28. Juni 2023
Wie viel Planung, wie viel Markt und wie viel zivilgesellschaftliche Initiative braucht eine zukünftige sozialistische Gesellschaft? Der Ökonom Dieter Klein erklärt im JACOBIN-Interview, warum wir diese Fragen nicht vertagen dürfen.
Bauarbeiten an einem neuen Bahnhof in der chinesischen Hochtechnologieregion Greater Bay Area.
IMAGO / VCGLange Zeit schreckte die sozialistische Linke vor konkreten Gesellschaftsentwürfen zurück und konzentrierte sich auf den Kampf gegen die herrschende Ordnung. Der Ökonom Dieter Klein ist der Ansicht, dass sich dieser Ansatz überholt hat: Es braucht schon heute Antworten darauf, wie eine zukünftige Gesellschaft organisiert sein könnte.
Klein setzte sich bereits vor 1989 in der DDR für alternative Entwicklungswege ein. Über viele Jahre prägte er die Arbeit an sozialistischen Alternativen in Deutschland und war entscheidend am Aufbau der Rosa-Luxemburg-Stiftung beteiligt. In seinem neuen Buch Regulation in einer solidarischen Gesellschaft zieht er Lehren aus dem Scheitern des Staatssozialismus sowie aus Transformationsprojekten in aller Welt und entwirft Leitlinien für die politische Ökonomie eines postkapitalistischen Gemeinwesens.
JACOBIN sprach mit ihm über die Notwendigkeit, die Grundzüge einer zukünftigen Gesellschaft bereits heute zu umreißen.
Für Ihr Buch ist der Begriff der »Regulation« oder der »gesellschaftlichen Regulationsweise« zentral. Könnten Sie erläutern, warum Sie ihn gewählt haben? Was ist der Unterschied zu einem engeren Blick auf »Wirtschaftspolitik«?
Ich möchte mit der Verwendung des Begriffs »Regulationsweise« verhindern, dass wir Fragen von gesellschaftlicher Strategie auf das Wirtschaftssystem verengen. Wir müssen uns klarmachen: Wirtschaftspolitik muss in Überlegungen darüber eingebettet werden, wohin sich die Gesellschaft eigentlich entwickeln soll. Die gegenwärtige Gesellschaft ist ja in vielerlei Hinsicht dadurch charakterisiert, dass sie in die Wirtschaft eingebettet werden soll – dabei müssen wir das Gegenteil anstreben: Die Wirtschaft muss sich gesellschaftlichen Zielen unterordnen.
Wir brauchen eine Vorstellung darüber, wohin die Reise überhaupt gehen soll, und müssen dann daraus ableiten, welche Aufgaben die Wirtschaft und die Wirtschaftspolitik in diesem Prozess einnehmen sollte.
In Teilen der Linken galt lange das »Bilderverbot«: Eine kommende Gesellschaft dürfe man nicht im Detail entwerfen, das sei eine postrevolutionäre Aufgabe. Ihr Buch bricht mit diesem Verbot. Warum?
Auch Marx und Engels hatten ja diese Vorstellung: Man muss sich zurückhalten bei der Beschreibung einer künftigen Gesellschaft. Zuerst müsse ein Bruch mit der gegenwärtigen vollzogen werden, dann werde man schon weitersehen. Diese Ansicht hat einen rationalen Kern: Wir sollten uns in der Tat davor hüten, ein detailliertes Bild oder einen allumfassenden Konstruktionsplan einer zukünftigen Gesellschaft vorzuzeichnen.
Unter den Sprüchen Salomos, 29:18, heißt es aber: »Ein Volk ohne Vision wird wüst und leer.« Man muss sich schon eine Vorstellung darüber machen, was man eigentlich will. Menschen brauchen, wenn es um große und schwierige Fragen geht, eine Vision, um sich überhaupt in Bewegung zu setzen. Das Ziel bestimmt eben in hohem Maß den Weg.
Beim Kampf gegen den Klimawandel muss man etwa wissen, zu welchem Zeitpunkt man welches Ziel erreichen will – beispielsweise bis wann die CO2-Emissionen um welchen Betrag reduziert werden sollen – um daraus abzuleiten, was gegenwärtig eigentlich zu tun ist.
Wir können heute nicht mehr einfach abwarten, was die Zukunft bringt. Die Probleme sind zu drängend, wir haben keine Zeit, zu warten, bis die künftige Gesellschaft sich irgendwie aussucht, wohin sie sich entwickeln möchte.
Sie identifizieren drei Komponenten der Regulationsweise einer zukünftigen demokratisch-sozialistischen Gesellschaft: gesellschaftliche Planung, einen »eingehegten« Markt sowie das Handeln zivilgesellschaftlicher Akteure. Könnten Sie erläutern, welche Rolle sie jeweils spielen und was sie unverzichtbar macht?
Diese Sichtweise auf ein »Dreieck der Regulation« ist überhaupt nicht selbstverständlich. Auch im linken Diskurs gibt es ja eine gewisse Distanz zur Idee der Planung, die oft mit einem Übermaß an staatlicher Macht gleichgesetzt wird.
