10. August 2022
Im JACOBIN-Interview spricht die Philosophin darüber, warum die Analyse des Kapitalismus der Schlüssel zum Verständnis unserer Gesellschaften bleibt.
Für Nancy Fraser bleibt der Kapitalismus zentral.
Die Karriere der Philosophin Nancy Fraser reicht von der Ära der Neuen Linken über die neoliberale Periode bis hin zur gegenwärtigen Wiederbelebung sozialistischer Politik. Fraser besteht bis heute darauf, dass der Kapitalismus die zentrale Analysekategorie ist, um unsere soziale, politische und wirtschaftliche Realität zu begreifen. Das hat ihr innerhalb der Kritischen Theorie eine Art Sonderstellung eingebracht. Fraser ist Autorin von Justice Interruptus (1997), Fortunes of Feminism (2013) und Cannibal Capitalism (2022) sowie zahlreicher einflussreicher Analysen zur politischen Philosophie, Kritischen Theorie und dem Feminismus. In jüngster Zeit beschäftigt sie sich vor allem mit den Verstrickungen zwischen »Race«, Klasse und Gender.
Lillian Cicerchia sprach mit Fraser über ihr Verhältnis zur Frankfurter Schule und zur Neuen Linken, sowie darüber, welche Klassentheorie wir heute brauchen.
Du gehörst zur dritten Generation der Frankfurter Schule. Wie fügt sich diese Strömung in die Tradition der Kritischen Theorie ein? Hältst du diese Kategorisierung für sinnvoll?
Ich identifiziere mich auf jeden Fall mit der Frankfurter Schule und ihrer späteren Entwicklung und ich werde in der Regel mit ihr in Verbindung gebracht. Aber es gibt auch andere Denktraditionen, die mich stark beeinflusst haben, etwa der amerikanische Pragmatismus, der frankofone Poststrukturalismus und natürlich der Feminismus. Wenn ich mich einer Generation zuordnen müsste, würde ich mich am ehesten in der Neuen Linken verorten. Meine politische und intellektuelle Weltanschauung wurde in den USA im Kontext der Bürgerrechtsbewegung, der Anti-Kriegsbewegung, der Students for a Democratic Society (SDS), der Entwicklung des Marxismus und der Suche nach einem zeitgemäßen Marxismus geformt.
Im Studium habe ich 1968 Der eindimensionale Mensch von Herbert Marcuse gelesen. So habe ich die Frankfurter Schule für mich entdeckt. Das Buch hat mich sehr berührt. Ich hatte das Gefühl, in einer Gesellschaft zu leben, die ihren Liberalismus und ihr Freiheitsversprechen lautstark vor sich hertrug, aber während des Kalten Krieges in einer ideologischen Zwangsjacke gefangen war. Diese Empfindung hat das Buch in Worte gefasst. Danach wurde ich fast zu einer Art Vollzeit-Aktivistin. Ich habe mich daher erst Mitte der 1970er dazu entschieden, zu promovieren. In diesem Kontext kam ich zum ersten Mal mit Habermas und Foucault in Berührung und lernte ein wenig mehr über Denker wie Adorno und Horkheimer. Aber für mich waren sie immer nur ein Einfluss unter vielen.
Meine Nähe zur Frankfurter Schule ergibt sich daraus, dass mein vorrangiges Interesse der Gesellschaftstheorie gilt und nicht der Moralphilosophie, der politischen Theorie oder der Rechtstheorie. Das ist schon sehr lange so. Ich würde mich selbst als jemanden beschreiben, der das ursprüngliche Projekt von Horkheimer, Adorno und Co. wiederbeleben wollte: Ich wollte den Kapitalismus – und jetzt werde ich einen äußert unmodernen Ausdruck verwenden – als soziale Totalität betrachten.
Die frühesten Theoretiker der Frankfurter Schule sind bekanntermaßen Marxisten gewesen und Marxisten neigen dazu, über den Kapitalismus zu sprechen. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Kritische Theorie allerdings zunehmend von Analysen des Kapitalismus abgewendet. Wie kommt das?
