14. Oktober 2024
Vor etwa einem Jahr haben aserbaidschanische Truppen Bergkarabach eingenommen. Die Spuren der Gewalt sind bis heute nicht verschwunden. Die Geschichten der Menschen, die diesen Konflikt durchlebt haben, offenbaren die tiefen Wunden eines Kriegs, in dem kein Frieden in Sicht ist.
Lala (r.) mit ihren Eltern und ihrem Neffen am Grab ihrer Schwester auf dem Militärfriedhof Yerablur in Jerewan.
Am 12. September 2020 hatte Gayane, eine 42-jährige Mutter von vier Kindern, noch kurz ihren achtjährigen Sohn Hayk (Name geändert) angerufen. Sie wollte sich melden und ihm mitteilen, dass sie für eine Weile nicht erreichbar sein würde. Nur wenige Wochen zuvor war sie mit ihrem Armeeregiment nach Sotk, die letzte armenische Stadt vor der aserbaidschanischen Grenze, entsandt worden, um dort Wache zu schieben. Weder Gayane noch Hayk hätten sich vorstellen können, dass dies das letzte Mal sein würde, dass sie ihre Stimmen hören würden. Denn nur wenige Stunden nach dem Telefonat starteten die aserbaidschanischen Streitkräfte Artillerie- und Drohnenangriffe auf Militärstellungen und zivile Infrastruktur entlang der Grenze. In nur zwei Tagen wurden bei den Kämpfen rund 300 Soldaten getötet.
Als die Nachricht vom aserbaidschanischen Angriff eintrudelte, begann eine Frau namens Lala sofort, Krankenhäuser in der Nähe der Front anzurufen, um zu erfahren, ob ihre Schwester Gayane unter den Verletzten war. »Es gab eine aktuelle Karte des Kriegsverlaufs. Als wir dort nachschauten, sahen wir, dass es passiert war [dass das Gebiet, in dem Gayane stationiert war, von Aserbaidschan eingenommen wurde]. Wir wussten sofort, dass sie tot war. Der nächste Schritt bestand darin, sie zu finden«, erinnert sich Lala in einem Café in der armenischen Hauptstadt Jerewan.
Luftaufnahme von Tegh, einem der letzten armenischen Dörfer vor Bergkarabach. Noch im Frühjahr dieses Jahres kam es hier zu Schusswechseln zwischen aserbaidschanischen und armenischen Streitkräften.
Sie verbrachte die nächsten Tage damit, über aserbaidschanische Telegram-Kanäle nach ihrer vermissten Schwester zu suchen. Ihr war bewusst, dass in diesem Krieg brutale Misshandlungen zur Normalität geworden waren. Entsprechende Videos tauchten im Internet auf. »Es ist wirklich schrecklich, das zu sagen, aber das war für uns ein Vorteil bei der Suche nach ihr«, so Lala. »Weil sie eine Frau war, waren wir sicher, dass ein Video gepostet werden würde.«
»Ich hätte mir nie vorstellen können, dass Menschen einem anderen Menschen so etwas antun können.«
Tatsächlich wurden Lalas schlimmste Albträume am 15. September 2020 wahr: Sie fand ein Video, in dem der leblose Körper ihrer Schwester zu sehen war, nackt und verstümmelt, mit aufgeschlitzter Haut und entstelltem Gesicht. In einem letzten Akt der Grausamkeit war ihr ihr eigener Finger in den Mund gestopft worden. Vermutlich wurde Gayane bei einem Luftangriff der aserbaidschanischen Armee getötet, bevor ihr Körper geschändet wurde. Jacobin hat das Video und die Fotos von Gayane, die auf aserbaidschanischen Telegram-Kanälen veröffentlicht wurden, gesichtet. Aufgrund der extremen Brutalität der Bilder haben wir uns entschieden, diese hier nicht weiterzuverbreiten.
»Ich hätte mir nie vorstellen können, dass Menschen einem anderen Menschen so etwas antun können«, sagt Lala. Es dauerte zwei Monate, bis Aserbaidschan Gayanes sterbliche Überreste im Rahmen eines der vielen Austausche verstorbener Soldaten nach Armenien überstellte. Lala will weiter über den grausamen Tod ihrer Schwester reden: »Vielleicht hören sie auf, uns zu hassen, wenn sie solche Geschichten hören.«
Armenierinnen und Armenier beten im Kloster Geghard.