Wieder andere auf der Linken verweisen auf die ökologische und soziale Blindheit des Markts und wollen ihn daher abschaffen. Einige plädieren für ein System von Räten, das den Markt nicht brauche, ebenso wenig wie zentrale Planung: Die Leute sollen sich eben direkt darüber verständigen, was notwendig ist.
»Gebändigte Märkte sind notwendig, um die Zentrale nicht zu überlasten und um die Gefahr einer übermächtigen Administration abzuwenden.«
Warum also diese drei Komponenten? Die Vorstellung, man könne ganz auf gesamtgesellschaftliche Planung verzichten, wurde von neoliberaler Seite sehr aggressiv vertreten. Gesamtgesellschaftliche Planung und Lenkung wird mit dem erwiesenermaßen nicht funktionierenden Staatssozialismus identifiziert.
Die Interessen der Individuen, der kollektiven Wirtschaftsakteure, der Regionen, führen ja nicht unvermittelt zu dem, was man Gemeinwohl nennen könnte, sondern es gibt unzählige Einzelfälle und millionenfache Interessen. Es gibt ja auch bei Marx und Engels die Vorstellung, die Leute leisteten unmittelbar gesellschaftlich notwendige Arbeit, und sie wüssten ja, was notwendig ist. Doch diese Annahme steht zunehmend in Frage.
Was hat sich seither verändert?
Heute ist die Gesellschaft so hochkomplex, dass sie wissenschaftlicher Untersuchungen dessen bedarf, was sie in Zukunft gefährdet und welche Chancen sie in Zukunft ergreifen könnte. Sie braucht also wissenschaftliche Begründungen von möglichen Zielsetzungen. Sie muss sich entscheiden, welchen Ressourcenaufwand sie für welche Zwecke verwendet, also für soziale Infrastruktur, materielle Infrastruktur, die Produktion, die Solidarität mit dem Globalen Süden, den individuellen Konsum und so weiter. Das ergibt sich alles nicht aus Einzelentscheidungen.
Man muss sich natürlich davor hüten, dass Planung, so wie im Staatssozialismus, in zentralistische Bevormundung mündet, die die Initiative von Unternehmen unterdrückt und damit letztlich auch die Innovationskraft der Gesellschaft. In der DDR wurden zum Beispiel 50 Prozent der Gesamtproduktion zentralistisch gelenkt, 60 Prozent des Exports und 45 Prozent der Konsumtion der Bevölkerung. Daraus resultierte eine hochgradige Unbeweglichkeit und schließlich auch die Implosion der Wirtschaft.
Wie können wir verhindern, dass sich dies wiederholt?
An dieser Stelle kommt die Demokratisierung der ganzen Gesellschaft, aber eben auch der Markt ins Spiel. Wir können uns nicht ganz von ihm verabschieden, weil er über Preise das Verhältnis von Angebot und Nachfrage zu signalisieren vermag. Wir müssen uns aber immer mit der Gefahr seiner ökologischen, politischen und sozialen Blindheit auseinandersetzen. Er muss reguliert, begrenzt und durch Ge- und Verbote in bestimmte Bahnen gelenkt werden. Gebändigte Märkte sind notwendig, um die Zentrale nicht zu überlasten und um die Gefahr einer übermächtigen Administration, des Bürokratismus und der zentralistischen Diktatur abzuwenden.
Aber Staat und Markt alleine reichen nicht aus?
Die Märkte zu regulieren und die gesamtgesellschaftliche Planung nicht auf die Diktatur einer Staatsspitze zu beschränken, erfordert eine außerordentlich aktive Zivilgesellschaft. Erik Olin Wright hebt zurecht die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure, also Gewerkschaften, sozialer Bewegungen und Bürgerinitiativen jeglicher Art hervor.
Sie haben auf dreierlei Ebenen Einfluss auf die Regulation. Erstens: Sie wirken auf die zentrale Planung und Lenkung über Bürgerbefragungen, Volksentscheide, Parlamente und wahrscheinlich künftig durch Nachhaltigkeitsräte auf allen Ebenen der Gesellschaft ein, also über Druck der Bürgerinnen und Bürger von unten auf den Staat. Zweitens: Die Zivilgesellschaft übt ihren Einfluss durch Mitbestimmung in den Unternehmen aus, die allerdings über ihre gegenwärtige Begrenztheit hinaus auszuweiten wäre. Drittens: Sie erfüllt eine Regulierungsfunktion, indem sie in den Nischen des Kapitalismus solidarische Unternehmens- und Wirtschaftsformen, Genossenschaften, Tauschringe und dergleichen etabliert.
»Pharmakonzerne hüten sich vor der Herstellung nicht profitabler Produkte, die die Entwicklungsländer aber dringend brauchen, etwa Medikamente für längst heilbare Krankheiten.«
Wir haben es also mit drei Komponenten zu tun, die miteinander zusammenhängen und die wechselseitig voneinander abhängig sind. Der Markt alleine würde die Dinge nicht regeln. Denken wir an den Wohnungsmarkt, der gegenwärtig so beschaffen ist, dass Wohnungskonzerne ihre Profite durch überzogene Mieten erwirtschaften. Oder an den Automobilmarkt, der bisher vor allem signalisiert hat, dass sich glänzende Profite mit SUVs und großen Luxuslimousinen machen lassen.
