dollar geschätzt und der Gesamtgewinn der zehn erfolgreichsten Apps wuchs innerhalb eines Jahres um 50 Prozent und belief sich 2019 auf knapp 200 Millionen US-Dollar. Schätzungen zufolge soll der Umsatz des »Global Mindfulness Meditation Application Market« bis zum Jahr 2027 auf über 4 Milliarden US-Dollar steigen.
Die Anzahl der Nutzer der App Headspace, eine der ersten Meditations-Apps, stieg zwischen 2016 und 2020 von 6 Millionen auf mehr als 65 Millionen. Mittlerweile nutzen Menschen in über 190 Ländern Headspace. Co-Gründer und Stimme der englischen Version der heute zweiterfolgreichsten Mindfulness-App ist Andy Puddicombe, der »Jamie Oliver der Meditation«, wie ihn die New York Times nannte. Er ist Brite, ehemaliger Mönch und mittlerweile Autor mehrerer Bücher – darunter Mach mal Platz im Kopf, Meditier dich schlank und Mindful Pregnancy (Achtsame Schwangerschaft). Neben dem Sportartikelhersteller Nike – Stressabbau beim meditativen »Mindful Running« – kooperiert seit kurzem auch der Streaminganbieter Netflix mit Headspace. Unter dem Motto »Binge-Watching und Achtsamkeitsübungen? Ja, das geht« frönen die Unternehmen dem Exzess des virtuellen Eskapismus.
In einem Interview erklärte Renate Nyborg, ehemals Managerin der Europa-Sektion bei Headspace, worin genau die riesigen Wachstumspotenziale der Branche lägen: Psychische Beschwerden wie Burnout oder Depressionen von arbeitenden Menschen würden alleine in Deutschland ganze 150 Milliarden Euro Verluste beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) ausmachen. Dementsprechend hat die Unternehmensnachfrage alleine nach der App Headspace seit Beginn der Corona-Krise um mehr als 500 Prozent zugenommen.
Neben den Mindfulness-Pionieren wie Apple und Google, werden Achtsamkeitsseminare nun auch von Bosch, BASF oder SAP angeboten. Der Softwarekonzern SAP soll durch eine Kooperation mit Googles »Search Inside Yourself Institute« – welches Achtsamkeits- und Meditationskurse für Organisationen in mittlerweile über dreißig Ländern anbietet –, eine Kapitalrendite von bis zu 200 Prozent erreicht haben.
Die wachsende Achtsamkeitsindustrie korreliert zumindest mit einem ebenfalls zunehmenden esoterischen oder spirituellen Bewusstsein. Während Meditations- und Mindfulness-Übungen im Unternehmenskontext meist nur auf die Erhöhung der Produktivität zielen, haben die Praktiken im Privaten bisweilen auch einen gewissen esoterisch-religiösen Unterton.
Neben den Apps bietet der Markt ein noch vielfältigeres Repertoire an Waren zur inneren Krisenbewältigung oder zur Sinnsuche an. Der Umsatz der deutschen Esoterikbranche, worunter auch spirituelle Ratgeber fallen, wird auf rund 20 bis 25 Milliarden Euro geschätzt – genaue Angaben gibt es nicht, da die Branche keinen offiziellen Verband hat. Zum Vergleich: Der Umsatz des deutschen Buchmarktes liegt jährlich bei rund 9 Milliarden Euro (etwa 15 Prozent davon entfallen auf esoterische Ratgeber) und der aller deutschen Brauereien bei rund 8 Milliarden Euro. Neben einer beinahe endlosen Reihe an Literatur zur Lebenshilfe wird vor allem spirituelles Coaching immer gefragter.
Eine der erfolgreichsten spirituellen Influencerinnen Deutschlands ist Laura Malina Seiler. Die selbsternannte »Visionärin« hat rund 400.000 Follower in den Sozialen Medien, ihr Podcast »happy, holy & confident« rangiert regelmäßig in den Top 10 der Podcast-Charts und ihr spiritueller Erfolgsratgeber Schön, dass es dich gibt schaffte es auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Vor der COVID-19-Pandemie machte die ehemalige PR-Team-Mitarbeiterin des Rappers Bushido noch Shows in der Münchner Olympiahalle vor tausenden von Zuschauerinnen und Zuschauern.