Die Gefechte waren Teil einer größeren Offensive Aserbaidschans im Jahr 2020. Ziel war die Rückeroberung von Bergkarabach, einer Region mit einer damals zu rund 95 Prozent ethnisch-armenischen Bevölkerung innerhalb der international anerkannten Grenzen Aserbaidschans. Beide Nationen erheben seit langem Ansprüche auf das Gebiet. Diese wurden während der Sowjetherrschaft weitgehend unterdrückt. Als sich die Sowjetunion jedoch Ende der 1980er Jahre ihrem Zusammenbruch näherte und neue Grenzziehungen möglich erschienen, entzündete sich der jahrhundertealte Streit erneut und führte zu einem ersten Krieg.
»Es gab und gibt viele Hass-Geschichten darüber, was Armenier Aserbaidschanern angetan haben. Diese sind sicherlich nicht unbegründet, aber sie wurden von der Regierung über dreißig Jahre lang wie ein Mantra immer wieder eingesetzt.«
»In den 1990er Jahren war das armenische Militär sehr stark und konnte die aserbaidschanische Armee klar besiegen«, fasst Marylia Hushcha, Forscherin am International Institute for Peace, zusammen. Auf diesen Sieg Armeniens folgte die Gründung der selbst ernannten Republik Arzach. Die abtrünnige Region stand der armenischen Regierung nahe, erstreckte sich über Bergkarabach, aber auch über die umliegenden Gebiete, die überwiegend von Aserbaidschanerinnen und Aserbaidschanern bewohnt wurden. Der Krieg forderte mehr als 30.000 Tote auf beiden Seiten und führte zur Vertreibung von mehr als 500.000 aserbaidschanischen Menschen – etwa acht Prozent der aserbaidschanischen Gesamtbevölkerung – die ins Kernland flohen.
Ein Bericht von Human Rights Watch aus dem Jahr 1994 dokumentiert zahlreiche Verstöße gegen das Kriegsrecht, die größtenteils von armenischen und karabach-armenischen Streitkräften begangen wurden. Zu diesen Verstößen gehören die gezielte und wahllose Bombardierung von Wohngebieten, Zwangsumsiedlungen, Geiselnahmen, Plünderungen, Vergewaltigungen und das Niederbrennen von Wohnhäusern. Der Report verweist außerdem auf Hinrichtungen von Kriegsgefangenen; es wird von schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht berichtet.
Janettas Enkelin riecht an frisch gebackenem Brot, das ihre Mutter gebacken hat.
»Diese Berichte über vertriebene Aserbaidschaner nährten die Regierungspropaganda«, erklärt Hushcha. »Es gab und gibt viele Hass-Geschichten darüber, was Armenier Aserbaidschanern angetan haben. Diese sind sicherlich nicht unbegründet, aber sie wurden von der Regierung über dreißig Jahre lang wie ein Mantra immer wieder eingesetzt.«
Aserbaidschan brauchte fast dreißig Jahre, um seine militärische Stärke (auch dank der hohen Einnahmen aus Öl- und Gasexporten) wieder aufzubauen und in die Offensive zu gehen. Laut Hushcha sind die alten Wunden nicht verheilt, es gehe vor allem um Rache: »Was Armenien vor dreißig Jahren Aserbaidschan angetan hat, wollten die Aserbaidschaner nun den Armeniern antun.«
Im Sommer 2020 kam es erneut zu diversen Spannungen. Am Morgen des 27. September brach dann ein 44 Tage andauernder offener Krieg aus. Annahit Geworgjan, eine 34-jährige Mutter von vier Kindern, war damals mit ihren Kindern zu Hause in Martuni in Bergkarabach, als die Luftangriffe begannen. Während einer Pause in ihrer neu eröffneten Bäckerei am Stadtrand von Jerewan erinnert sie sich: »Die Luftangriffe klangen sehr nah – viel näher als es früher der Fall war.« Ihr Ehemann Igor (41) war gerade von der Arbeit zurückgekehrt und sah auf dem Heimweg Drohnen am Himmel. Er drängte die Familie, in einem Luftschutzbunker im Stadtzentrum Zuflucht zu suchen.