Die Pharmakonzerne hüten sich vor der Herstellung nicht profitabler Produkte, die die Entwicklungsländer aber dringend brauchen, etwa Medikamente für längst heilbare Krankheiten. Die Märkte produzieren Fehlinformationen und Fehlanreize. Nur das Zusammenwirken von gesamtgesellschaftlicher Planung, zivilgesellschaftlichem Handeln und einem gebändigten Markt bringt zustande, was für die Gesellschaft nützlich und notwendig ist.
Auf welche historischen Erfahrungen stützt sich Ihre Analyse? Welche Gesellschaften haben es in der Vergangenheit geschafft, durch ihre Regulationsweise eine besondere Stabilität zu erlangen?
Ich will zunächst einmal Erkenntnisse aus dem Staatssozialismus nicht ausklammern. Auch hier gibt es positive Erfahrungen, aus denen wir lernen können. Selbst bei bescheidener Wirtschaftskraft gab es eine Volksbildung und andere soziale Infrastrukturen, die über die eigentlichen ökonomischen Möglichkeiten hinausgingen. Es gab flächendeckende kostenlose Kinderbetreuung, die die Frauen entlastete, und einen sozial einheitlichen Zugang zum Gesundheitswesen.
Natürlich war das nicht überall der Fall, ich spreche von der DDR, nicht von Staaten wie Rumänien oder Bulgarien. Es gab aber offensichtlich die Möglichkeit, soziale Infrastrukturen zu schaffen und ihnen ein großes Gewicht beizumessen, sogar auf einem begrenzten ökonomischen Entwicklungsniveau. Die Wohnungsbewirtschaftung bot den Menschen soziale Sicherheit – wenn auch zum Teil um den Preis mangelnder Substanzerhaltung und Modernisierung.
Wie sich herausstellte, wurden Investitionen in wichtige Bereiche der Volkswirtschaft im Gegenzug vernachlässigt, was schließlich zur Implosion des Staatssozialismus beitrug. Aber es gab auch darüber hinaus positive Erfahrungen, zum Beispiel mit Genossenschaften. Es ist nicht ganz uninteressant, dass ein großer Teil der Genossenschaften in Ostdeutschland 1989 und 1990 die gemeinschaftliche Wirtschaftsform, wenn auch häufig in der Rechtsform GmbH, beibehalten haben, statt sich wieder in Privatbetriebe zurückzuverwandeln. Sie hatten die Erfahrung gemacht, dass die Zusammenarbeit in dieser Betriebsform besser und sozialer funktionierte als auf privaten Höfen.
Gibt es auch Beispiele aus der Geschichte nicht-sozialistischer Gesellschaften?
Ja, auch aus nicht-staatssozialistischen Gesellschaften können wir viel lernen. Im Übergang von einem privatmonopolistischen Raubtierkapitalismus zu einem – wenn auch in Grenzen – regulierten Kapitalismus, wurde für etwa drei Jahrzehnte eine erhebliche Stabilisierung der sogenannten sozialen Marktwirtschaft erreicht. Frühe Beispiele für solche Gesellschaften waren die skandinavischen Länder und die USA unter dem New Deal. Die Löhne stiegen über Jahrzehnte mit der Produktivität und der Inflationsrate an, mitunter sogar zulasten der Profitrate. Es gab eine relativ ausgewogene Balance zwischen Massenproduktion und Massenkonsum. Der Sozialstaat konnte sich entwickeln.
Das Modell geriet ins Wanken, als die Investitionen in neue Wirtschaftszweige wie die Plastikindustrie, die Automobilindustrie, das Fernsehen, die Herstellung von elektronischen Artikeln für den Massenmarkt oder die Luftfahrtindustrie ausliefen, weil die Bedarfe gedeckt waren. Die Wachstumsgesellschaft kollidierte mit den Grenzen der Natur. 1972 erschien der Bericht Grenzen des Wachstums an den Club of Rome, ein Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung ökologischer Krisen. Frauen blieben weiter in einem patriarchalen Geschlechterverhältnis eingeengt. Die Gesellschaft polarisierte sich trotz Sozialpolitik.
Die Stabilität des Systems erwies sich als relativ, grundsätzliche Probleme blieben ungelöst. Wenn sowohl der kapitalistische Sozialstaat als auch der zentralistische Staatssozialismus an ihre Grenzen gerieten, stellt sich heute die Frage nach einer Regulationsweise, mit der wir hoffen können, die Menschheitsprobleme des 21. Jahrhunderts zu bewältigen.
Sie führen das Beispiel des New Deal und der Kriegswirtschaft in den USA im Zweiten Weltkrieg an. Welche Lektionen sind daraus zu lernen?
Wir können hier beobachten, dass gravierende Veränderungen im Rahmen des Kapitalismus stattfinden können, wenn mehrere Bedingungen zusammenfallen – vor allem, wenn es existenzielle Bedrohungen für das kapitalistische System selbst gibt. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 war eine solche existenzielle Bedrohung: Es kam zu einer Vielzahl von Bankrotten, enormer Arbeitslosigkeit und massenhafter Rebellion. Zeitgenössische Autorinnen und Autoren bekundeten die Gefahr des Umschlags der Rebellion in Revolution, also eines möglichen Endes des Kapitalismus.