In den 1960er und 70er Jahren gab es weltweit ein explosionsartiges Aufbäumen von jugendlichem Radikalismus. Und der war explizit antikapitalistisch. Damit will ich nicht sagen, dass es unbedingt eine ernsthafte theoretische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus gegeben hätte, aber eine antikapitalistische Haltung war eben Teil des Zeitgeists. Und in gewisser Hinsicht war auch die Genese der Kritischen Theorie in den 1930er Jahren eine revolutionäre Bewegung. Beide dieser historischen Momente schlugen ins Negative um. Es folgten verschiedene Formen der Repression, des Konservatismus und Faschismus – einmal in Form des McCarthyismus während des Kalten Krieges und einmal in Form des Neoliberalismus. Der Radikalismus wurde im Zuge dessen stark eingedämmt und der Liberalismus schlich sich in die Kritische Theorie ein. Die Leute wollten die Welt verbessern, aber die Stimmung während des Kalten Krieges hatte viele davor zurückschrecken lassen, den Kapitalismus zu thematisieren – vom Sozialismus ganz zu schweigen.
Im Gegensatz dazu würde ich sagen, dass der frühe Habermas (etwa in Strukturwandel der Öffentlichkeit, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus oder seiner Theorie des kommunikativen Handelns) versucht hat, den Kapitalismus in seiner aktuellen Ausprägung zu verstehen. Diese Schriften waren breit angelegt und sehr ambitioniert. Unabhängig davon, was man von dem theoretischen Fundament von Habermas’ Analyse hält – den Ehrgeiz dahinter kann man kaum abstreiten. Wie sich im Nachhinein herausstellen sollte, war das der letzte Atemzug einer von Marx inspirierten Kritischen Theorie. Manche, wie Hartmut Rosa und ich selbst, haben versucht, diese Tradition wiederzubeleben, was uns ein gewisses Außenseitertum einbrachte. Innerhalb der Kritischen Theorie machten die meisten meiner Generation linke, egalitäre, liberale Moralphilosophie, politische Philosophie und Rechtsphilosophie. Niemand nennenswertes beschäftigte sich mit politischer Ökonomie.
Das ist interessant, denn die Frankfurter Schule hat ihren Ursprung in einer Ära, in der der Marxismus mit einer Kritik der politischen Ökonomie gleichgesetzt wurde. Diese Denker verstanden, dass man den Marxismus weiterentwickeln musste, um über Kultur und die Kulturindustrie, über den autoritären Charakter der Familie und viele andere Dinge nachdenken zu können. Die berechtigte Kritik am Kommunismus und der Versuch, die Dimension der Kultur einzuschließen, wurden dann aber verdreht. Am Ende kam dabei ein sehr einseitiger Liberalismus und Kulturalismus heraus. An die Stelle des ökonomischen Determinismus trat die Vorstellung, dass die politische Struktur der Gesellschaft alles bestimmt. Man hat einfach einen Determinismus durch einen anderen ersetzt. Kurz gesagt: Die Rückbesinnung auf die soziale Totalität und auf den Kapitalismus als zentrale Analysekategorie musste lang und hart erkämpft werden.
Als ich vor Jahren mit meiner Promotion anfing, hatte ich das Gefühl, dass eine Reihe von Terminologien kursierten, die den Begriff »Kapitalismus« ersetzten, »Moderne« zum Beispiel. Ich erinnere mich noch an eine Konferenz, auf der Du mit einigen anderen namhaften Vertreterinnen und Vertretern der Kritischen Theorie gesprochen hast. Nach einem Vortrag über die Moderne hast Du die Frage gestellt: »Ich weiß, ich wiederhole mich, aber warum sagen wir ›Moderne‹ und nicht einfach ›Kapitalismus‹?« Was war da los?
Um das zu beantworten, müssen wir zurück zu Habermas. Er war der Auffassung, dass wir die emanzipatorischen Errungenschaften der Moderne genau betrachten müssen, um diese erhalten zu können, während wir den Kapitalismus zu überwinden versuchen. Und wenn wir den Kapitalismus nicht abschaffen, dann müssen wir dennoch verstehen, wie wir diese emanzipatorischen Errungenschaften innerhalb des Kapitalismus bewahren. Man glaubte, dass es in der modernen europäischen Geschichte und Gesellschaft etwas gab, dass es wert war, zu erhalten, sei es nun individuelle Freiheit, die Wissenschaft, die Demokratie oder was auch immer. Und man glaubte ebenso, dass der Kapitalismus diese Errungenschaften verzerrte oder pervertierte. Und deswegen begann man darüber nachzudenken, wie das emanzipatorische Potenzial der Moderne in einer post-kapitalistischen Gesellschaft verwirklicht werden könnte. Und es war gut, dass man das tat, vorausgesetzt, man entging dem Eurozentrismus und anderen Fallstricken, die damals noch nicht wirklich thematisiert wurden.