»Wir hatten nicht einmal ein Stück Brot. Wir wollten, dass die kleinen Kinder nach Armenien gehen, weil wir dachten, sie würden sterben. Wir wussten einfach nicht mehr, wie und wohin es weitergehen sollte.«
Während sie mit anderen Zivilisten dorthin unterwegs waren, erschütterte eine Explosion in der Nähe ihr Fahrzeug: »Plötzlich spürte ich, wie etwas auf uns drückte. Wir alle verloren für ein paar Minuten das Bewusstsein. Als ich aufwachte, war da eine weiße Wolke, und ich konnte nichts hören [wegen der Explosion]. Ich sah, dass sie eine Bombe in das Haus neben uns geworfen hatten – wir waren alle verletzt und ich bemerkte, dass meine Tochter nicht atmete«, so Annahit.
Igor, der weitere Zivilisten in einem Bus zum Schutzraum transportierte, eilte zum Auto seiner Familie. Mithilfe anderer hob er die Verwundeten – darunter seine Frau Annahit und ihren dreijährigen Sohn Artsuik – vorsichtig in den Bus. Die achtjährige Tochter Viktoria und ein Nachbar waren bereits tot. Igor brachte die Verletzten schnell ins Krankenhaus, wo die Ärzte seine Frau und seinen Sohn, die beide schwer verwundet waren, retteten. Die Ärzte empfahlen, Artsuiks Arm und einen Teil seines Beins zu amputieren, da diese von Granatsplittern durchdrungen waren.
Grab eines gefallenen armenischen Soldaten.
Igor wehrte sich dagegen und brachte seine Familie nach Jerewan, wo sein Sohn einen Monat lang im Krankenhaus blieb und sich zwölf Operationen unterzog, um die Splitter entfernen zu lassen. Aufgrund der zahlreichen Operationen ist sein Körper bis heute leicht deformiert. Die Ärzte konnten nicht alle Splitterteile entfernen. Weitere Operationen soll es nicht geben; diese seien zu riskant.
Trotz eines von Russland vermittelten Waffenstillstands zwischen Armenien und Aserbaidschan dauerte es nicht lange, bis Aserbaidschan seine Militäroffensive wieder aufnahm. Fast zwei Jahre nach der Rückeroberung vieler Gebiete, die es in den 1990er Jahren an Armenien verloren hatte, verhängten aserbaidschanische Streitkräfte am 12. Dezember 2022 eine Blockade über den Latschin-Korridor. Dieser Landstreifen war die einzige Verbindung zwischen dem armenischen Kernland und Bergkarabach und somit von höchster Bedeutung für den Waren- und Personenverkehr. Durch seine Schließung wurden alle Verbindungen zwischen den beiden Regionen effektiv unterbrochen. Etwa 120.000 Karabach-Armenier waren von nun an auf sich allein gestellt und von der Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten aus Armenien abgeschnitten.
»Laut Amnesty International traf die Blockade ältere Menschen und Kinder besonders hart. Aufgrund des Brennstoffmangels mussten Krankenhäuser viele Operationen aufschieben und Schulen wurden geschlossen, weil die Gebäude nicht mehr beheizt werden konnten.«
Janetta, eine 66-jährige Großmutter aus der Hauptstadt von Bergkarabach, Stepanakert (beziehungsweise Chankendi auf Aserbaidschanisch), erinnert sich an die damaligen Bedingungen: »Uns gingen die Lebensmittel und der Strom aus, wir hatten nichts mehr.« Die ganze Familie habe oft hungern müssen: »Wir hatten nicht einmal ein Stück Brot. Wir wollten, dass die kleinen Kinder nach Armenien gehen, weil wir dachten, sie würden [in Bergkarabach] sterben. Wir wussten einfach nicht mehr, wie und wohin es weitergehen sollte.«
Laut Amnesty International traf die Blockade ältere Menschen und Kinder besonders hart. Aufgrund des Brennstoffmangels mussten Krankenhäuser viele Operationen aufschieben und Schulen wurden geschlossen, weil die Gebäude nicht mehr beheizt werden konnten. Der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, bezeichnete die Blockade als versuchten Völkermord: »Hunger ist eine unsichtbare Waffe des Genozids«, sagte er mit Verweis auf die Definition der Völkermordkonvention. Demnach beinhaltet Genozid Handlungen, die darauf abzielen, eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören, einschließlich »der absichtlichen Zufügung von Lebensbedingungen, die auf ihre physische Zerstörung abzielen«.
