21. Februar 2024
Die Bewegung um Alexej Nawalny schaffte eine Massenmobilisierung, wie sie bei früheren russischen Dissidenten selten war. Er trotzte dem Versuch Putins, Russlands Öffentlichkeit abzuwürgen – ein Akt des Widerstands, der nun mit dem Tod bestraft wurde.
Alexej Nawalny verlässt das Moskauer Bezirksgericht Twerskoi, nachdem er eine 7-tägige Haftstrafe erhielt wegen Ungehorsams gegenüber der Polizei während einer Kundgebung, 25. Februar 2014.
Am vergangenen Freitag – oder möglicherweise schon am Tag zuvor – starb der Dissident Alexej Nawalny in einem Gefängnis für Hochrisikohäftlinge im hohen Norden Russlands. Die wahren Hintergründe und die Ursache für seinen Tod bleiben weiterhin ungeklärt. Es ist nicht einmal bekannt, wo sich seine Leiche befindet; seine Eltern und seine Frau versuchen vergeblich, sie von den Behörden übergeben zu bekommen. Nawalny könnte an Schlägen, an Gift oder an der systematischen Folter gestorben sein, der er drei Jahre lang im Gefängnis ausgesetzt war. Das alles wissen wir nicht.
Vielen, darunter auch mir, fällt es immer noch schwer, Nawalnys Tod zu begreifen. Andererseits muss man jedoch einräumen, dass genau dies der zu erwartende Ausgang der Geschichte war, seit er im Januar 2021 nach Russland zurückkehrte. Damals hatte er wie durch ein Wunder einen Vergiftungsversuch durch russische Spezialdienste überlebt und war in einem Berliner Krankenhaus behandelt worden. Nach seiner Genesung flog er umgehend von der deutschen Hauptstadt zurück nach Moskau, wo er sofort nach seiner Ankunft verhaftet wurde. Die juristischen Hintergründe zu seiner Inhaftierung waren obskur und fadenscheinig: Zunächst wurde er zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, dann fügten die Behörden eine neunjährige Haftstrafe für einen anderen Fall hinzu, und schließlich eine dritte über weitere 19 Jahre. Nawalny wusste genau, dass sein Leben auf russischem Territorium nur vom Willen eines einzigen Mannes abhing. In diesem Sinne war er ein ganz normaler Russe.
Nawalny verbrachte (mit kurzen Unterbrechungen) mehr als 250 Tage in der sogenannten Strafzelle, einer Art Gefängnis im Gefängnis, in dem er unter extrem harten Bedingungen eingesperrt war, einschließlich eines vollständigen Verbots jeglichen Kontakts mit der Außenwelt. Er nutzte bis zu seinen letzten Tagen die Gelegenheit, um zu lesen und zu schreiben. Wie wir aus der Geschichte wissen, wird die Gefängniszelle für viele politische Gefangene zu einem Ort tiefgehender – und oft leider letzter – Überlegungen über die Gründe für die Niederlage ihrer Bewegungen oder Organisationen, über die Lehren, die daraus gezogen werden können, und über die Herausforderungen für die Zukunft.
Im vergangenen August schrieb Nawalny eine seiner wohl bedeutendsten Botschaften dieser Art. Er reflektierte darin über das Entstehen der de facto Diktatur von Wladimir Putin und kam zu dem Schluss, dass deren Wurzeln in die 1990er Jahre zurückreichen, in die Regierungszeit von Boris Jelzin und die Zeit der sogenannten »Marktreformen« im neu entstandenen russischen Staat. Putin und seine Geheimdienstfreunde kamen nicht an die Macht, »indem sie die demokratischen Reformer verdrängten«, schreibt Nawalny. Vielmehr hätten die »Reformer« um Jelzin »diese Leute selbst zu sich geholt; sie selbst haben ihnen beigebracht, wie man Wahlen fälscht, wie man Staatseigentum stiehlt, wie man die Massenmedien belügt, wie man die Opposition gewaltsam unterdrückt und sogar wie man idiotische Kriege beginnt«.
»Nawalnys Wahlkampf hat zehntausenden Menschen gezeigt, dass politische Partizipation eine echte Alternative zur beengten Welt der reinen Privatinteressen und der Teilnahmslosigkeit ist, in die die Putin-Regierung die russische Bevölkerung jahrelang mühevoll gedrückt hatte.«
Um die Kontrolle einer winzigen Gruppe von Oligarchen über ein riesiges Immobilienimperium aufrechtzuerhalten, hätten die vermeintlichen »Demokraten« in den 1990er Jahren die jungen demokratischen Institutionen Russlands vernichtet und so den Weg zum Autoritarismus geebnet. Die Entstehungsgeschichte des Putinismus – die untrennbar mit der kriminellen Umverteilung und dem Ausverkauf des ex-sowjetischen Vermögens verknüpft ist – zu verstehen, sei laut Nawalny »die wichtigste Frage für eine politische Strategie aller Befürworter einer demokratischen Entwicklung des Landes«.