Seiler – die selbst »seit drei Jahren keinen Urlaub mehr« machte – ist dazu noch Gründerin der »Rise Up & Shine Uni«, ein 10-wöchiger Online-Coaching-Kurs, der nicht weniger als ein »Soul-Update« verspricht. Und wie so oft bei spirituellen Gemeinschaften, kommt man auch hier an einem gewissen Personenkult nicht vorbei. In dem Podcast von Seiler gibt es eine wiederkehrende Q&A-Runde, mit dem Titel »Was würde Laura tun?« – der Kompass und die Handlungsweise des eigenen Lebens werden nach einer quasi-religiösen Leitfigur ausgerichtet.
Laura Malina Seiler personifiziert bei alledem die zentrale Botschaft der gesamten Mindfulness-, Meditations- und Wohlfühlindustrie: Ganz alleine Du bist für Dein Glück verantwortlich.
Die Kommerzialisierung buddhistischer Meditationspraktiken und östlicher Spiritualität ist in gewissem Sinne nur der logische nächste Schritt in der allgemeinen und mittlerweile tief verankerten Fitness- und Wellness-Euphorie, die seit einigen Jahrzehnten in westlichen Gesellschaften Einzug hält. Die Kommerzialisierung verwundert nicht – ist aber auf zweifache Weise problematisch. Zum einen werden Stress und Unzufriedenheit depolitisiert, zum anderen wird das Problem – wieder einmal – individualisiert.
Die westlichen Wohlfühlindustrien haben vor allem eines gemeinsam: Sie sind radikal apolitisch. Stress, Burnouts, Depressionen und Gefühle der Leere werden routiniert aus dem politischen Diskurs gekehrt. Kollektive Probleme werden auf die persönliche Ebene verlagert und bei der Suche nach den Ursachen wird nur selten über den Tellerrand des Individuums hinausgeblickt. Gemäß des neoliberalen Mantras wird die Schuld an jeglicher Misere bei (oder in) einem selbst gesucht. Viele spirituelle Coaches wie Laura Malina Seiler raten beispielsweise sogar davon ab, Nachrichten zu schauen, um sich den negativen Energien und Gedanken nicht auszusetzen. Die Lösung und das Problem findet man ja schließlich, so die These, in sich selbst.
Denn anstatt die Quelle für Stress und Burnouts außerhalb unserer Köpfe im kapitalistischen System selbst auszumachen, zielen Meditations- und Achtsamkeitsseminare – allen voran im unternehmerischen Kontext – auf Schadensbegrenzung. Dass die Erosion des Sozialen sowie mentale Krankheiten auch in Verbindung mit dem neoliberalen Fundamentalismus der vergangenen fünfzig Jahre stehen könnte, wird außer Acht gelassen. Stattdessen verkauft die Wohlfühlindustrie eine Phantasmagorie des Selbstmanagements.
Achtsamkeitsübungen – die ohne jeden Zweifel auch eine positive Wirkung auf das persönliche Wohlbefinden haben können – sind in der derzeitigen westlichen Ausprägung in erster Linie ein weiteres Pflaster für die am kapitalistischen System erkrankten Menschen. Burnouts, Depressionen und Stress gelten nicht umsonst als die Leiden der Industriegesellschaften.
Der praktizierende Zen-Buddhist und Management-Professor Ronald Purser erklärt in Bezug auf den westlichen Mindfulness-Hype, dass »Meditationen« in dem Umfang, in dem sie in Unternehmenskontexten und auch bei den meisten Apps angeboten werden – also ohne den entsprechenden ethischen und philosophischen Impetus –, nichts weiter als Konzentrationsübungen und Stressmanagement seien. Während das Ziel der buddhistischen Meditation die Befreiung des Selbst und Mitgefühl für alle anderen Lebewesen sei, strebt die kommodifizierte Achtsamkeit eher die Optimierung des Selbst oder die Kaschierung von Problemen an. Man droht abzustumpfen gegen Repressalien auf der Arbeit, ungerechte Löhne oder Mieterhöhungen und zieht sich in sich selbst zurück.