»Teile der Machtelite sind im Prinzip lernfähig.«
Die Eliten sahen sich bedroht. Durch den Aufstieg des Faschismus, des Nationalsozialismus und des japanischen Militarismus war sogar die Zivilisation selbst bedroht, aber auch das kapitalistische System in den USA. Das ist das eine notwendige Moment: existenzielle Bedrohungen. Das andere Moment: Wenn diese mit Rebellionen zusammenfallen, wie zur Zeit des New Deal, also mit einer militanten Bewegung von Teilen der Arbeiterklasse, mit dem Widerstand einer verzweifelten, millionenstarken Schicht von Arbeitslosen, mit dem Widerstand von Farmern und mit der Unterstützung eines Teils der Intellektuellen, die sich nach links wendeten, kann dies ernsthafte systemische Veränderungen bewirken. Wenn in der Krise Bewegungen entstehen, die darauf antikapitalistisch reagieren, dann kann dies zu einem Lernprozess bei einem Teil der Machteliten führen, und genau dies trat damals unter der Präsidentschaft von Roosevelt ein.
Viele werden unsere heutigen Eliten darin nicht wiedererkennen können.
Die bestimmenden Teile der Machtelite versperren sich zum jetzigen Zeitpunkt gegen ernsthafte und tiefgreifende Lernprozesse, obwohl wir heute mehr denn je existenziell bedroht sind. Der Krieg in der Ukraine, der zum Atomkrieg werden könnte, zeigt dies deutlich. Die Klimakrise bedroht die ökologischen Grundlagen der Menschheit. Existenzielle Bedrohungen gibt es genügend. Soziale Unruhen und Bewegungen sind heute aber unterentwickelt.
Der New Deal zeigt, dass Teile der Machteliten in der Lage sind, den Typ des Kapitalismus ernsthaft zu verändern, wenn diese zweite Bedingung eintritt. Man erlebte den Übergang zu einem in Grenzen staatlich regulierten, reformerischen Kapitalismus, der soziale Widersprüche auffängt und der heute auch beginnt, sich grün zu wandeln.
Teile der Machtelite sind also im Prinzip lernfähig. Es lohnt sich, dies festzuhalten, da es heute nicht der Fall zu sein scheint. Die Frage ist, ob sie diese Fähigkeit endgültig verloren haben oder ob »nur« der massenhafte Druck von unten fehlt. Ich würde diese Hoffnung nicht aufgeben wollen.
Wie gelang es während des New Deal, die drei Elemente der Regulation zu kombinieren?
Wir können hier viel über die Vereinbarkeit von zentralen Planungsansätzen und privater Marktwirtschaft lernen. Die Roosevelt-Administration hat massiv in die Wirtschaft eingegriffen. Sie hat zeitweilig Einkommensteuern von 73–79 Prozent erhoben. Die staatliche Finanzierungsbank hielt zu Hochzeiten des New Deal einen Kapitalanteil von 31 Prozent an den hundert größten Banken – ein massiver Staatseingriff.
Es gab Preisregulierungen, zuerst gegen die Deflation während der Depression, dann gegen die Inflation als Teil der Kriegswirtschaft. Im Tennessee-Tal wurde eine umfassende Regionalplanung eingeführt, die sieben Bundesstaaten umfasste. Gegen den Widerstand von großen Elektrizitätsunternehmen wurde von staatlicher Seite die Elektrifizierung eines riesigen Gebiets vorangetrieben. Große Staudämme wurden errichtet, aber eingebettet in eine strategische Umweltplanung. Dabei kam eine sehr faszinierende Mischung von Privatwirtschaft und staatlicher Intervention zum Tragen, die bis in den Kultursektor reichte, der staatlich finanziert wurde. Intellektuelle und Kulturschaffende konnten in der Weltwirtschaftskrise so weiterbeschäftigt werden.
Ein weiteres Beispiel, das Sie anführen, ist die Wirtschafts- und Gesellschaftslenkung in China. Welche Konzepte lassen sich Ihrer Ansicht nach auf einen westlichen Kontext übertragen?
Natürlich ist das Verständnis der chinesischen Führung von der Beteiligung des Volkes an Entscheidungen ein anderes als in westlichen Demokratien. Diese Demokratieverständnisse kollidieren miteinander und sind nicht aufeinander übertragbar. Das sollte uns vorab klar sein. Doch an dieser Stelle geht es ja nicht um das Verständnis der chinesischen Führung von Demokratie und ob es uns gefällt oder nicht.
Was könnte man von China lernen? Erstens ist entscheidend, dass die chinesische Führung strategisch denkt. Dieses strategische Denken ist über Jahrzehnte, womöglich bis über ein ganzes Jahrhundert hinweg angelegt. Es gibt Arbeiten darüber, die von einer Metastrategiebildung in der Volksrepublik China berichten.