Janetta und ihr Ehemann in dem Haus, das sie in Kordnizor gemietet haben – einem armenischen Dorf, das nur wenige hundert Meter von den aserbaidschanischen Stellungen in Bergkarabach entfernt liegt.
Aserbaidschanische Beamte wiesen die Vorwürfe zurück und argumentierten, die Kontrollübernahme über Latschin sei aus Sicherheitsgründen notwendig gewesen. Ocampos Bericht wurde als »überaus fehlerhaft in Bezug auf Fakten, Recht und Inhalte« kritisiert, ohne dass jedoch konkrete Gegenargumente vorgebracht wurden.
Die Blockade endete abrupt am 19. September 2023, als Aserbaidschan einen erneuten Angriff auf Bergkarabach startete und fast alle 120.000 in dem Gebiet noch lebenden Karabach-Armenier in die Flucht nach Armenien trieb. Karine Agateljan, eine 63-jährige Frau aus Berkadzor, unterhielt sich zu Hause mit Verwandten, als die Offensive begann. Eines ihrer Enkelkinder kam früher als üblich aus der Schule und berichtete, das aserbaidschanische Militär habe begonnen, Bergkarabach zu beschießen. »In diesem Moment begannen auch die Bombenangriffe in der Nähe unseres Dorfes. Ich weiß noch, wie mein Enkel sagte, er habe Angst, dass jetzt die Türken [d. h. Aserbaidschaner] kommen würden«, erzählt Agateljan in ihrem neuen Zuhause in Jerewan. Während der Rest ihres Dorfes damals in einen Luftschutzbunker eilte, sei sie zu Hause geblieben und habe darauf gewartet, dass ihr anderes Enkelkind von der Schule zurückkam. Als sie im Auto auf dem Weg zum Schutzraum waren, schlug in der Nähe ein Artilleriegeschoss ein. Scherben und Trümmer flogen durch die Luft. Agateljan und ihr Enkel Jura gehörten zu den am schwersten Verwundeten. Die meisten Dorfbewohner hatten den Schutzraum zum Zeitpunkt des Angriffs bereits erreicht.
Schließlich trafen Wagen ein, um Agateljan und ihre Familie zu evakuieren. Aufgrund ihrer schweren Verletzungen wurde sie von russischen Friedenstruppen sofort nach Jerewan geflogen, wo sie und Jura sich mehreren Operationen unterziehen mussten, bei denen Granatensplitter entfernt wurden. Sie sagt rückblickend: »Die Aserbaidschaner sind die Aggressoren. Sie sind Bestien. Wir wissen nicht, warum sie uns ins Visier genommen haben [...]. Es gab keine armenischen Soldaten im Dorf, nur Zivilisten.«
Hayk mit seinen Großeltern.
Nach diesem jüngsten Militäreinsatz sind Armenien und Aserbaidschan weiterhin tief verfeindet. Die eine Seite leidet weiter unter der Vertreibung und dem historischen Trauma des Völkermords zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die andere Seite schwelgt (derzeit) in einem neu gewonnenen Gefühl der Erlösung und des Triumphs.
Es gibt aber auch vorsichtige Versuche, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Die armenische Regierung hat mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew über ein Friedensabkommen verhandelt. Armenien machte dabei Zugeständnisse: Es hat seine Bewerbung als Gastgeber der COP 29 zugunsten von Baku zurückgezogen, von der Drohung erneuter militärischer Vergeltungsmaßnahmen abgesehen sowie die Kontrolle über vier aserbaidschanisch geprägte Dörfer aufgegeben, die es in den 1990er Jahren erobert hatte.