Für den Philosophen Slavoj Žižek ist der westliche Buddhismus als höchst individualisierte Form der Spiritualität lediglich die perfekte ideologische Ergänzung zum Kapitalismus. Žižek zufolge distanziert sich der meditierende Westmensch von dem verrückten Treiben des Kapitalismus. Das erlaube es den Praktizierenden, sich besser abzuschotten – dabei blieben die Ursachen für die Probleme intakt und die nötigen sozio-ökonomische Umwälzungen aus.
Die tägliche Meditationsübung hilft vielleicht bei Prüfungsangst und bei arbeitsbedingter Stressbewältigung – den Corona-Studienkredit muss man letzten Endes aber trotzdem aufnehmen, das Lernpensum bleibt immer noch zu hoch und die Beschäftigung wird nicht weniger prekär.
Einen der Grundsteine für die heute florierende Wohlfühlindustrie um Mindfulness, Meditation und Esoterik hat die neoliberale Revolution der 1970er Jahre und ihr Leitspruch »There is no such thing as society« gelegt. Doch wie schon Karl Marx feststellte, kann das Individuum nur als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse begriffen werden. Die Einzelne kann ohne die Gesellschaft genau so wenig existieren, wie die Gesellschaft ohne die Einzelnen. Während die Gegenkultur um die Hippie-Bewegung in den 1960er Jahren letzten Endes nur ein kurzes Aufflammen jener marxistischen Einsicht war, wuchs die in ihr wurzelnde westliche Bewegung um Esoterik, Spiritualität und Achtsamkeit im Rahmen eines neoliberalen, zunehmend säkularisierten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells zu ihrer heutigen Form.
Doch auch wenn die Meditation im Unternehmen im Kern nichts anderes ist, als ein Mittel zur Erhöhung der Produktivität, spiegelt die steigende private Nachfrage nach spirituellen Lebensratgebern und Mindfulness in erster Linie eines wider: Die Menschen sind unzufrieden damit, wie es gerade läuft. Ob im eigenen Leben oder in der Gesellschaft im Allgemeinen. Die steigende Nachfrage nach Achtsamkeitskursen, spirituellem Coaching und einem glücklicheren Leben ist zumindest ein erstes, kleines Anzeichen des Bedürfnisses nach einem anderen Gesellschaftsentwurf.
Praktiziert mit dem Bewusstsein um gesellschaftliche Missstände können kollektive Achtsamkeit und ein solidarisches Verhalten untereinander weitreichende Kreise ziehen. Auch buddhistische Meditations- und Achtsamkeitsübungen können mit dem entsprechenden ethischen Impuls subversive, tatsächlich revolutionäre Potentiale haben – so griffen beispielsweise die buddhistischen Mönche Tibets zur radikalsten Form des Protests für Freiheit. Das Ziel sollte eine Gesellschaft sein, in der Menschen nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf die Gemeinschaft achten. Mindfulness im Großen, nicht nur im Kleinen.
In der Einleitung des letzten, vor seinem Tod nicht fertiggestellten Buches Acid Kommunismus plädiert Mark Fisher für ein neues »Entvergessen« der Werte der Gegenkultur der 1960er Jahre und argumentiert für »[e]ine neue Menschlichkeit, ein neues Sehen, ein neues Denken, ein neues Lieben«. Dabei hofft Fisher in den 1960ern ein Bewusstsein zu finden, mit dem die gesellschaftlichen Verwerfungen des Neoliberalismus überwunden werden können.
Sinnhaftigkeit (gerade im eigenen Beruf) wird vor allem den jungen Generationen immer wichtiger. Die Unzufriedenheit der Menschen und ihre mentalen Bedürfnisse müssen ernst genommen werden – man darf sie nicht bloß weglächeln. Doch ein »ändere Dich selbst, dann änderst du die Welt« ist dabei zu einfach – es geht nur beides gleichzeitig.