06. September 2022
Deutschland versteht sich als Gesellschaft, in der Leistung belohnt wird. Doch der Großteil der Vermögen wurde nicht erarbeitet, sondern vererbt.
Die Summe der Erbschaften und Schenkungen in Deutschland wächst kontinuierlich.
IMAGO / Cover-ImagesWir leben in einer Leistungsgesellschaft, so lautet zumindest die gängige Erzählung. Doch beim Blick auf die Zusammensetzung von Vermögen, den wachsenden Trend zur Ungleichheit und die Rolle von Erbschaften drängt sich ein anderer Schluss auf. Mehr als die Hälfte aller Vermögen in Deutschland wurde nicht erarbeitet, sondern vererbt und verschenkt. Deutschland ist weniger eine Leistungs- als eine Erbengesellschaft.
Die extreme Vermögensungleichheit in Deutschland birgt das Potenzial, unsere Gesellschaft zu spalten und der Wirtschaft zu schaden. Trotzdem erfährt die Vermögensungleichheit viel weniger Aufmerksamkeit als etwa die Einkommensverteilung (das Jahresgutachten des Sachverständigenrats 2021 ist hierfür ein gutes Beispiel).
Dabei wäre mehr Bewusstsein für das Problem der wachsenden Vermögensungleichheit dringend notwendig. Denn während der Gini-Index (ein Maß für Ungleichheit, bei dem der Wert 1,0 bedeutet, dass eine Person alles besitzt und der Wert Null bedeutet, dass alle das Gleiche besitzen) für Einkommen nach Steuer- und Transferleistungen hierzulande bei etwa 0,3 liegt, beträgt er bezogen auf Vermögen etwa 0,83. Damit nimmt Deutschland in puncto Vermögensungleichheit einen unrühmlichen Spitzenplatz unter den Demokratien dieser Welt ein.
Die Vermögensungleichheit wird in Deutschland nicht direkt erfasst, sondern muss über verschiedene Erhebungen, Statistiken und Kalkulationen geschätzt werden. Seit die Vermögensteuer 1996 in Deutschland ausgesetzt wurde, fehlt uns zur Vermögensverteilung eine solide Datengrundlage.
Zum Zeitpunkt der Abschaffung der Vermögensteuer war die Ungleichheit im historischen Vergleich relativ gering, das Verhältnis von privatem Vermögen zum Nationaleinkommen lag unter 400 Prozent und das reichste 1 Prozent der Bevölkerung besaß 26 Prozent des Vermögens. Heute ist das Verhältnis zwischen Vermögen und Einkommen mit 511 Prozent so hoch wie zuletzt 1917. Die privaten Vermögen in Deutschland sind also stärker gewachsen als die Wirtschaftsleistung und heute mehr als fünfmal so umfangreich.
Und auch ihre ungleiche Verteilung hat sich verschärft: Mittlerweile besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung 35 Prozent des Gesamtvermögens. Titelte 2018 der Spiegel noch, dass 45 Superreiche so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung haben, besaßen 2021 lediglich zwei Familien mehr Vermögen als diese rund 41,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Deutschland ist nicht nur eine – auch im internationalen Vergleich – extrem ungleiche Gesellschaft, die Situation verschlimmert sich von Jahr zu Jahr.
Wenn die Schere zwischen Arm und Reich wieder geschlossen werden soll, müssen wir zunächst verstehen, woher die enormen Besitztümer der Reichen stammen und wie sie sich zusammensetzen. Vermögen kann entweder im Laufe eines Lebens angehäuft oder aber vererbt und verschenkt werden. Über die genaue Höhe der Erbschaften und Schenkungen in Deutschland können keine genauen Angaben gemacht werden, da die Erbschaftsteuer auf jeden einzelnen Erbvorgang statt insgesamt auf den Nachlass einer Person erhoben wird. Allerdings ist seit einigen Jahren von einer »Erbschaftswelle« die Rede – zu Recht. Denn nach Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) beträgt die jährliche Erb- und Schenkungssumme zwischen 2012 und 2027 bis zu 400 Milliarden Euro. Die Erbschaften und Schenkungen summieren sich somit auf mehr als 10 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts Deutschlands.