»Die Waffen werden erst schweigen und der Himmel wird von Bomben und Drohnen befreit sein, wenn es ein ehrliches Friedensabkommen gibt und intensiv daran gearbeitet wird, die Wunden in beiden Ländern zu heilen.«
Hushcha merkt an, viele Armenierinnen und Armenier seien deswegen mit Premierminister Nikol Paschinjan unzufrieden. Er ignoriere historisches Unrecht bei seinen Versuchen, Kompromisse mit Aserbaidschan und auch mit der Türkei zu finden. »Für alle Menschen, die während des Krieges ihr Zuhause und ihre Familienangehörigen verloren haben, ist es schwer, solche Dinge zu akzeptieren«, so die Forscherin. Auch sie meint: »Gerechtigkeit steht bei diesen Friedensverhandlungen zumindest nicht ganz oben auf der Tagesordnung.«
Bilder aus dem Familienalbum von Gayane.
2021 hatte die armenische Regierung allerdings beim Internationalen Gerichtshof (IGH) eine Klage gegen Aserbaidschan eingereicht und Baku der »staatlich geförderten« rassistischen Diskriminierung von Armeniern bezichtigt. Unabhängig davon reichte die amerikanisch-armenische NGO Center for Truth and Justice (CFTJ), die seit 2020 Kriegsverbrechen dokumentiert, im vergangenen April eine Klage beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ein. Die Gruppe ruft den Hauptankläger des Gerichts, Karim Khan, auf, Alijew und andere hochrangige aserbaidschanische Beamte wegen des Verdachts auf Völkermord anzuklagen.
Ob und in welchem Ausmaß diese Klagen erfolgreich sind, bleibt abzuwarten. Die armenische Regierung dürfte sich jedenfalls vorbehalten, ihre Klage vor dem IGH zurückzuziehen, wenn sie dies für ein Friedensabkommen mit Aserbaidschan für notwendig hält. Darüber hinaus ist Aserbaidschan nicht dem IStGH beigetreten. Es ist somit fraglich, inwieweit dieses Gericht überhaupt für die Klage des CFTJ zuständig ist oder sein kann. Mehr noch: Da Bergkarabach international als Teil Aserbaidschans anerkannt war und ist, könnte der IStGH bei der Untersuchung mutmaßlicher Kriegsverbrechen in der Region auf weitere Schwierigkeiten stoßen. Angesichts dieser juristischen Mängel sind Zweifel angebracht, ob den Opfern des Konflikts tatsächlich Gerechtigkeit widerfahren wird.
Menschen legen am 23. April 2024 Blumen am Genozid-Denkmal Zizernakaberd nieder. Laut Schätzungen wurden in den Jahren 1915 und 1916 bis zu 1,2 Millionen Armenier vom Osmanischen Reich getötet.
Gassia Apkarian, eine der Gründerinnen des CFTJ, befürchtet ebenfalls, die armenische Regierung könnte ihre Klage vor dem Internationalen Gerichtshof fallen lassen, um ein Friedensabkommen mit Aserbaidschan zu erreichen. »Das Mantra, das [das CFTJ] immer wieder wiederholt, ist: wir werden keinen dauerhaften Frieden haben können, wenn nicht gleichzeitig Gerechtigkeit geübt wird«, sagt sie. Das immer wiederkehrende Problem, »das wir seit dem Völkermord an den Armeniern 1915 und allen nachfolgenden Gräueltaten haben, ist: Wenn man Menschen nicht verantwortlich macht, können solche Taten immer wieder und ungestraft wiederholt werden. Deswegen ist Gerechtigkeit für Frieden unerlässlich.«
Sie schließt: »Die Waffen werden erst schweigen und der Himmel wird von Bomben und Drohnen befreit sein, wenn es ein ehrliches Friedensabkommen gibt und intensiv daran gearbeitet wird, die Wunden in beiden Ländern zu heilen. [...] Organisationen wie die unsere müssen existieren, um die Wahrheit anzusprechen und sie zu verteidigen – auf beiden Seiten des Konflikts.«
Omar Hamed Beato ist ein spanischer Fotojournalist, der im Nahen Osten lebt. Er beschäftigt sich mit den Themenfeldern Konflikte, Klimawandel, Migration und Soziales. Für eine Reportage verbrachte er mehrere Monate vor Ort in Bergkarabach, um die Nachwirkungen der aserbaidschanischen Invasion zu dokumentieren.