Nehmen wir zum Beispiel das Projekt der Neuen Seidenstraße. Es ist wohl das größte Kooperationsprojekt der Geschichte. 68 Staaten sind daran beteiligt. Ihre Infrastrukturentwicklung im Umfeld der verschiedenen Verkehrsprojekte wird durch chinesische Kreditvergabe gefördert.
»In China können wir beobachten, dass eine Mischung von Staatsunternehmen, großen international operierenden Privatkonzernen und sehr vielen kleineren Unternehmen ein relativ stabiles Wachstum und sozialen Fortschritt hervorbringen kann.«
Sicherlich sind dabei auch Machtinteressen der Volksrepublik China nicht zu übersehen, aber sie sind verbunden mit Kooperationsformen, die Vorteile für die betroffenen Länder bieten, die sich ja freiwillig in diese Zusammenarbeit hineinbegeben. Sie würden das nicht tun, wenn sie sich nichts davon versprechen würden.
Ein weiteres Beispiel ist das Projekt Greater Bay Area zur Etablierung einer Hochtechnologieregion im Perlflussdelta rund um die Metropolen Guangzhou und Shenzhen. Hierbei werden erstaunliche Fortschritte erzielt, zum Beispiel in der Umstellung des öffentlichen Nahverkehrs auf Elektroantriebe. Wissenschaft und Produktion sind dabei überaus eng verflochten. Im Westen herrscht im Verhältnis dazu ein extremer Mangel an strategischem Denken.
Wie stellt sich in China das Verhältnis von Staat und Markt dar?
Wir können hier beobachten, dass hybride Eigentumsstrukturen ein relativ stabiles Wachstum und sozialen Fortschritt hervorbringen können, also eine Mischung von Staatsunternehmen, großen international operierenden Privatkonzernen und sehr vielen kleineren Unternehmen. Sie hat erhebliche positive soziale Effekte, Hunderte Millionen Menschen sind der Armut entkommen.
Interessant ist auch, wie dort Reformen eingeführt werden: In der Regel werden diese erst einmal in einem Experimentierraum erprobt, um zu prüfen, was daran vernünftig ist, was nicht funktioniert, was man generalisieren kann und welche Elemente man lieber wieder fallen lassen sollte.
Sie äußern Skepsis gegenüber einer vollständigen Überwindung von Märkten, wie sie etwa Sabine Nuss fordert, aber auch gegenüber einem Marktsozialismus, wie ihn etwa der tschechische Ökonom Ota Šik propagierte. Was ist Ihrer Ansicht nach die angemessene Rolle für Märkte in einer sozialistischen Gesellschaft?
Die genaue Grenze zwischen Planung und Markt im Voraus ziehen zu wollen, ist bereits ein Problem. Ihre Rollen müssen bei sich wandelnden Bedingungen immer wieder neu austariert werden. Ich würde vorsichtig dabei sein, ihre Grenzen und Relationen bereits jetzt festlegen zu wollen.
Die Annahme von Sabine Nuss ist ja, unter Berufung auf Marx: Die Wirtschaftssubjekte leisten unmittelbar gesellschaftlich notwendige Arbeit, und sie wissen darüber Bescheid, wem sie was zu welcher Zeit zu liefern haben. Das ist eine irrationale Annahme. Woher sollen auf globalen Märkten einzelne Akteure ohne Signale wissen, für wen sie was tun sollen und wie sie sich in volkswirtschaftliche Proportionen einzuordnen haben?
Die Menschen produzieren auch in einer künftigen sozialistischen Gesellschaft als einzelne Subjekte, einzelne Unternehmen, einzelne Fabriken, einzelne Kollektive, Genossenschaften oder Individuen. Sie können nicht die Gesamtheit der Verflechtungsbeziehungen durchschauen.
Und deshalb brauchen wir marktwirtschaftliche Elemente?
Man braucht einen Mechanismus, der diese millionenfachen Entscheidungen reguliert, und an dieser Stelle hat sich der Preis als eine Widerspiegelung von Angebot und Nachfrage bewährt.
Man muss die Wirkung dieses Mechanismus natürlich auch in Frage stellen. Wie schon gegenwärtig, so wird auch der Markt der Zukunft nicht jener ideale Markt sein, der in Markttheorien geschildert wird. Monopolpreise sind immer durch Macht diktierte Preise, also verzerrte Preise im Verhältnis zu den eigentlich existierenden Verhältnissen von Angebot und Nachfrage. Wenn die Akteure selbst in direktem Austausch miteinander, etwa in Wirtschafts- und Sozialräten, alles aushandeln sollten, käme es aber ebenfalls zu Problemen.
An welche Konzepte denken Sie dabei?
Da gibt es zum Beispiel das Konzept Parecon – also »Participatory Economics« oder partizipative Ökonomie – von Michael Albert. Auch Albert hält sich nicht an das Bilderverbot, sondern schildert im Detail, wie verschiedene Räte aushandeln, wie viele Windeln zu welcher Zeit in welcher Gegend gebraucht werden, wie viel Brot, wie viele Fernsehapparate, Industrieanlagen und so weiter.
Ich deute nur an: Wenn man sich darauf verlässt, dass Aushandlungsprozesse die Dinge regeln sollen, dann wird ein heilloses, endloses Debattieren die Folge sein. Wir brauchen den Markt, aber wir brauchen begrenzte, durch Gebote und Verbote beschränkte Märkte.