Aber danach vollzog sich dieser Austausch der Begrifflichkeiten, den Du angesprochen hast. Immer mehr Leute ließen die Kapitalismuskritik und die Frage, wie der Kapitalismus die Moderne pervertiert hatte, einfach fallen. Sie redeten von nun an ausschließlich über die Moderne. Das ist Teil der Verdrängung der politischen Ökonomie aus der Moderne, was dazu führt, dass die Moderne nur noch als Ansammlung kultureller Ideale begriffen wird. Da bin ich ganz Deiner Meinung. Ich fand das sehr problematisch, weil ich mich immer noch als Teil der Neuen Linken verstand. Die zentrale Kategorie der Gesellschaftstheorie musste der Kapitalismus sein – für mich war das ein unumstößlicher Grundsatz. Würden wir im Feudalismus leben, dann wäre es eben der Feudalismus gewesen. Und natürlich gibt es eine kulturelle Dimension, eine wirtschaftliche Dimension und eine politische Dimension, die ebenso berücksichtigt werden müssen. Aber die Kategorie, in der all diese Dimensionen verankert sind und ohne die keine von ihnen verstanden werden kann, ist und bleibt der Kapitalismus.
Im Jahr 2014 hast du verkündet: »Der Kapitalismus ist zurück!« Wie hat sich der Diskurs seither verändert?
Manches ist besser geworden, manches schlechter. Der Kapitalismus hat inzwischen eine extrem destruktive, kannibalistische, neoliberale Erscheinungsform angenommen. Wie es die Ironie will, hat genau das zur Verdrängung der Sozialdemokratie geführt. Die Neue Linke dachte damals, sie würde die Sozialdemokratie radikalisieren. Am Ende ist etwas anderes passiert. Dass es so gekommen ist, ist nicht allein unsere Schuld, aber unser Verständnis der historischen Gegebenheiten hatte seine Blindflecken.
Die Idee der Trickle-Down-Ökonomie, die mit der neoliberalen Wende Einzug hielt, war jahrzehntelang die vorherrschende Ideologie: Wenn es den Reichen gut geht, dann haben wir alle was davon. Regierungen agierten viel zu schwerfällig, um gesellschaftliche Veränderung zu bewirken, daher sollten wir alle unser Humankapital maximieren und optimieren, um Erfolg zu haben. Das war der gesellschaftliche Common Sense und der ist inzwischen erodiert. Heute glaubt das kaum jemand mehr. Dazu haben auch die Finanzkrise von 2008 und die Bewegung Occupy Wall Street beigetragen. Unser Denken ist heute deutlich weniger eingeschränkt.
Wir erleben eine neue Welle radikaler politischer Positionierungen, Proteste und militanten Antirassismus. Wir beobachten eine Renaissance gewerkschaftlicher Organisierung, selbst in den USA, wo man das vermutlich am wenigsten erwartet hätte. Das Interesse an der Kritik des Kapitalismus ist heute enorm. Das kann ich als Professorin an der New School aus eigener Erfahrung bestätigen. Die Menschen, die ich unterrichte, haben genug von Multikulturalismus und allem Identitären. Ich denke also schon, dass sich ein Wandel vollzogen hat. Innerhalb der Kritischen Theorie vollzieht er sich vielleicht etwas zaghafter als ich mir das wünschen würde, aber ich habe dennoch das Gefühl, dass der Marxismus, der marxistische Feminismus und der Ökomarxismus gerade ein Revival erleben.
Wie hat sich Deine eigene Arbeit über die Jahre hinweg verändert? Heute führst Du ja andere Argumente vor als noch in den 1980ern und 90ern.
Aufgrund meiner Sozialisierung und Politisierung im Kontext der Neuen Linken war es für mich selbstverständlich, dass Kritik immer antikapitalistisch sein muss. Das war für mich so selbstredend, dass ich es damals nicht so explizit formuliert habe, wie ich es heute tue und wie ich es in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren getan habe.
Ich begann, meine Unzufriedenheit mit der Entwicklung des Feminismus als sozialer Bewegung und als intellektuellem Paradigma zu analysieren. Das war definitiv ein entscheidender Wendepunkt für mich. Ich schrieb über die Ironie der Geschichte, die den Feminismus unwissentlich in eine Allianz mit dem Neoliberalismus treten ließ. Ich verspürte mehr und mehr die Notwendigkeit, den Kapitalismus explizit zu thematisieren.
