13. Oktober 2022
Immer wieder wird ziviles Personal der kurdischen Selbstverwaltung durch türkische Drohnenangriffe getötet – eine klare Verletzung des Völkerrechts. Doch die Bundesregierung weigert sich, Stellung zu beziehen, und lässt NATO-Partner Erdoğan freie Hand.
Erdoğan nutzt den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands, um die Auslieferung von Kurdinnen und Kurden zu erwirken.
IMAGO / APAimagesSeit Monaten führt der türkische Präsident Erdoğan ungeachtet der internationalen Öffentlichkeit einen Krieg niederer Intensität gegen Nordostsyrien. Auch Zivilistinnen und Zivilisten werden dabei gezielt getötet, so etwa am 27. September: Zeyneb Sarokhan und Yilmaz Şero, zwei Mitarbeitende der autonomen Selbstverwaltung Nordostsyrien, wurden von einer türkischen Drohne (Typ Bayraktar) getroffen. Sie waren unterwegs, um Gefängnisse in der Region zu besuchen. Seit Juni waren beide Vorsitzende der Verwaltungsabteilung für Justizreform der Region Cizîrê und unter anderem für die Betreuung der dortigen Gefängnisse zuständig, in denen auch Tausende IS-Anhängerinnen und IS-Anhänger sitzen. Beide arbeiteten zuvor unter anderem für Projekte der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international.
»Jetzt sind wir alle Ziele. Sie machen keinen Unterschied mehr zwischen militärischem Personal und zivilen Mitarbeitenden.«
Zeyneb Sarokhan war lange Frauenbeauftragte für die Region. Sie war für ein Waisenhaus zuständig, setzte sich aber auch für Frauenhäuser und anonyme Wohnungen ein, in denen verfolgte und von Gewalt betroffene Frauen Zuflucht finden konnten. Der Bedarf in Nordostsyrien ist hoch und bisher gibt es nur wenige Anlaufstellen. Yilmaz Şero leitete im April noch das Gefängnis in Qamişlo, in dem Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter inhaftierte Jugendliche begleiten, die unter dem IS groß geworden sind. Ihre Mütter hatten sich dem IS angeschlossen und waren ihren Ehemännern nach Syrien nachgereist. Wo ihre Eltern jetzt sind, konnten die Jungen nur vermuten. Oft sind sie tot oder sitzen selber in Lagern oder Gefängnissen. Zuletzt setzte sich Şero für den Umzug dieser inhaftierten Jugendlichen in sogenannte Rehabilitationszentren ein, um ihnen eine Perspektive zu bieten.
Die gezielte Tötung von Zeyneb Sarokhan und Yilmaz Şero macht deutlich, dass es im Interesse des türkischen Militärs zu sein scheint, die zivilen Bereiche der Selbstverwaltung deutlich zu schwächen. Beiden waren in ihren Funktionen auch dafür verantwortlich, einen Umgang mit inhaftierten IS-Terroristen zu finden, um das Erstarken des IS zu verhindern und einer friedlichen Lösung den Weg zu ebnen – denn das Trauma des IS-Terrors sitzt innerhalb der Bevölkerung noch tief. Seit dem militärischen Sieg über den IS im Frühjahr 2019 beklagt die Selbstverwaltung die fehlende internationale Unterstützung. Die Rücknahme ausländischer IS-Anhänger so wie auch die Verurteilung Tausender syrischer und irakischer Kämpfer ist bis heute nicht geklärt und wird weitestgehend der Selbstverwaltung vor Ort überlassen.
Zeyneb Sarokhan und Yilmaz Şero sind nicht die ersten zivilen Opfer, die von einer türkischen Drohne getötet wurden. »Jetzt sind wir alle Ziele. Sie machen keinen Unterschied mehr zwischen militärischem Personal und zivilen Mitarbeitenden der Selbstverwaltung oder der Zivilgesellschaft«, schreibt mir ein enger Vertrauter. In die Trauer und die Wut über den Tod von Zeyneb und Yilmaz mischt sich permanente psychische Belastung. Auf internationale Empörung wartet niemand mehr. Zu oft wurde man bereits von der Weltgemeinschaft im Stich gelassen.