»Auch die Bekämpfung einer extremen Akkumulation von Vermögen, die die Reichen in die Lage versetzt, mit Flugreisen, Zweitwohnsitzen und anderen Luxusgütern die Ressourcen der Welt zu verschwenden, ist notwendig.«
Skeptisch bin ich auch gegenüber einer sozialistischen Marktwirtschaft à la Ota Šik. Problematisch hieran ist für mich die Vorstellung, dass der Markt gegenüber der zentralen Planung das absolut dominierende Element sein soll. Für die ganz großen Proportionen versagt der Markt, sonst hätten wir keine Klimakrise, sonst hätten wir keine Polarisierung zwischen Armut und Reichtum in der Welt, kein Verkehrschaos und so weiter. Skepsis nach beiden Seiten ist angebracht. Es geht um ein ausgewogenes Verhältnis.
Eines der Ziele, die eine andere Regulationsweise erreichen soll, ist die Aufwertung der Sorgearbeit. Wie kann dies gelingen?
Ich habe dieses Ziel deshalb betont, weil die Aufwertung der Sorgearbeit im Gesundheitswesen, aber auch das Wohnungswesen, die Bildung, die Pflege, die Betreuung, die Mobilität, die Kommunikation, die Versorgung mit Strom, mit Wasser und mit Wärme durch den Markt eben nicht sozial gerecht geregelt werden.
Es bedarf eines öffentlichen Bewusstseins darüber, dass der individuelle Konsum zwar wichtig ist, für die soziale Sicherheit der Menschen aber diese Sphäre des Care-Sektors zentral ist. Die Gesellschaft muss ihre Ressourcen verstärkt darauf lenken, und dieses Anliegen kann durchaus in der gegenwärtigen Gesellschaft vorangetrieben werden. Die Erfahrungen der sozialen Marktwirtschaft zeigen, wie das erreicht werden kann.
Ein weiteres Feld, auf dem sich eine zukünftige Regulationsweise beweisen muss, ist die Überwindung und Lösung der Klimakrise. Was ist hierfür notwendig?
Auch in dieser Frage ist meiner Ansicht nach ein Bewusstseinswandel notwendig: Wir müssen Frieden schaffen und gegen Krieg und Rüstung, die die Umwelt zerstören, eintreten. Die US-Armee zum Beispiel rückt, wenn man sie als Staat betrachten würde, sofort unter die 50 weltweit größten Emittenten von CO2.
Auch die Zurückdrängung der Armut muss Teil unserer Klimapolitik sein, denn wer arm ist, hat kaum noch genügend Ressourcen für die Bewahrung der Umwelt. Auch die Bekämpfung einer extremen Akkumulation von Vermögen, die die Reichen in die Lage versetzt, mit Flugreisen, Zweitwohnsitzen und anderen Luxusgütern die Ressourcen der Welt zu verschwenden, ist notwendig.
Wie können wir das erreichen?
Druck von unten ist dabei ein absolut notwendiges Element. Die Letzte Generation versucht auf neue Weise, diesen Druck auszuüben. Man mag darüber streiten, ob diese Aktionsformen Druck erzeugen, der wirklich die Mehrheit von Menschen erreicht oder Positives bewegt. Aber eigentlich ist dieses Aufbäumen ein Ausdruck dessen, dass es dieses Korrektivs bedarf.
Wir haben ja nicht mehr viel Zeit. In der Zeit, in der wir noch agieren können, werden die Mächtigen noch mächtig sein. Es bedarf, wie seinerzeit beim New Deal, eines Wandels im Bewusstsein und im Handeln von Teilen der problembewussten Machteliten.
Gibt es Anzeichen dafür, dass dieser stattfindet?
Es gibt ja EU-Beschlüsse der Kommission über Klimaneutralität bis 2045 und über Emissionsminderungen um 55 Prozent bis 2030 im Vergleich zu 1990. Es gibt Festlegungen über den Anteil von erneuerbaren Energien an der Primärenergieversorgung und Stromerzeugung, es gibt Ziele für einzelne Sektoren. Es ist ein Skandal, dass diese Reduktionsziele für einzelne Sektoren, die schon einmal in der Großen Koalition vereinbart wurden, jetzt wieder aufgekündigt werden sollen, um den Verkehrssektor auf Kosten anderer Sektoren zu entlasten.
Es findet eine Aufwertung von Industriepolitik statt, zum Beispiel durch die »Industriestrategie der Bundesregierung 2030« und die »Nationale Wasserstoffstrategie«. Es gibt eine »Roadmap Chemie 2050« mit einem zusätzlichen Investitionsbedarf für den ökologischen Umbau von 68 Milliarden Euro, oder Projekte für die »Stahlindustrie 2030« mit einem zusätzlichen Förderbedarf von 35 Milliarden Euro.