Mit der Zeit dachte ich, dass ich den Kapitalismus viel deutlicher ansprechen muss. Bis vor kurzem war ein Großteil des Radikalismus nichts weiter als eine verwandelte und verwässerte Artikulation der Neuen Linken und ihrer sozialen Bewegungen. Aber wir müssen nach vorne blicken, weil die Wirtschaft krankt und Klassenkonflikte in neuer Intensität ausgefochten werden. Mein neues Buch Cannibal Capitalism, das im Oktober erscheint, bündelt diese Perspektiven. Darin versuche ich, ökologische, reproduktive, politische, rassifizierte und imperiale Problematiken in einen Rahmen antikapitalistischer Kritik zu integrieren.
Du hast vorhin erwähnt, dass Du seit Jahren dasselbe Argument auf unterschiedliche Weise formulieren musst, um gegen die Trennung der kulturellen und der sozialen Linken anzuschreiben. Du warst in regem Austausch mit namhaften Vertreterinnen und Vertretern der Sozialphilosophie wie Judith Butler, Iris Young, Linda Alcoff, Seyla Benhabib und Axel Honneth. Sie alle haben immer wieder behauptet, dass eine Perspektive, die Arbeit priorisiert, unzulänglich sei und dass Du diese Perspektive nicht ausreichend erweitern würdest. Sie behaupteten, Du würdest die marxistischen Konzepte von Basis und Überbau einfach nur neu auflegen. Warum fühlen sich diese Leute davon so provoziert?
Viele von ihnen sind sehr vom Anti-Stalinismus geprägt und argumentieren auf eine Art und Weise, die ich für sehr undifferenziert halte. Sie scheren alles über einen Kamm. Ihre Befürchtung ist: Sobald man anfängt, über die Themen zu sprechen, über die ich spreche, landet man im Handumdrehen bei Basis und Überbau und dann braucht es nicht mehr lange, bis man im Stalinismus endet oder was auch immer.
Einige der jüngeren Denkerinnen, die Du erwähntest, sind einfach in einer anderen Zeit groß geworden. Ich komme aus einer Ära, in der die Linke sehr durchmischt war: Männer und Frauen, Schwarze und Weiße waren alle zusammen in einer Bewegung. Dann kam es zu Spaltungen und vielleicht waren die auch notwendig, um der Heterogenität der Positionen gerecht zu werden. Aber für mich ging es immer darum, eine breite Linke zu formieren, in der ganz unterschiedliche Gruppen ihren Platz finden können.
Einige meiner jüngeren Kritikerinnen haben diese Erfahrung nie gemacht. Sie wurden in der Schwulen- und Lesbenbewegung, der feministischen Bewegung oder anderen Bewegungen politisiert. Dadurch entwickelt man eine ganz andere Mentalität. Bei einigen Leuten hat das dann dazu geführt, dass sie sehr schnell den Schluss ziehen, man würde ökonomischen Determinismus betreiben, wenn man über die soziale Totalität spricht. Judith Butler hat mir zum Beispiel vorgeworfen, ich würde die Belange von Schwulen und Lesben als lediglich kulturelle Angelegenheiten abtun.
Du hast auf jeden Fall Recht, wenn Du sagst, dass einige meiner Argumente über die Jahre konsequent abgelehnt wurden. Aber ich glaube, meine Arbeit wurde eigentlich sehr positiv rezipiert. Ich glaube nicht, dass das notwendigerweise mein Verdienst ist. Es ist eher gutes Timing. Während die Welt politisch und wirtschaftlich aus den Fugen gerät, mache ich dieselben Punkte, die ich seit Jahren mache. Aber jetzt sind die Leute offener dafür.
Obwohl Du in einigen Kreisen als »marxistische ökonomische Reduktionistin« giltst, würden die meisten Marxistinnen und Marxisten da wahrscheinlich widersprechen. Sie hegen eher Vorbehalte gegen Deinen Klassenbegriff. Was denkst Du darüber?
Ich glaube, wir sollten eine erweiterte Perspektive einnehmen und den Kapitalismus nicht nur als Wirtschaftssystem begreifen, sondern als soziale Ordnung, in der die Wirtschaft in einer widersprüchlichen Beziehung zu anderen Aspekten des sozialen Lebens steht, die wiederum ihre Grundlage bilden (Care-Arbeit, die Enteignung des Reichtums rassifizierter Menschen, öffentliche Güter, staatliche Macht, Natur). Ich glaube, wenn man das tut, werden alle Formen von Arbeit sichtbar, die das ganze System am Laufen halten.
