18. August 2022
Ist es egal, wann wir demonstrieren? Im Prinzip ja. Aber Protest hat immer eine Geschichte, die wir bedenken sollten.
Demonstration gegen Hartz IV im Jahr 2004
Während die Bundesregierung die Gasumlage einführt und damit die soziale Not für Millionen Menschen verstärkt, kommen immer mehr linke Organisationen und Akteure in Fahrt und rufen zum Protest auf.
Natürlich könnte man jetzt behaupten, es sei egal, an welchem Tag protestiert werde, Hauptsache Protest. Diese Aussage hat einen wahren Kern, denn nichts ist schlimmer als etwas zu zerreden, bevor es überhaupt erst angefangen hat. Nichtsdestotrotz sollte man angesichts der angespannten Lage und einer schwachen gesellschaftlichen Linken bedenken, dass man nicht kopf- und strategielos in diesen Winter gehen sollte. Es ist nicht egal, welche Kräfte gebündelt werden können und wen wir jetzt auf unsere Seite ziehen. Dafür steht zu viel auf dem Spiel.
Ein konkreter und kontrovers diskutierter Vorschlag kam am Montag dieser Woche vom Ost-Beauftragten der Linksfraktion und erfolglosen Bewerber für den Parteivorsitz, Sören Pellmann, der verkündete, es brauche »neue, lautstarke Demos, wie damals gegen Hartz IV« und von neuen Montagsdemos sprach. Für Montag, den 5. September kündigte er einen Protest in seinem Wahlkreis in Leipzig an.
Bodo Ramelow, immerhin regierender Ministerpräsident in Thüringen, zeigte sich leicht brüskiert und reagierte indirekt auf den Vorstoß Pellmanns: Bei sozialen Protesten sei eine »Abstandsregel zu rechtsradikalen Organisationen« einzuhalten, diese hätten sich der Symbolik der Montagsdemonstrationen bemächtigt.
Kurz danach besänftigte Pellmann die Situation: »Ich bin mir mit Bodo völlig einig. Wir müssen gemeinsam mit allen Demokratinnen und Demokraten dafür auf die Straße gehen, dass Energie bezahlbar ist. Das tun wir am besten an jedem einzelnen Wochentag«. Und er ergänzt mit einem Zwinkern: »Gern auch an Montagen!«. Martin Schirdewan, der frisch gewählte Parteivorsitzende, mischte sich ebenfalls in die Diskussion ein. Er spricht schon länger von einem »heißen Herbst«, ergänzt aber beschwichtigend, der Protest sei wie ein Marathon, er müsse mit Ausdauer geführt werden, egal an welchem Tag.
Nun könnte man meinen, dass es sich hier um eine parteiinterne Spitzfindigkeit handelt, die der Debatte nicht wert ist. Natürlich ist es im Prinzip egal, an welchem Wochentag ein Protest stattfindet. Doch die Diskussion verweist auf tieferliegende Auseinandersetzungen, die immer wieder drohen, die gesellschaftliche Linke zu spalten. Es geht einerseits um das historische Gedächtnis der Bewegung und andererseits auch um die strategische Frage, wen man eigentlich erreichen will, und vor allem, wie.
Eben weil er diese grundsätzliche Frage berührt, hagelte es gleich Kritik an dem Vorschlag Pellmanns. Ein Kommentar im Neuen Deutschland bezeichnete die Montagsdemos als »abgenutzt und mit braunem Dreck überzogen«. Besonders maßlos diffamiert die Demonstrationen Jutta Ditfurth, die vor einem »nationalsozialistischen Wutwinter« warnt. Auch Klimaaktivist Tadzio Müller spricht von einer »petro-nationalen Querfront«. In der taz bemängelt man die Glaubwürdigkeit der Linkspartei und traut eher der Klimabewegung die Kapazitäten zu, Impulse für Proteste zu setzen.
Es ist richtig, dass seit 2015 die Montagsdemonstrationen von rechts besetzt worden sind und auch Querdenker seit der Coronakrise an ihnen teilnehmen. Es wäre aber vollkommen falsch, die gesamte Geschichte dieser Proteste deshalb aufzugeben, weil Rechte sie gekapert haben. Dass die Rechte die Demos vereinnahmen konnte, sagt mehr über die Schwäche der Linken als über den Protesttag an sich aus. Die Demos nun abzulehnen, ist ahistorisch und kindisch, eine Kapitulation vor den Reaktionären. Auch handelt es sich bei der gebetsmühlenartigen Abgrenzung von der Rechten, ohne ihr gleichzeitig Terrain streitig zu machen, letztlich um eine linke Strategie, sich um die wirklich schwierigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu drücken. Aufhänger für die Proteste ist und bleibt Kritik an der Regierung, das ist Grund genug, sie nicht aufzugeben.