»Wenn Umbauprojekte so angelegt werden, dass die Leute Angst vor ihnen bekommen, dass sie überfordert werden, dass sie sie nicht bezahlen können, dann wird es Widerstand geben.«
Es gibt also Ansätze dafür, dass innerhalb der Machteliten ein ökologisches Umdenken begonnen hat. Diese Entwicklung muss entschieden verstärkt werden. Das ist auch nicht ausgeschlossen. Aber dafür müssen Mehrheiten gewonnen werden, und was das bedeutet, das sehen wir ja gegenwärtig bei der Debatte um die Wärmepumpen.
Wenn Umbauprojekte so angelegt werden, dass die Leute Angst vor ihnen bekommen, dass sie überfordert werden, dass sie sie nicht bezahlen können, dass sie ihre Wohnung verlieren, weil sie deren Sanierung nicht bezahlen können oder die Kosten auf die Mieten umgelegt werden, sodass sie nicht mehr zu tragen sind, dann bedeutet das, dass es Widerstand geben wird. Der Umbau der Wirtschaft hin zu mehr Klimaschutz wird nur gelingen, wenn die Menschen in hohem Maße sozial abgesichert werden.
Dabei muss eine doppelte Strategie verfolgt werden: Technologiewandel und sozialer Wandel müssen Hand in Hand gehen. In der Lausitz gibt es dagegen zwar eine Fülle von Technologieprojekten, aber viel zu wenig Aufmerksamkeit für Strategien, die sich mit dem sozialen Wandel beschäftigen.
Wie kann eine neue Regulationsweise erkämpft werden? Welche Akteure und politischen Interventionen sind hierbei am wichtigsten?
Ich nenne mal eine Reihe von Teilstrategien: Selbstermächtigung der Bürgerinnen und Bürger von unten in Projekten und Initiativen, die sie selber in die Hand nehmen – ob das Kindergärten oder Kinderspielplätze sind oder Volksentscheide über die Enteignung von Wohnungskonzernen – ist enorm wichtig. Wo auch immer ihr unmittelbares Leben bedroht ist oder unsicher wird, da entwickeln sich ja in der Tat Projekte, Initiativen, Bewegungen und Strömungen.
Doch hieraus entsteht noch keine gesamtgesellschaftliche Macht. Deshalb müssen breite Bündnisse zwischen unterschiedlich Betroffenen geschlossen werden, die über deren unmittelbare Interessen hinausgehen, wie das zum Beispiel zwischen Fridays For Future und Verdi im öffentlichen Nahverkehr geschieht.
Alle diese Initiativen brauchen aber eine gemeinsame Erzählung davon, wo sie hinwollen und wie sie dahin kommen. Die Neoliberalen haben ihre Erzählung: Der Markt löst die Probleme. Die Rechtsextremen haben ihre Erzählung: Das Völkische verbindet die Leute gegen das Fremde, und dann kann man die Probleme lösen.
Wie können wir dagegen bestehen?
Die Linke verfügt bisher über viele Elemente einer eigenen großen Erzählung, aber fügt sie kaum zusammen. Sie ist zu zerstritten und bringt es nicht zustande, die einzelnen Narrative, die alle ihre Rationalität haben, zu einer großen, modernen linken Erzählung zusammenzubringen.
Hierfür müssten öffentliche Diskurse zurückgewonnen werden. Die Linke sollte zusammenfinden und nach Gemeinsamkeiten suchen. Ideen hat sie eigentlich genug. Es gibt Finanzkonzepte, Rentenkonzepte, Pläne zur Bürgerversicherung und so weiter. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Linke aus ihrer Defensivposition herauskommt und in die öffentlichen Diskurse interveniert, statt ihre eigene Zerstrittenheit vorzuführen.
Das ist leichter gesagt, als getan.
Ich denke, am wahrscheinlichsten erreichen wir dies, indem wir für eine doppelte Transformation eintreten: Das heißt, alle Chancen zu nutzen für eine systeminterne Transformation, also für Reformen im Kapitalismus und zugleich zu wissen, dass diese immer wieder an Grenzen stoßen werden.
Es geht also darum, alles auszuschöpfen, was an systeminternen Reformen möglich ist, dabei aber schon nach dem Einstieg in systemüberschreitende Reformen zu suchen, weil man sonst in die Gefahr des Rollback gerät. Wir müssen die Transformation zu einem postneoliberalen, progressiven Kapitalismus begleiten, hierbei aber niemals vergessen, Eigentums- und Machtfragen zu stellen. Dazu ist auch eine Ausnutzung von Differenzierungsprozessen innerhalb der Machteliten notwendig.
Die Linke muss auch staatliche Machtpositionen einnehmen. Sie darf sich Regierungsbeteiligungen nicht enthalten, sondern muss sie dann suchen, wenn sie damit rechnen kann, dass sie ernsthafte Fortschritte in Richtung der notwendigen Veränderungen in der Gesellschaft erzielen kann.
»Wir beobachten gegenwärtig eine rhetorische Konfrontation zwischen Demokratie und Autokratie, die suggeriert, dass wir im Westen diese perfekte Demokratie bereits hätten.«
Ein letzter Punkt: Wir brauchen eine neue politische Kultur auf der Linken und in der Gesellschaft. Gegenwärtig nimmt eine Hasskultur zu, in der die Diffamierung von Andersdenkenden zum Normalfall wird – etwa von Menschen, die dafür sind, eher zu verhandeln als Waffen zu liefern. Wir haben eine Kultur des Gegeneinander, eine Unkultur, die davon lebt, zu sagen: Wir sind die Demokraten, die anderen sind Autokraten, und wir kämpfen für die Demokratie und gegen den Autoritarismus.