Die Frage nach der gerechten Besteuerung von Erbschaften wird weiter brisant bleiben. Dies belegen die empirischen Erhebungen zur demografischen Struktur der vermögenden Deutschen: 39 Prozent der Reichen sind 50 bis 64 Jahre und 38 Prozent über 65 Jahre alt; bei den Superreichen trifft dies auf 37 Prozent beziehungsweise 40 Prozent zu. Das bedeutet: Die Generation des Wirtschaftswunders vermacht den Babyboomern und ihren Nachkommen nun ihr Erspartes.
Nicht nur die Summe der Erbschaften und Schenkungen ist gewachsen, auch der Anteil der Erbschaften am Privatvermögen hat zugenommen. In den frühen 1970er Jahren machte der kumulierte Bestand an ererbtem Vermögen einen Anteil von weniger als 25 Prozent am Privatvermögen aus. Inzwischen können wir von einem Anteil von über 50 Prozent ausgehen. Das bedeutet, dass mehr als die Hälfte aller Vermögen heutzutage nicht selbst erwirtschaftet, sondern vererbt und verschenkt wurde. Das Narrativ eines Gemeinwesens, das Leistung belohnt, verkommt zunehmend zum Märchen.
Indes verstärkt unser jetziges Steuersystem diesen Trend, indem es Erbschaften (und Kapital generell) sehr viel niedriger besteuert als etwa Einkommen aus Lohn. Absurderweise kommt hinzu, dass auf besonders große Vermögen sehr viel weniger Steuern erhoben werden als auf kleinere Beträge. Erbschaften über 20 Millionen Euro werden etwa laut der neuesten Erbschaft- und Schenkungsteuerstatistik durchschnittlich mit 2,8 Prozent belastet, Erbschaften unter dieser Schwelle im Durchschnitt mit 9,0 Prozent. Jemand, der hingegen über 2.500 Euro im Monat durch seiner eigenen Hände Arbeit erwirtschaftet, zahlt darauf mehr als 10 Prozent Steuern.
Oftmals wird die niedrige Steuerquote damit begründet, dass es sich bei Erbschaften um Vermögen handele, das bereits versteuert wurde. Diese Argumentation ist rein normativ und von dynastischem Besitzstandsdenken sowie dem Verständnis geprägt, dass Vermögen über den Tod hinaus quasi im selben, da familiären, Besitz bleibt. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall. Gemäß der Ausgestaltung des deutschen Steuerrechts sind Erbschaften und Schenkungen neues, unverdientes Vermögen. Das bedeutet: Auf dieses Vermögen wurden zum Zeitpunkt, an dem es an die neuen Eigentümer übergeht, noch nie Steuern bezahlt. Das Narrativ der Doppelbesteuerung entbehrt jeglicher juristischen Grundlage. Denn die Steuer fällt – anders als in den USA – auf die Erben, nicht die Erblasserinnen.
Darüber hinaus ist wichtig zu betonen, dass diese Form der Besteuerung unserem Steuersystem grundsätzlich inhärent ist: Wenn Geld den Besitzer wechselt, wird es versteuert. So auch beim Bäcker: Wer sich ein Brötchen kauft, tut dies mit bereits versteuertem Einkommen – und dennoch fällt auf den Kauf die Mehrwertsteuer an. Nicht anders verhält es sich mit Erbschaften und Schenkungen. Ja, der Erblasser zahlte bereits Steuern – die Erbinnen aber eben nicht. Dennoch zahlen Erben effektiv sehr viel weniger Steuern auf ihr unverdientes Vermögen, als jemand, der für seine Brötchen einer Erwerbsarbeit nachgeht.
