28. August 2020
Als die Beschäftigten des Banking-Start-Ups N26 beschlossen einen Betriebsrat zu gründen, ging die Unternehmensführung aggressiv dagegen vor. Aller Versuche zum Trotz wird die Betriebsratswahl dennoch stattfinden. Aber wie geht es weiter?
Schwarze Bankkarte und Nutzungsoberfläche von N26
Der Abend, an dem ich alt wurde, ging eigentlich gut los. Es war das Jahr 2018, es war warm, ich war gerade bei einem Workshop gewesen und jetzt sollte es erst einmal Burger geben. Ich war im Bildungsurlaub auf einem Festival für Aktive der Labour-Partei in Liverpool. Dort trafen sich Mieter-Initiativen, Gewerkschaften, Zeitschriften und so weiter: mal was anderes als Seminar. Da kam Keno Böhme von links auf mich zu: Sportlich, intelligent, elegant zwischen Hochgeschwindigkeit als Lifestyle, radikaler Politik und Neuerfindung der Gewerkschaft NGG in der Plattformökonomie von Deliveroo und Lieferando. Ich kannte ihn aus Köln von »Liefern am Limit«, dem Projekt von und für Lieferdienst-Rider. Wir warteten auf die nächste Session des Politik-Festivals und unterhielten uns: Wie selbstverständlich dachte Keno in agilen Netzwerken und Perspektivwechseln während ich noch versuchte, Lefebvre und Castells zu verstehen. Endgültiger Ausweis des Digital Native: Er zückte eine transparente Karte aus dem Jackett, wedelte damit an der Kasse und hatte bezahlt. Ich kramte derweil noch meiner Hosentasche nach Pfundmünzen.
Diese Karte gehört zu einer App, diese App wiederum zur FinTech-Plattform N26. Valentin Stalf, Maximilian Tayenthal und ihre Investoren bauten die Smartphone-Bank in den Jahren von 2013 bis 2020 zum Portal für 5 Millionen Kunden aus. Mit einer Marktbewertung von 3,5 Milliarden Euro ist N26 ein sogenanntes»Unicorn« – ein Startup mit Börsenwert von über einer Milliarde Euro.
Das Unternehmen hat die Grenze zur Disruption erreicht, wie man es im Business-Deutsch sagen würde. Statt eines spezifischen Produkts macht N26 das Design der Nutzungserfahrung zu ihrem Kernangebot. Natürlich gibt es schon seit langem Direktbanken wie Comdirect und Online-Bezahldienste wie PayPal. Auch digitalisierte Konsumentenkredite per Click und mit automatisierter Schufa-Abfrage wie easyCredit sind nicht neu. N26 schafft es jedoch, all die Giroverfügungen, die aus Produkten der Sparkassen, der Bundespost, der Genossenschafts- und Privatbanken gewachsenen sind, sowie die Versicherungen und Kreditkartenverifizierungstechniken in einer nahtlosen Nutzeroberfläche zu bündeln. N26 ist ein gutes Beispiel des Informationskapitalismus: Sicherlich gibt es neue Erfindungen, neue Technologien, ja sogar 3D-gedruckte Gebäude. Die meisten neuen Akteurinnen und Akteuren auf dem Markt sind aber deswegen erfolgreich, weil sie in ihrem jeweiligen Geschäft die gradlinige Entwicklung durchbrechen und vorhandene Funktionen neu zusammensetzen: So wie Amazon durch die Vereinigung von digitalem Katalog, Bestellsystem, Warenlager und Paketdienst eine Bestellung mit einem einzigen Klick ermöglicht, so setzt N26 all die Bankgeschäfte und Versicherungen in eine gemeinsame Oberfläche zusammen.
Das Konzept funktioniert, sofern man diszipliniert digital ist – also wenig telefonischen Beratungsbedarf hat sowie die gesundheitliche und nervliche Befähigung, das eigene Geld per Touchscreen zu sortieren. Ärger gab es dann mit uneinsichtiger Kundschaft, die mehrmals im Monat Bargeld abhob und den Kundensupport über Gebühr strapazierte. Aber auch mit Behörden, die kleinliche Probleme zur gesicherten Identifikation der Kundschaft, zu Geldwäsche oder zuordbaren Transaktionen aufwarfen.
