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10. September 2025

Mit Panzern gegen den Statusverlust

Die europäischen Eliten fürchten die multipolare Ordnung weit mehr, als es die amerikanischen tun. Denn die USA bleiben Großmacht. Aber welche Rolle spielt die EU dann noch in der Welt?

»Ginge es den europäischen Entscheidungsträgern um unsere Sicherheit im buchstäblichen Sinne, würden sie politische und diplomatische Maßnahmen viel eher in Betracht ziehen als Militarisierung, denn erstere versprechen mehr Erfolg«, schreibt Almut Rochowanski.

»Ginge es den europäischen Entscheidungsträgern um unsere Sicherheit im buchstäblichen Sinne, würden sie politische und diplomatische Maßnahmen viel eher in Betracht ziehen als Militarisierung, denn erstere versprechen mehr Erfolg«, schreibt Almut Rochowanski.

Wir erleben eine Zeitenwende. Freilich nicht die, die Olaf Scholz unter dem Eindruck des russischen Angriffs auf die Ukraine 2022 verkündete. Die Zeitenwende, die ich meine, ist ganz von selbst ausgebrochen: Drei Jahre nach Scholz’ Ankündigung konstatierte der US-Außenminister Marco Rubio, dass der unipolare Moment eine Anomalie war und die Welt wieder in eine multipolare Ordnung einschwenkt, in der auch China und Russland Großmächte sind.

Rubios klinisch-kühler Diagnose folgten die Brandreden von Verteidigungsminister Pete Hegseth und Vizepräsident JD Vance auf der Münchener Sicherheitskonferenz, mit denen Europas außenpolitisches Establishment endgültig den Boden unter den Füßen verlor. Es befindet sich seither im Rüstungstaumel, geprägt von schriller Angstmacherei (»unser letzter Sommer im Frieden«), aufgesetzter Zackigkeit sowie einer Kriegsgewinnlerei, von der einem die Ohren schlackern. Erschöpfte Klischees werden bemüht: Die Jugend sei zu verweichlicht für den Krieg, und wer für das Vaterland nicht sterben und töten will, sei gefährlich für die öffentliche Moral.

Was erklärt die Hysterie unter den europäischen Eliten? Woher die plötzliche Bereitschaft, Fiskalregeln auszuhebeln, die Bevölkerung mit noch mehr Austerität zu vergraulen und für deren Unmut auch noch zu schelten, die Demokratie selbst infrage zu stellen? Wozu das Aufwärmen militaristischer Propagandainhalte, denen der Modergeruch des frühen 20. Jahrhunderts anhaftet?

Europa, alleine

Als sich die USA am Ende des Kalten Krieges als einzig verbliebene Supermacht an der Spitze einer unipolaren Ordnung fanden, machten Theorien wie Fukuyamas »The End of History« oder die berüchtigte Wolfowitz-Doktrin daraus einen Auftrag für die Zukunft. Die globale Hegemonie sollte um jeden Preis erhalten werden, militärisch und wirtschaftlich weit abgeschlagene Regionalmächte müssten sich der amerikanischen primacy fügen. Potenzielle Rivalen wurden kleingehalten, Verteidigungsbündnisse, allen voran die NATO, ausgedehnt, und von Nordafrika bis nach Zentralasien sogenannte forever wars angezettelt.

In der letzten Dekade begann eine neue Generation von amerikanischen Denkern, das Streben nach unipolarer Dominanz als unhaltbar, der nationalen Sicherheit abträglich und ruinös für Demokratie und gesellschaftliches Wohlergehen zu kritisieren. Primacy wurde zunehmend negativ besetzt, interessanterweise über weite Teile des politischen Spektrums. Nach Europa, in die schicken Büros der Denkfabriken und die rustikal-gediegenen Sommerseminare, hat sich das aber nie durchgesprochen.

Die ruppigen Forderungen von Vance, Hegseth und letztlich Trump, auf dessen Geheiß NATO-Mitglieder unlängst 5 Prozent des BIP für Verteidigungsausgaben beschlossen, konnten kaum eine Überraschung sein. Die Amerikaner hatten schon seit den 1990ern gefordert, dass Europa mehr für Verteidigung ausgibt. Das ewige amerikanische Gejammer erinnerte freilich an den alten Witz vom Psychiater, der seinen Patienten fragt: »Leiden Ihre Verwandten an psychischen Erkrankungen?« Und dieser antwortet: »Leiden? Sie genießen sie!« Denn die Amerikaner zogen stets enorme Vorteile aus ihren Militärstützpunkten in Europa, dem Knotenpunkt und Kronjuwel der amerikanischen primacy.

»Die europäischen Eliten fürchten keinen Angriff auf ihre Heimatländer, sondern den Verlust der primacy, in welcher sie sich als Juniorpartner der USA jahrzehntelang gut eingerichtet hatten.«

Die hysterische Reaktion der Europäer lässt sich damit erklären, dass das Ende der amerikanischen primacy für Europa einen viel dramatischeren Statusverlust bedeutet als für die Vereinigten Staaten. Letztere bleiben gesichert Supermacht, einer der Pole einer multipolaren Ordnung. Was aber wäre Europa – macht- und militärpolitisch auf sich selbst gestellt? Eine Großmacht? Wollen Europas Bürger das? Wollen sie die damit einhergehende Großmachtrivalität, die ihre Demokratie vergiften und soziale Ungleichheit verstärken würde sowie dem Frieden in der Welt abträglich wäre? Europas Bürger wurden nicht gefragt. Ihnen wurden Panik und Aufrüsten verordnet, Hals über Kopf. Aber wohl kaum aus Angst vor einem Angriff Russlands auf NATO-Staaten.

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Almut Rochowanski hat sich als Aktivistin für Frauenrechte und Frieden in Ländern der ehemaligen Sowjetunion eingesetzt und ist derzeit Fellow am Quincy Institute for Responsible Statecraft.