26. November 2021
Als »Mutter Courage des Ostens« setzte sie sich unermüdlich gegen die marktradikale Schocktherapie ein: Vor zwanzig Jahren starb mit Regine Hildebrandt die vielleicht letzte große Sozialdemokratin unserer Zeit.
Regine Hildebrandt bei einem Parteitag der SPD, 1993.
Regine Hildebrandt, ursprünglich Radischewski, wurde am 26. April 1941 in Berlin geboren, als die ersten Bomben der Alliierten fielen. Aufgewachsen ist sie in der Bernauer Straße, am späteren Todesstreifen; dort, wo die Mauer Berlin zerschnitt. »Mit 10 Jahren erwachte mein Ehrgeiz, eine Eigenschaft, die mir auch im späteren Leben zu schaffen machen sollte«, hielt sie, die Klassenbeste, in einem Schulaufsatz fest. Im selben Alter begann sie auch, ihr Leben in Kalendern und Tagebüchern zu protokollieren.
Als sie in der Schule zum Beitritt zur Jugendorganisation der jungen Pioniere bewegt werden sollte, notierte sie: »Mir ist der Mensch als Masse schon immer unsympathisch gewesen und so verspürte ich gegenüber der Massenorganisation ein Unbehagen.« Stattdessen suchte sie Zugehörigkeit in der Familie des Pfarrers Hildebrandt, die in derselben Straße lebte. Dort fand sie Musik, Bücher, Freundschaft und Liebe. Der jüngste Pfarrerssohn, Jörg, sollte 1966 ihr Ehemann werden. Tagsüber wirkte Regine Hildebrandt als studierte Biologin ganz vorn mit in der Diabetesforschung der DDR, abends organisierte sie das gesamte Familienleben. Der Stasi waren die Hildebrandts ein Dorn im Auge, sie spionierte Regine, ihren Mann und die Kinder aus. Man bescheinigt ihnen eine negative Haltung zur DDR, allerdings »stets unter der Strafrechtsnorm«.
An den Wahlen zur Volkskammer nahmen Jörg und Regine regelmäßig nicht teil. Dies führt zu weiterem Unmut seitens des Staates. »Wenn Sie an die 98,85 Prozent Wahlbeteiligung glauben, – wir glauben übrigens nicht daran –, verstehen wir Ihre Unruhe nicht, mit der die Partei kritischen Anfragen begegnet«, schrieb sie 1989 an die SED.
Ab Herbst 1989 engagierte sich Hildebrandt in der Bewegung »Demokratie Jetzt!«. Da aber die Demokratie auch Parteien braucht, um es mit Hildebrandts Worten zu sagen, trat sie in derselben Zeit der SPD bei. Über den Mauerfall schreibt sie, es sei der »tollste Tag in meinem Leben« gewesen. Ihre Schwägerin rät ihr, sich für die kommenden Volkskammer-Wahlen aufstellen zu lassen, schließlich würden da noch Kandidatinnen gesucht.
Und so gelangte Regine Hildebrandt kurz darauf am 12. April 1990 in das öffentliche Bewusstsein: An diesem Tag wurde sie erste und letzte Ministerin für Arbeit und Soziales der DDR. Was für manchen ihrer Landsleute als das Ende erschien, war für sie ein Neuanfang. Plötzlich gab es in der DDR Arbeitslose – in den ersten Wochen bereits 35.000. Als Politikerin adressierte sie die Angst vor Arbeitslosigkeit – ein Novum, auch im Westen. Um die ihr anvertrauten Menschen nicht ins Bodenlose stürzen zu lassen, setzte sie sich für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Qualifizierungsprogramme ein. Auch staatliche Eingriffe in die Preisbildung für Waren und Dienstleistungen zog sie in Erwägung. Dem Spiegel sagte sie in einem Interview: »Uns muß jedes Mittel recht sein, den sozialen Notstand in der DDR zu verhindern.«
Ihre zupackende Art brachte ihr zunächst viele Sympathien, in der Bevölkerung im Osten, aber auch in der Politik. Selbst der damalige CDU-Sozialminister Norbert Blüm wird Jahre später nur Gutes über sie zu berichten haben. Schon zu diesem Zeitpunkt zeigte Regine Hildebrandt glaubhaft: Ihr Ehrgeiz galt nicht der eigenen Karriere, sondern der Lösung der Probleme der Menschen. Gegenwärtig scheint persönliches Involvement auch in der politischen Linken nicht selbstverständlich. Regine Hildebrandt hingegen trug ihre soziale Haltung kompromisslos in die politische Auseinandersetzung, beinahe ungeachtet der Konsequenzen für die eigene Person.
»Für mich war der Gang in die Politik nie die Erfüllung eines Wunsches, sondern schlicht die Einsicht in die Notwendigkeit. Man kann nicht vierzig Jahre meckern – und dann hat man plötzlich keine Zeit, weil man Geld verdienen muss«, hielt Regine Hildebrandt 1990 in ihrem Tagebuch fest. Sie musste ansehen, wie über Jahrzehnte gewachsene Sozialstrukturen zerbrachen, Kollegien zerfielen, Menschen ihren Halt verloren – und sich dem täglich entgegenstemmten. In dieser Zeit war sie häufig in den Medien zu vernehmen und warnte vor einer bevorstehenden hohen Arbeitslosigkeit. Doch nicht jeder glaubte ihr und mancher Kollege aus dem letzten Kabinett der DDR beneidete sie um ihre zunehmende Popularität.