Kritisch wurde es, als einige Banken wegen Sicherheitsmängeln vorübergehend Überweisungen an N26-Konten abstellten. N26 steckte Ende der 2010er Jahre in der Zwickmühle: Hier das Ideal, mit Geld wie mit digitalen Fotos umgehen zu können, dort die Herausforderung, als echte Bank Kundendienst und Sicherheitsvorkehrungen leisten zu müssen.
Die offensichtliche Antwort, Personal und Kompetenz aufzubauen, produzierte jedoch eine Dynamik, die August 2020 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte: Mit nun 1.500 Beschäftigten, davon 1.300 in Deutschland, veränderte sich der Charakter der Arbeit. Das Koordinieren der kreativ zusammengekauften Dienstleistungen und das Design der Nutzungserfahrung sind nun nur noch ein Teil der Leistung. Neben Marketing, Entwicklung und Finance treten Service, IT-Sicherheit, Personal- und Teamleitung hinzu. Die ursprüngliche Start-Up-Allianz zwischen Leuten mit einer wirtschaftlichen Idee und fähigen Kreativen, die technisch und kommunikativ etwas erschaffen wollen, war damit zerbrochen. Aus den Entrepreneuren »Max und Valentin« wurden Arbeitgeber. Die aktuellen Einträge zu Arbeitsatmosphäre, Vorgesetztenverhalten und Kommunikation auf dem Arbeitgeber-Bewertungsportal Kununu gleichen eher denen einer Friseurkette als denen eines Unternehmens, dass sich an den neo-technokratischen Konzepten von New Work orientiert und zumindest vorgibt, alte Hierarchien und den Widerspruch von Kapital und Arbeit aufheben zu wollen. Karriere und Gehalt: ein bis zwei Punkte.
Mit der Unzufriedenheit über »ergebnisorientierte« Teamleitungen im mittleren Management stieg auch die Aktivität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Servicebeschäftigte fühlten sich ungleich behandelt. Die Außendarstellung als kleines, agiles, intelligentes Start-Up passte immer weniger zur betrieblichen Realität eines Call Centers mit angeschlossenen IT- und Marketing-Abteilungen. Am 3. August war es dann soweit: Die Initiative »Worker26« zur Gründung eines Betriebsrats trat mit Unterstützung der internationalen Gruppe »Tech Workers Coalition« an die Öffentlichkeit. N26 reagiert mit einer Strategie zur konzentrischen Verteidigung einer Festung: Rückzug und Ausfall.
Schritt eins war der Appell an die ursprüngliche Allianz mit den Nerds und Kreativen: »Wir wollten es doch anders machen, wir wollen keine Barrieren zwischen uns.« Worker26 schaffte trotzdem – ohne Steuerung durch Erschließungsprojekte der ver.di oder Ähnlichem – eine neue Allianz von hierarchiemüden Hochqualifizierten und prekären Servicebeschäftigten zu erwirken. Als Schritt zwei folgte das Silicon-Valley-Versprechen: Ja, wir brauchen Mitbestimmung, aber auf unsere Art und passgenau für Start-Ups. Worker26 ging dennoch weiter und meldete die Einrichtung des Wahlvorstands im Hofbräu Berlin an. Der Wahlvorstand wird vom Gesetz zur Gründung eines Betriebsrats vorgeschrieben und bereitet die formale Wahl des Betriebsrats vor. Ein erfolgreich gegründeter Wahlvorstand ist oft ein Testlauf: Stehen die Beschäftigten hinter der Idee, machen sie trotz Druck des Arbeitgebers und trotz bürokratischer Vorschriften des Gesetzestexts aus den 1970ern mit? Worker26 bestand diese erste Prüfung.