Nur ein relativ kleiner Anteil dieser Arbeiterinnen und Arbeiter entspricht der traditionellen marxistischen Definition der Arbeiterklasse. Die meisten sind nicht ausgebeutete Fabrikarbeiter, die am Fließband stehen und nur für die gesellschaftlich notwendige Arbeit entlohnt werden. Meine These ist, dass sich dieses System auf mindestens zwei weitere Formen von Arbeit stützt. Ich nenne sie enteignete Arbeit und domestizierte Arbeit. Diese Arbeit ist einerseits notwendig, damit Menschen leben und sich reproduzieren können. Andererseits ist diese Arbeit notwendig, damit sich das Kapital akkumulieren und reproduzieren kann. In der Frage der Klassentheorie bin ich der Auffassung, dass jede nicht-reduktionistische Definition der Arbeiterklasse alle drei Arten von Arbeit einschließen muss – ausgebeutete, enteignete und domestizierte Arbeit. Das beschreibt meiner Meinung nach die globale Arbeiterklasse.
Die Erweiterung unseres Verständnisses von Kapitalismus verlangt auch eine Erweiterung unseres Begriffs der Arbeiterklasse. Mich interessiert, wie man auf Grundlage dieser Überlegungen eine antikapitalistische oder sozialistische Bewegung organisieren könnte. Zwar gab es bereits Andeutungen in diese Richtung, aber sie wurden nie ernsthaft verfolgt oder umgesetzt.
Welche Rolle spielt Deiner Meinung nach der Klassenkampf? Du hast ja schon über die konzeptuelle Erweiterung des Kapitalismus und der Arbeiterklasse gesprochen. Aber ich habe auch rausgehört, dass Du das Kapital als zentralen Gegner erachtest. Egal wie sehr wir unser Verständnis der Arbeiterklasse auch ausweiten, ihr zentraler Antagonist bleibt derselbe, oder?
Die kapitalistische Klasse ist das eine, die herrschende politische Klasse ist das andere. Es ist offensichtlich, dass fast alle führenden Politikerinnen und Politiker mehr oder weniger die Interessen des Kapitals vertreten. Über den Klassenkampf würde ich sagen, dass er bis vor kurzem vor allem nur von einer Seite ausgefochten wurde, nämlich vom Kapital. Die Gewerkschaften wurden in vielen Ländern dezimiert, man hat die Produktion ins Ausland verlagert, man hat Vermögen in Steuerparadiesen geparkt, man hat die Natur in eine Kloake verwandelt. Das Kapital hatte praktisch freie Hand.
Wie der Klassenkampf jetzt aussehen wird, bleibt abzuwarten. Viele Menschen begegnen revolutionären Parteien mit Skepsis. Vieles verlagert sich daher auf die Ebene sozialer Bewegungen, aber es gibt auch vielversprechende Wahlbündnisse, wie die französische Linke beeindruckend gezeigt hat. Gleichzeitig hat aber auch der Rechtspopulismus Konjunktur und auch der greift manchmal auf eine pseudo-antikapitalistische Rhetorik zurück. Hier tut sich eine politische Lücke auf, die wie dafür gemacht ist, von links besetzt zu werden. Die Linke, die diesen Raum füllt, braucht eine Vision, deren Verständnis von Arbeit und der Arbeiterklasse viel weiter gefasst ist. Diese Linke muss sich für alle Formen eines energischen Radikalismus öffnen, aber sie muss ebenso auch einen Rahmen bieten, um sie in einem gemeinsamen Projekt miteinander zu vereinen.
Momentan gibt es wieder ein großes Interesse an inklusiven Darstellungen des Kapitalismus. Konzepte wie Intersektionalität oder rassifizierter Kapitalismus werden breit diskutiert. Worin unterscheidet sich Deine Perspektive von diesen Konzepten?
Ich versuche, Aspekte der Theorien des rassifizierten Kapitalismus, der sozialen Reproduktion oder des marxistischen Feminismus und traditionelle Auffassungen von Klassengesellschaft und Klassenkonflikten miteinerander zu verbinden. Auch Aspekte der Ökologie sind für mich in den letzten Jahren immer wichtiger geworden.
Nach und nach entwickelte sich die Intersektionalität zu einer umfassenderen Theorie, die die Verbindungen zwischen Patriarchat, Kapitalismus und Rassismus aufzuzeigen versucht. Für mich ist das aber problematisch, weil der Kapitalismus auf einer anderen analytischen Ebene operiert.