Der hohe Anteil der Erbschaften am Gesamtvermögen weist auch darauf hin, dass diese eine hohe Auswirkung auf die Ungleichheit haben – zumal sie kaum besteuert werden. Bis in die 1970er Jahre machten die Einnahmen aus der Erbschaftsteuer weniger als 0,5 Prozent der gesamten Steuereinnahmen aus. Erst 2016 wurde die Grenze von 1 Prozent am Gesamtsteueraufkommen erreicht. Selbst Raucher tragen durch die Tabaksteuer mehr zur Finanzierung des Staatshaushalts bei als Erben. Die Einnahmen aus der Tabaksteuer belaufen sich auf 14,3 Milliarden Euro, die aus Erbschafts- und Schenkungssteuer auf 8 Milliarden Euro. Einerseits lässt sich das niedrige Steueraufkommen durch hohe Freibeträge erklären, aufgrund derer ein erheblicher Anteil an Erbschaften kaum oder gar nicht besteuert wird (derzeit beträgt der Freibetrag 500.000 Euro für Ehegatten und 400.000 Euro für Kinder).
Andererseits gibt es aber auch immense Steuervorteile, die vor allem große Erbschaften verschonen. Eine Anfrage des Netzwerks Steuergerechtigkeit hat ergeben, dass im Jahr 2021 zehn »bedürftige« Firmenerbinnen und Firmenerben einen Steuererlass von knapp einer halben Milliarde Euro erhielten. Und generell gilt: Ab 10 Millionen Euro wirkt die deutsche Erbschaftsteuer nicht mehr progressiv, sondern sinkt prozentual zur Gesamterbschaft stark ab. »Damit wirkt die Erbschaftsteuer in der Praxis regressiv«, wie der Steuerexperte Stefan Bach betont.
Der Präsident des DIW, Marcel Fratzscher, macht Erbschaften als den wichtigsten Faktor für die hohe Vermögensungleichheit in Deutschland aus. Bereits heute läuft die Verteilung von Erbschaften und Schenkungen nach dem Matthäus-Effekt: »Denn wer hat, dem wird gegeben.« Derzeit erhalten die reichsten 10 Prozent der Gesellschaft die Hälfte aller Erbschaften und Schenkungen, während die ärmere Hälfte fast nichts oder sogar Schulden erbt.
Erbschaften werden voraussichtlich auch künftig starke Auswirkungen auf die Vermögensverteilung haben. Zu diesem Ergebnis kommt auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in einer groß angelegten Studie. In einer relativ konservativen Berechnung verschiedener Szenarien stellt die OECD dar, was mit hohen Vermögen geschieht, wenn Erbschaften und Vermögen nicht stark und progressiv besteuert werden. Über einen Zeitraum von fünf Generationen können die Reichen und Superreichen in ausnahmslos allen Modellen ohne hohe und stark progressive Steuern auf Erbschaften zusehen, wie ihr Kapital von 10 Millionen US-Dollar auf die horrende Summe von 60 Milliarden US-Dollar anwächst. Indem Staaten diese Vermögen unangetastet lassen, verhöhnen sie Menschen, die tatsächlich für ihren Lebensunterhalt arbeiten und ordentlich Steuern zahlen.
Ohne eine Änderung der Erbschaftsteuer und eine Beendigung der exzessiven Steuerprivilegien für Superreiche wird Deutschland nicht nur zunehmend zu einer Erbengesellschaft verkommen – der Status quo gefährdet die Demokratie.
Dieser Beitrag erschien erstmals in ähnlicher Form bei Finanzwende Recherche.
Martyna Berenika Linartas ist Doktorandin am Exzellenzcluster »Contestations of the Liberal Script (SCRIPTS)« an der Freien Universität Berlin. Sie ist Gründerin und Projektleiterin von ungleichheit.info, einer Initiative, die Wissen zu Ungleichheit allgemeinverständlich vermittelt.