Schritt drei des Managements war die Ausfallattacke. Mit einer Verfügung gegen Worker26 und einem Appell an das Coronabewusstsein der Beschäftigten sollte der Schritt verhindert werden. Worker26 ist inzwischen jedoch sowohl in interner Kommunikation als auch in Netzwerkarbeit geübt. Das Team hat seit 2019 ein belastbares Vertrauensverhältnis zu ver.di aufgebaut: So reicht ein Anruf um die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di vom Nebentisch ans Podium zu holen. Als rechtliche Anmelderin sollte ver.di dieselbe Veranstaltung durchführen und so die gerichtliche Verfügung umgehen. N26 reagierte mit einer neuen Verfügung, jetzt gegen ver.di als Veranstalterin. Innerhalb von Stunden stand eine neue Einladung zum selben Termin, diesmal mit dem Logo der IG Metall als Veranstalterin. Die EVG stand als Springerin bereit. Das Netzwerk funktionierte: Der Wahlvorstand wurde gewählt, die von N26 herbeigerufenen Polizei konnte nur feststellen, dass Gewerkschaften durchaus in der Lage sind, ein Hygienekonzept zu realisieren.
Schritt vier wiederholte Schritt zwei auf höherer Ebene: N26 entschuldigte sich und stellte klar, dass man selbstverständlich mit dem Betriebsrat kooperiere und die Betriebsverfassung respektiere; nur eben moderner und digitaler als der verstaubte Gesetzestext von 1972. Die Rückhand des Schlags erfolgte im Tandem per Blogpost des N26-Investors Marcus Mosen (Ex-Treuhandanstalt, Ex-Otelo) und per LinkedIn-Post des N26-Unternehmensanwalts Enis Arkat. Mosen versuchte sich an einem neuen Framing: Die Hierarchisierung von N26 sei das Ergebnis der Organisierung, nicht der Unternehmensentwicklung.
Er bemühte die Psychologie des Shitstorms zur Erklärung der Eskalation. Arkat nahm den Faden auf und knüpfte an: Worker26 und ihre Online-Fans seien Wutbürgerinnen und Wutbürger, implizit eine populistische Gefahr. Gegen wen die Rückhand zielte, machte Moser klar: Die betriebsfremden Gewerkschaften, unterstützt von SPD und Twitter, seien gar nicht an echter Mitbestimmung interessiert und nur hinter den Monatsbeiträgen der verführten Beschäftigten her. Und das, obwohl sie in den 1980ern mit der DGB-Genossenschaft Neue Heimat sowie der genossenschaftlichen Handelskette Coop selbst am Unternehmertum gescheitert waren. Dass dieses Scheitern in den 1980ern der kleinbürgerlichen Korruption des Gewerkschaftsmanagements von damals genauso wie der kreativen Kreditpolitik einiger Finanzkonzerne zu verdanken war, tut hier wenig zur Sache. Aber das zentrale strategische Ziel ist nicht unbedingt einen Betriebsrat konkret zu verhindern, der je nach handelnden Personen mehr oder weniger ausrichten kann. Das Bundesarbeitsgericht hat eben erst im Verfahren gegen den Softwareriesen SAP die Gewerkschaften als Wesensmerkmal des deutschen Wirtschaftsmodell betont. Hier geht es darum Gewerkschaften als politische Akteure und als Forum der Selbstorganisation der Beschäftigten aus neugegründeten Unternehmen – und bestenfalls aus ganzen Branchen – herauszuhalten.
Zwischenstand trotz alledem: Der Wahlvorstand ist aufgestellt, die Betriebsratswahlen sind in Vorbereitung. Das schnelle Reagieren der ver.di und die Fähigkeit zur Vernetzung sorgte für Sympathien bei der Initative Worker26 und den Beschäftigten. Die Diskussionen finden wieder auf Messengerdiensten statt auf Twitter und LinkedIn statt. Parteien und Zeitungen verkaufen ihre hilflosen Texte zur Bedeutung von Betriebsräten und deren Digitalisierung.