Für viele Menschen – in Ost und West – haben die Montagsdemos seit über 30 Jahren eine tiefe Bedeutung: Sie stehen ganz allgemein für Protest gegen die politische Elite. Wir würden absolut geschichtslos umherwandeln und nichts bewirken, würden wir darauf bestehen, uns ständig eine neue Symbolik und Sprache auszudenken, die in den Gedächtnissen und Herzen der Menschen überhaupt nicht verankert ist. Damit machen wir Linken es uns selbst unnötig schwer.
Zudem: Bereits als die Montagsdemos 2004 neu aufgelegt wurden, um gegen die Agenda-Politik und Hartz IV zu protestieren, wurden sie von bürgerlicher und linksliberaler Seite – genau wie heute – dämonisiert. Auch damals wurde vor einer Querfront gewarnt. Und es würde diese Vorwürfe gegen linken Protest auch an jedem anderen Wochentag geben. Bei allen Widersprüchen, tatsächlichen und vermeintlichen Übernahmeversuchen und Lernerfahrungen aus dieser Zeit lässt sich dennoch politisch die Bilanz ziehen: Die Agenda wurde zwar nicht gekippt, doch es formierte sich eine neue Linke, sogar eine neue linke Partei.
Das lag auch daran, dass bei diesen Protesten Menschen mobilisiert wurden, die sich von den Sozialdemokraten oder Grünen nicht mehr oder noch nie vertreten fühlten. Ein Milieu, das sich in der großen Unteilbar-Demonstration von 2018 oder den heutigen Klimaprotesten nicht widerspiegelt und das gerade jetzt wieder unter den steigenden Preisen leidet. Wer dieses Milieu erreichen will, sollte sich nicht zu fein sein, an eine widersprüchliche, aber widerständige Protestkultur anzuknüpfen.
Letztlich wird sich in der Praxis zeigen, ob diese Stoßrichtung zum Erfolg führt. Rosa Luxemburg schrieb in Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906) von der Spontaneität der Massen, als sie die anarchistische Annahme kritisierte »dass der Massenstreik ein bloßes technisches Kampfmittel ist, das nach Belieben und nach bestem Wissen und Gewissen ›beschlossen‹ oder auch ›verboten‹ werden könne, eine Art Taschenmesser, das man in der Tasche ›für alle Fälle‹ zusammengeklappt bereithalten oder auch nach Beschluss aufklappen und gebrauchen kann«.
Wir sind weit von Massenstreiks entfernt. Doch ist plausibel, dass sich der soziale Protest derjenigen, die sich von der politischen Elite seit Jahren und Jahrzehnten zurecht im Stich gelassen fühlen, sich nicht von einer Partei, Gewerkschaft oder linksradikalen Gruppe routinemäßig heraufbeschwören oder in vorab definierte Ausdrucksformen zwängen lässt. In Zeiten der Hyperpolitik erleben wir ein enormes Ausmaß an Politisierung, bei gleichzeitiger Desorganisiertheit. Proteste können aber Anlässe bieten, um anschlussfähige Forderungen in die Debatte einzubringen, eine glaubwürdige Alternative zur Sparpolitik der Ampel aufzuzeigen und Menschen so für bestehende linke Organisationen zu gewinnen.
Diese sozialen Forderungen liegen im Prinzip auf der Hand: Verteilungspolitisch wäre es äußerst sinnvoll, die massiven Übergewinne der Energieunternehmen zu besteuern. Das ist rechtlich möglich, wie gerade erst eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung bestätigte, und genießt in der Bevölkerung mit 76 Prozent laut Deutschlandtrend eine enorme Zustimmung. Auch der von den Gewerkschaften geforderte Energiepreisdeckel könnte ein gemeinsamer Ankerpunkt sein, ebenso wie die Weiterführung des 9-Euro-Tickets. Als langfristige Perspektive sollte die öffentliche und demokratische Kontrolle von Energieunternehmen, also ihre Vergesellschaftung, ins Auge gefasst werden.
All dies sind Forderungen, auf die man sich jetzt in einem breiten linken Bündnis einigen könnte. Es gibt keinen Grund, jetzt alle unsere Differenzen auszutragen. Stattdessen sollte es darum gehen, strategisch klug zu handeln und dort zuzuspitzen, wo die Linke etwas zu gewinnen hat.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.