Intersektionalität unterscheidet sich davon meiner Meinung nach. Sie benennt ein Problem und verdeutlicht das Bedürfnis nach einem inklusiveren Denken und einer inklusiveren politischen Praxis. Für mich war Intersektionalität zunächst eine Perspektive, um die spezifische Situation Schwarzer Frauen zu analysieren und die sich überkreuzenden Formen der Unterdrückung sichtbar zu machen, denen sie ausgesetzt waren. Nach und nach entwickelte sich die Intersektionalität zu einer umfassenderen Theorie, die die Verbindungen zwischen Patriarchat, Kapitalismus und Rassismus aufzuzeigen versucht. Für mich ist das aber problematisch, weil der Kapitalismus auf einer anderen analytischen Ebene operiert.
Das »Patriarchat« lasse ich mal außen vor, weil mir der Begriff als historische Kategorie widerstrebt. Ich denke, dass männliche und rassifizierte Vorherrschaft in ihrer kapitalistischen Ausprägung nicht auf Willkür fußen. Und ich glaube nicht, dass das Konzept der Intersektionalität wirklich erklären kann, warum das so ist. Die Intersektionalität beschreibt etwas, aber sie erklärt nichts. Ich möchte hingegen ergründen, woher diese sich überkreuzenden Herrschaftsformen herrühren. Und dazu brauchen wir ein erweitertes Verständnis des Kapitalismus und der drei Formen der Arbeit [ausgebeutet, enteignet, domestiziert].
Vor einigen Jahren hast Du ein normatives Argument vorgebracht, in dem Du zwei Kategorien definiert hast, die für eine Kritik des Kapitalismus notwendig sind: Umverteilung und Anerkennung. Beides ist Deiner Meinung nach unerlässlich. Aber in letzter Zeit hast Du eine Kritik der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus entwickelt. Inwiefern unterscheiden sich diese Themenkomplexe voneinander?
Zunächst einmal verstand ich die Begriffe »Umverteilung« und »Anerkennung« als etwas, das ich »populäre Auffassungen von Gerechtigkeit« genannt habe. Die Konzepte »Umverteilung« und »Anerkennung« waren ein Abbild der Sprache und der Ideen zivilgesellschaftlicher Akteure, die für soziale Gerechtigkeit kämpften. Mir ging es schon immer darum, die Kluft zwischen der kulturellen und der sozialen Linken zu überbrücken. Daher brauchte ich normative Kategorien, mit denen ich beschreiben konnte, was sie voneinander trennte und wie sie wieder zueinander finden könnten. Über die Begriffe »Umverteilung« und »Anerkennung« konnte ich ein normatives Argument darüber entwickeln, wie sich diese beiden Kategorien gegenseitig bedingen. Dabei ging es mir auch darum, die Genese dieser Kategorien quasi-genealogisch und sozialtheoretisch zu beschreiben. Ich habe da also auf zwei Ebenen gearbeitet.
Die Krise war damals noch gar nicht so sehr ein Thema. Aber dann holte uns die gesellschaftliche Realität ein. Es war augenscheinlich, dass wir uns in einer tiefen Krise befanden. Wir müssen sie als Krise des Kapitalismus verstehen oder als Krise der aktuellen Form des Kapitalismus. Das habe ich immer geglaubt und das glaube ich auch heute noch. Zu diesem Zeitpunkt hatte man diese Form der Kritik in der Theorie allerdings schon lange als ökonomistisch, teleologisch und so weiter abgetan. Mir war es dennoch wichtig, diese Kritik zu erneuern – und zwar so, dass sie die üblichen Gegenargumente entkräftet. Die Krise wurde für mich somit in gewisser Weise zu einem zentralen Pfeiler, um diesen historischen Moment zu theoretisieren.
Welche Art normativer Kritik ist also die Krisenkritik? In Teilen ist es eine Kritik sozialer Ungerechtigkeit, die argumentiert, dass sich einige Menschen am Elend anderer bereichern. Oder es geht darum, darzulegen, weshalb der Kapitalismus eine unethische (entfremdete) Form des Daseins ist. Letzteres halte ich für die schwierigste Aufgabe, aber ich bin gespannt darauf, wie [die Philosophin] Rahel Jaeggi diese Perspektive entwickeln wird. Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass sich mein eigener Fokus von explizit normativen Theorien zu Gesellschaftstheorien verschoben hat.