Die autonome Selbstverwaltung Nordostsyrien entstand in den Wirren des syrischen Bürgerkrieges 2011. Damals kam es im Zuge des sogenannten arabischen Frühlings in der Mena-Region zu Demokratieaufständen, die auch Syrien erfassten und sich landesweit gegen das Assad-Regime richteten. Auf die Proteste folgte ein brutaler Bürgerkrieg. Für die kurdische Minderheit im Norden des Landes bot sich jedoch eine besondere Gelegenheit: Am 19. Juli 2012 zogen sich die Truppen des Assad-Regimes aus Kobanê zurück. Kurdische Kräfte übernahmen daraufhin die Stadtverwaltung. Damit stießen sie die Übernahme anderer Teile der Region an.
Es folgte ein Krieg gegen die Terrororganisation Islamischer Staat, bei der 10.000 Kämpferinnen und Kämpfer der kurdischen Einheiten ihr Leben verloren – bis heute ein gesellschaftliches Trauma. Doch es begann auch ein demokratisches Experiment, das zunächst den kurdischen Namen Rojava (Westkurdistan) trug und in dem Minderheitenrechte, Gleichberechtigung und Demokratie das politische Handeln anleiteten.
Seit 2014 befindet sich das Gebiet in Nordostsyrien in autonomer Selbstverwaltung und umfasst ein Drittel des Landes. Auch wenn die arabische Bevölkerung dort den größten Anteil ausmacht, haben religiöse und ethnische Minderheiten die gleichen Rechte. Bis heute gehört die Selbstverwaltung völkerrechtlich weiterhin offiziell zu Syrien und ist der Regierung Assad unterstellt – ein großes Problem in vielen Bereichen der Gesellschaft. Momentan führt das dazu, dass Schulabschlüsse international nicht anerkannt werden oder humanitäre Hilfe nur über UN-Büros in Damaskus geleistet wird. Während der Corona-Pandemie kam Hilfe im Norden oft viel zu spät.
Der türkische Präsident Erdoğan und seine AKP-Regierung haben die Entwicklungen in Nordostsyrien von Beginn an bekämpft und die kurdischen Bestrebungen nach Selbstorganisierung im Südosten der Türkei brutaler Repression ausgesetzt. In den letzten Jahren kam es zu mehreren größeren militärischen Interventionen, mit dem Ziel, das Enstehen einer selbstverwalteten Region, in der die kurdische Minderheit eine zentrale Rolle einnimmt, zu stoppen.
»Seit Monaten intensiviert das türkische Militär die Drohnenangriffe sowie den Artilleriebeschuss aus den besetzten Gebieten – eine perfide und zermürbende Kriegsstrategie.«
In Afrin im Januar 2018 und in der Grenzregion bei Serekaniye 2019 wurden Hunderttausende vertrieben. Bis heute halten türkische islamistische Söldnertruppen die Gebiete völkerrechtswidrig besetzt – bisher ohne Konsequenzen für das NATO-Mitglied Türkei. Stattdessen sollen dort nun syrische Flüchtlinge angesiedelt werden. Die Familien der Söldner haben sich dort bereits niedergelassen und eignen sich die Häuser der Vertriebenen an. Eine Rückkehr soll so unmöglich gemacht werden, zudem findet dadurch ganz praktisch ein demographischer Austausch statt. Beide Regionen sind historisch kurdische und jesidische Gebiete mit einer Jahrhunderte alten Geschichte, die dadurch ausgelöscht wird.
Der wissenschaftliche Dienst der Bundesregierung beschrieb beide Interventionen als völkerrechtswidrig, da keine Bedrohung bestand, die einen Angriff zur Selbstverteidigung der Türkei rechtfertigen würde. Dennoch sind diese Militärinterventionen bis heute ohne Konsequenzen geblieben. Zehntausende warten in Flüchtlingslagern auf eine Rückkehr – ohne Perspektive.
Im April dieses Jahres drohte Erdogan erneut mit einer Militärintervention. Sein Ziel sei es, den kompletten Grenzstreifen zu besetzen, der zentrale Städte der Selbstverwaltung wie Kobanê oder Qamişlo umfasst. Bisher bekam er von den relevanten geopolitischen Akteuren wie Russland, Iran oder USA kein grünes Licht. Selbst die deutsche Außenministerin Baerbock äußerte sich bei ihrem Türkeibesuch im Juli gegenüber ihrem Amtskollegen Çavuşoğlu öffentlich kritisch gegenüber einer Militärintervention. In Zeiten des Ukraine-Krieges scheint man einen weiteren Krisenherd einhellig vermeiden zu wollen.