Schritt vier war jedoch Kern der N26-Strategie und das Ergebnis ist noch offen. Ob N26 es schafft, sich durch ihr Framing einen gewerkschaftsfernen Betriebsrat herbeizuwünschen, hängt von drei Ebenen ab: Gelingt es Worker26, glaubwürdig als Initiative aus dem Unternehmen und für das Unternehmen aufzutreten und trotzdem ver.di als Dach und Supportstruktur anzunehmen? Hier besteht die Herausforderung darin, darzustellen, dass das Logo ver.di schlicht eine Chiffre für die überbetriebliche Ebene der genuinen und auf Augenhöhe stattfindenden Selbstorganisierung der Beschäftigten ist. Scheitert dies, wird Worker26 auf Distanz zu ver.di gehen, um den Verdacht der Fremdsteuerung loszuwerden. Das wird den N26-Betriebsrat jedoch Wirkung, Chancen auf Strukturaufbau und den Zugang zu gewerkschaftlichen Netzwerken, Beratung und Qualifizierung kosten.
Gelingt es ver.di, ihren Anspruch als »Gewerkschaft der 1000 Berufe« glaubwürdig auf die spezifische Belegschaft eines Unternehmens an der Schwelle zwischen Start-Up und Bankkonzern anzuwenden? Entscheidend wird sein, ob jenseits von Taktiken des »Diensts nach Vorschrift« auch das produktive und kreative Ethos der Beschäftigten aufgegriffen werden kann. Traditionen des Mutualismus und der genossenschaftlichen Aufbau-Mentalität – man denke hier an den Ursprung der Neuen Heimat und Coop in der Selbstorganisation der Beschäftigten direkt nach dem Zweiten Weltkrieg – können hier als Quelle für eine Erneuerung klassischer Ideen dienen. Auch aktuelle Experimente wie etwa gemeinsame Lobbyarbeit von Ökobanken mit ver.di können ein Sprungbrett für die Mitgliederarbeit in FinTechs sein. Andernfalls droht der Verlust von Prestige, Erfahrungswissen und eine organisationspolitische Nullrunde.
Wird es den Alteingesessenen des gewerkschaftlichen und politischen Kosmos gelingen, der N26-Betriebsrätin aus dem Call Center oder dem App Development eine Schnittstelle zu bieten? An dieser Stelle sind die Tech Workers Coalition und der DGB, aber auch die politischen Medien, Parteien, Stiftungen und informellen Netzwerke gefragt. Sind die Inhalte und der Modus des N26-Betriebsrats willkommen oder wird er als produktivistisch erachtet und daher draußen gehalten?
Finden sich die Neuzugewanderten aus dem FinTech auf Jacobin und Gegenblende, auf Konferenzen und dem 1. Mai wieder, dann gewinnen wir das Erfahrungswissen aus N26 für unsere Arbeit. Vor allem die im Koalitionsvertrag angekündigte, von den Gewerkschaftskongressen geforderte und vor allem in ortlosen, digitalen und mobilen »Betrieben« bitter notwendige Novellierung des Betriebsräterechts von 1972 braucht die Kolleginnen und Kollegen des FinTechs. Damals waren es die Wilden Streiks in der neuen Massenindustrie und die »Gastarbeiter«, die Gewerkschaften und SPD vor sich hertrieben. Heute können die »Platform Worker« den nötigen Schock auslösen, der zwei von Kenos Ideen von 2018 realisiert: Kommunikations- und Streikrecht in der App sowie Gewerkschaften, die fähig sind, zu kämpfen. Sollten die Ökonominnen und Sozialforscher der gewerkschaftlichen Böckler-Stiftung und der arbeitgebernahen Bertelsmann-Stiftung recht behalten, dann wird die mobile Arbeit im Home Office auf der digitalen Plattform und per App den deutschen Arbeitsmarkt so prägen wie die Industrie der 1970er. Die Besitzerinnen und Besitzer der Apps werden versuchen, die klassischen Arbeiterinnen und Arbeiter mit Arbeitsvertrag zu ersetzen. Die Bedingungen während der Corona-Pandemie sind hier Vorboten, die zeigen, was auf uns zukommt.
Falko Blumenthal arbeitet in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, vor allem zu den Themenfeldern Gewerkschaftspolitik, Arbeitsmigration und Stadtraum.