Dieses Weltbild impliziert, dass »der Westen« bereits eine perfekte Demokratie habe und eigentlich keinen tiefgreifenden Wandel mehr brauche. Die Linke darf sich nicht verkämpfen. Sie braucht eine neue Kultur der Empathie, der Toleranz, der Wertschätzung von Argumenten, des Hinhörens, der Solidarität, der Zwischenmenschlichkeit, der Liebe, des Hinausdenkens über die eigenen Grenzen. Ein Wandel der politischen Kultur ist ein zentrales Element der Veränderung der Regulationsweise.
In welche Fallen könnte ein demokratisch-sozialistisches Projekt tappen, wenn es das hier beschriebene Programm umzusetzen versucht?
Wir beobachten gegenwärtig diese rhetorische Konfrontation zwischen Demokratie und Autokratie oder Diktatur, die suggeriert, dass wir im Westen diese perfekte Demokratie bereits hätten und dass die notwendige moralische Revolution, die zur Verbesserung der Gesellschaften führt, schon vollzogen sei. Wir brauchen also keinen Wandel von tiefgreifender Art, die Eigentums- und Machtverhältnisse müssen nicht angetastet werden. Wir sind die Verkörperung des Guten!
Auch progressive Akteure treten dem oft nicht konsequent genug entgegen. Uwe Schneidewind beispielsweise, der langjährig Präsident des Wuppertal-Instituts war, vertritt einleuchtend, dass die große Transformation eine moralische Revolution sei. Aber nicht einleuchtend ist die Einschätzung, sie sei schon so weit vorangeschritten, sie müsse nur noch weiter vollzogen werden, sie beherrsche schon die Führungsetagen der Konzerne. Eine moralische Revolution in der notwendigen Tiefe ist eben noch nicht erreicht. Und das heißt, dass auch der Westen vor einem einschneidenden Wandel steht.
Dass die veränderte Regulationsweise einer solidarischen Gesellschaft einer moralischen Revolution bedarf, ist richtig. Aber anzunehmen, dass diese im Westen schon vollzogen ist, ist eine absolute Falle, da man dann nicht mehr nach dem notwendigen Wandel in Ost und West fragt.
Ebenso wäre es eine Fehleinschätzung, dass es keines Wandels der Eigentums- und Machtverhältnisse mehr bedarf. Man bleibt damit in systeminternen Reformen verfangen, von denen wir gegenwärtig merken, dass sie nicht das Tempo aufbringen, das notwendig ist, um Umwelt- und Klimakatastrophen, Kriege und andere Krisen zu vermeiden und zu überwinden.
Hieraus aber wiederum zu schlussfolgern, das es dann nur noch einen Ausweg gäbe, nämlich den großen revolutionären Bruch mit allen Verhältnissen auf einen Schlag, wie zum Beispiel Christian Zeller in seinem Buch Revolution für das Klima, ist ein anderes Extrem, in das wir nicht abgleiten sollten. Denn genau das wird realistischerweise nicht geschehen.
Wie können wir die Menschen dazu ermutigen, für dieses Modell einer solidarischen Regulationsweise einzutreten?
Auf Veranstaltungen sagen mir durchaus viele Leute, sie finden das ganz vernünftig, was ihnen da vorgetragen wird, und eigentlich auch sympathisch. Aber sie glauben nicht, dass es erreichbar sei. Dann komme ich auf Akteure zu sprechen. Ich beschwöre, dass sie notwendig sind, gleichzeitig ist mir aber klar, dass sie gegenwärtig nicht über die notwendige Kraft verfügen.
Und weil mir dann nichts weiter übrig bleibt, verweise ich gerne auf eine Frage, die Hermann Hesse einmal gestellt wurde. Hesse wurde gefragt, ob er vielleicht den chinesischen Moralphilosophen, also Konfuzius, charakterisieren könnte. Er antwortete: »Ist das nicht der, der genau weiß, dass es nicht geht und es trotzdem tut?« Der Druck der Probleme ist derartig groß, es bleibt uns nichts weiter übrig, als zu sagen: »Es muss gehen!« Wir haben ja inzwischen viele Vorstellungen über den Weg, auf dem es erreicht werden könnte, und also müssen wir versuchen, diesen Weg auch zu beschreiten.
Mike Davis hat vor seinem Tod gesagt: »Wir müssen kämpfen wie die Rote Armee in den Trümmern von Stalingrad: Kämpft mit Hoffnung oder ohne Hoffnung, aber kämpft absolut.«
Ja, das drückt eine ähnliche Einstellung aus.
Dieter Klein war bis Ende 2012 Mitglied des Vorstandes der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist Fellow am Institut für Gesellschaftswissenschaften der Stiftung. Bis zu seiner Emeritierung 1997 hatte er den Lehrstuhl Ökonomische Grundlagen der Politik am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität inne.