Was bereits damals eine Seltenheit war: Regine Hildebrandt machte den politischen Kampf für die Menschen in den neuen Bundesländern zu einer ganz persönlichen Angelegenheit. Nach dem Ende der DDR-Regierung unter Lothar De Maizière wurde sie Arbeits- und Sozialministerin in Brandenburg. Den damaligen Ministerpräsidenten von Brandenburg, Manfred Stolpe, kannte sie bereits aus kirchlichen Zusammenhängen. Er brauchte Regine Hildebrandt dringend, denn sein Bundesland wurde vom aufziehenden Strukturwandel mit am schwersten getroffen.
Auf zahlreichen Veranstaltungen vermittelte sie »ihren Leuten« in Brandenburg trotz der nicht enden wollenden Hiobsbotschaften immer auch ein Stück Zuversicht und Vertrauen in Politik. In ihrem Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen überging sie so manche Hierarchien, wenn es der Sache diente. In der Verwaltung, mit der sie aufgrund ihrer vielen regionalen Termine vor allem telefonisch Kontakt hielt, war man dies nicht gewohnt. Dienstpost erledigte sie auf der Rückbank ihres Dienstwagens. Ihre Mitarbeitenden spornte sie an, bis an die Grenze der Legalität zu gehen, um für Gerechtigkeit zu sorgen – radikal gerecht eben.
Im Juli 1996 wurde bekannt, dass Regine Hildebrandt an Brustkrebs erkrankt war. Es folgten einige Operationen, doch die Ministerin war schnell wieder bei der Arbeit. Später, im November desselben Jahres, wurden Vorwürfe laut, dass unter Leitung Hildebrandts in ihrem Ministerium Gelder veruntreut worden seien. Es war nicht der einzige Skandal von dem die Brandenburger SPD erschüttert wurde. »Meine Kenntnisse im Haushaltsrecht sind bescheiden«, gab sie zu Protokoll. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen Hildebrandt und Mitarbeitende ihres Ministeriums. Letztere wurden freigesprochen, die Ermittlungen gegen Hildebrandt eingestellt. Wenig später wählte der Bundesparteitag der Sozialdemokraten Regine Hildebrandt in den Parteivorstand – mit dem besten Ergebnis aller Kandidierenden.
»Dann tret’ ick aus der Partei aus«
In der Bundestagswahl 1998 engagiert sie sich in allen Teilen des Landes. Mit Gerhard Schröder konnte sie zunächst wenig anfangen und bot ihm in den Vorstandsvorsitzungen der SPD ordentlich Paroli; erst später besserte sich das Verhältnis. Die Sozialdemokraten waren sich einig, dass der bereits 16 Jahre währenden Kanzlerschaft von Helmut Kohl ein Ende bereitet werden müsse. Für Hildebrandt kam damals nur ein Bündnis mit den Grünen oder der Linkspartei in Frage. Sollte sich Schröder für eine Koalition mit der FDP entscheiden, würde sie aus der Partei austreten, so Hildebrandt. Für das heutige Streben der Schröder-Erben nach einem Ampel-Bündnis hätte sie sicher deutliche Worte gefunden.
Bei der Landtagswahl 1999 verlor die SPD unter Manfred Stolpe über 14 Prozent der Stimmen, blieb aber mit für heutige Verhältnisse sagenhaften 39 Prozent stärkste Kraft. Stolpe wollte die Koalition mit der PDS nicht fortsetzen, sondern ein Bündnis mit Jörg Schönbohm von der CDU eingehen. Der Ex-General der Bundeswehr war zu diesem Zeitpunkt noch Innensenator Berlins, als »harter Hund« berüchtigt und setzte vor allem auf Sparpolitik. Regine Hildebrandt wich abermals nicht von ihren Prinzipien ab: »Mit den Arschlöchern von der CDU koaliere ich nicht!«, verkündete sie ihrem Ministerpräsidenten. Um ihre Popularität wissend, setzt sie Stolpe unter Druck: Sollte er sich tatsächlich für Schwarz-Rot entscheiden, stehe sie als Ministerin nicht zur Verfügung. Als Stolpe mit der CDU in eine gemeinsame Regierung eintrat, stand Hildebrandt zu ihrem Wort. Die Jusos druckten ihr Zitat auf Postkarten.
Wann immer es um die Lage der SPD, um Arbeitslosigkeit, Renten, Angst und Hoffnungslosigkeit im Osten ging, blieb Regine Hildebrandt als Ansprechpartnerin und Beraterin gefragt. Doch der Krebs kehrte zurück. In späten Jahren erfüllte die Tochter von Regine Hildebrandt ihrer Mutter einen ersehnten Wunsch: Vier Generationen der Hildebrandts wohnten gemeinsam in Woltersdorf in einem Haus am See. Dort starb Regine Hildebrandt am 26. November 2001.
Sie fehlt.
Umso wichtiger ist es, den Geist ihrer Politik weiterzutragen: ihren radikalen Gerechtigkeitssinn, ihre mutmachende und zupackende Art und ihren kompromisslosen Einsatz für eine soziale und empathische Gesellschaft. Wir brauchen Figuren wie sie, die den Kampf für die Vielen mit Wärme und Elan vorantragen. Das wäre sicher im ganz im Sinne von Regine Hildebrandt.
Daniel Reitzig ist politischer Aktivist, lebt in Berlin, arbeitet derzeit im Deutschen Bundestag und schreibt gelegentlich unter krisentheorie.de.