Dennoch intensiviert das türkische Militär die seit Monaten anhaltenden Drohnenangriffe sowie den Artilleriebeschuss aus den besetzten Gebieten – eine perfide und zermürbende Kriegsstrategie. Die Türkei ist inzwischen zu einer globalen Drohnenmacht aufgestiegen, die die Kampfdrohne Bayraktar TB2 nicht nur in 24 Länder verkauft, sondern auch selbst immer wieder einsetzt. Allein dieses Jahr erfolgten laut Rojava Information Center 81 Drohnenangriffe in Nordostsyrien. Dabei kamen 66 Menschen (darunter 23 Zivilistinnen und Zivilisten) ums Leben. Die tatsächliche Anzahl der Todesopfer dürfte noch höher liegen. Mitunter werden die tödlichen Raketen nicht von Drohnen selbst abgeschossen, sondern von Artillerie. In diesen Fällen dienen die Drohnen oft der Zielaufklärung und markieren etwa Autos oder Gebäude per Laser.
Die Türkei tötet systematisch militärische und politische Verantwortliche in der Region und schwächt damit gezielt die Selbstverwaltung, wie auch im Fall von Sarokhan und Şero. Ihre Aufgabenbereiche müssen schnell nachbesetzt werden und qualifiziertes Personal ist nicht einfach zu finden. Zudem ist die ökonomische Situation in der Region prekär. Die Gefahr, auf Posten der Selbstverwaltung oder in zivilgesellschaftlichen Bereichen zu einem Angriffsziel der Türkei zu werden, ist für viele eine Fluchtgrund.
Diese permanenten Angriffe der Türkei auf Nordostsyrien sind völkerrechtswidrig, finden hierzulande jedoch kaum Aufmerksamkeit. Im Kontrast zur einhelligen Verurteilung der russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine wirkt das Schweigen der Bundesregierung in Bezug auf die türkischen Drohnenangriffe umso lauter und stellt die Glaubwürdigkeit der deutschen außenpolitischen Standards infrage.
Der türkische Präsident Erdoğan gibt sich als neutraler Vermittler im Ukraine-Krieg und setzt damit seine NATO-Partner weiter unter Druck. Er blockiert die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die NATO – mit der Begründung vermeintlicher »Terrorhilfe« – und setzt die Angriffe im Nordirak und in Nordostsyrien fort. Zudem sucht er neue geostrategische Allianzen. Die öffentlichen Treffen mit Putin sowie dem iranischen Präsidenten Raisi, dem aserbaidschanischen Präsidenten Alijew, dem tadschikischen Präsidenten Rahmon und dem belarussischen Lukaschenko sind nicht nur Machtdemonstrationen autoritärer Staatsoberhäupter, sondern manifestierten die neuen weltpolitischen Achsen.
In Nordostsyrien nutzt Erdoğan die fragile geopolitische Lage, um die kurdische Bevölkerung und ihre Autonomiebestrebungen zu bekämpfen, und um von innenpolitischen Schwierigkeiten in der Türkei abzulenken. Nächstes Jahr stehen im Sommer in der Türkei Wahlen an. Die Umfragen deuten auf einen Verlust der AKP-Mehrheit hin. Solange Erdoğan von den NATO-Partnern nichts zu befürchten hat, wird er weiter machen.
Seit inzwischen zehn Jahren hat sich die Selbstverwaltung in Nordostsyrien mit ihren demokratischen Prinzipien durchgesetzt. Dies wäre Anlass genug, einen politischen Kurswechsel in EU und NATO einzufordern, der sich nicht mehr an den Menschenrechtsverletzungen Erdoğans und seiner AKP-Regierung orientiert, sondern die Anstrengungen der Selbstverwaltung würdigt, die nach einer nachhaltig-friedlichen Lösung sucht. Während Waffenlieferungen und Aufrüstung zur Verteidigung von Menschen- und Völkerrecht gegen den russischen Angriffskrieg in die Ukraine beschlossen werden – und Milliarden-Hilfsgelder in Aussicht gestellt werden –, kann das NATO-Mitglied Türkei seit vielen Jahren fast ungestört ebenjene Werte missachten, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.
Die Leidtragenden dieser Doppelmoral sind all diejenigen, die sich auch aufgrund des Erdoğan-Krieges auf die Flucht begeben müssen, um nicht Opfer seines Drohnenkriegs zu werden.
Anita Starosta ist Referentin für Syrien, Türkei, Irak bei medico international