Nawalny selbst hat viele Jahre in der russischen Politik verbringen müssen, um zu diesem Schluss zu kommen. Im Jahr 2000 trat er als junger Mann der liberalen Jabloko-Partei bei. Ein paar Jahre später verließ er sie, weil er vom Dogmatismus und Elitismus der älteren Generation russischer Liberaler enttäuscht war. Sein Wunsch, eine breite Oppositionskoalition aufzubauen, brachte ihn dazu, mit russischem Nationalismus und immigrantenfeindlicher Rhetorik zu flirten (was sicherlich einer der kontroversesten Aspekte seines politischen Werdegangs ist). Damit begann die Geschichte von Nawalny als wichtigstem und gefährlichstem Gegner der Putin-Regierung in den 2010er Jahren.
Im Kontext zunehmender Repression sowie um sich greifender Apathie und Konformität in der russischen Gesellschaft angesichts eines undurchsichtigen, von oben manipulierten Wahlsystems zeigte Nawalny, dass selbst solche manipulierten »Wahlen« für kraftvollen Protest und die Politisierung breiter Gesellschaftsschichten genutzt werden können.
2013 führte er einen beeindruckenden Wahlkampf bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen, bei dem er den Schützling des Kremls herausforderte. Im Jahr 2018 kündigte er an, er werde bei den kommenden Präsidentschaftswahlen kandidieren. Zwar untersagten die Behörden Nawalny diese Kandidatur unter diversen hanebüchenen Vorwänden, aber seine Kampagne 2018 brachte 150.000 Freiwillige zusammen. Damit wurde sie zur größten politischen Basisorganisation in der Geschichte des postsowjetischen Russlands. Nawalnys Wahlkampfbüros im ganzen Land wurden zu Zentren für die Politisierung der Jugend. Es wurden unzählige Debatten über alle aktuellen Themen des Landes geführt; die Generation der Mittzwanziger entdeckte plötzlich eine neue Welt politischer Ideen (hier sollte angemerkt werden: darunter sogar gewisse sozialistische Ideen).
Vor allem aber hat Nawalnys Wahlkampf zehntausenden Menschen gezeigt, dass politische Partizipation eine echte Alternative zur beengten Welt der reinen Privatinteressen und der Teilnahmslosigkeit ist, in die die Putin-Regierung die russische Bevölkerung jahrelang mühevoll gedrückt hatte. Dieser Erfolg war möglich, weil Nawalny erkannt hatte, dass die üblichen liberalen Slogans – beschränkt auf Forderungen nach fairen Wahlen und garantierten Bürgerrechten – keine breite politische Mobilisierung bewirken können. Er verstand, dass in Putins Russland die kolossale soziale Ungleichheit, die Armut der Mehrheit und der unglaubliche Reichtum einer winzigen Minderheit die Hauptprobleme waren und sind. Ein potenzieller Übergang zu einer echten Demokratie hänge von der Lösung dieser Probleme ab, meinte er.
Nawalnys investigativjournalistische Enthüllungen, die einen riesigen öffentlichen Aufschrei auslösten, zeigten nicht nur Korruption auf, sondern auch die kriminellen Ursprünge des Reichtums der politischen und wirtschaftlichen Elite. Die gesellschaftliche Wut angesichts der endlosen virtuellen Touren durch die geheimen Paläste von Putin und seinen Freunden hatte ihren Ursprung in einem gewissen Klassengefühl.
Zu dieser Zeit begann das Thema soziale Ungerechtigkeit einen zentralen Platz in Nawalnys Rhetorik einzunehmen. Er wandte sich aktiv gegen Putins neoliberale Rentenreform, setzte sich für die Gründung unabhängiger Gewerkschaften für Pflegekräfte und Lehrpersonal ein und kritisierte die Regierung während der Pandemie unter anderem wegen der spärlichen Unterstützungszahlungen für Menschen, die ihr Einkommen und ihren Arbeitsplatz verloren hatten. Nawalny kam freilich nicht ausgehend von linken Ideen zu diesen Standpunkten, sondern vielmehr aufgrund seiner Erfahrungen, die er auf seinen Reisen durch das Land und durch das Zuhören bei ganz unterschiedlichen Menschen über ihre alltäglichen, konkreten Probleme gemacht hatte.
»Alexej Nawalny war nie Sozialist. Er glaubte an die Möglichkeit einer ›normalen‹ Demokratie in Russland, mit Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, einer großen Mittelschicht und einer Form der sozialen Marktwirtschaft.«
Nach 2018, als endgültig klar wurde, dass er und seine Anhänger weder an den Präsidentschafts- noch an den Parlamentswahlen teilnehmen dürfen, rief Nawalny zum »Smart Voting« auf – also zur Unterstützung der aussichtsreichsten Kandidatinnen, die Putins Partei Einiges Russland gefährlich werden könnten. Diese Taktik ist zu einer echten Herausforderung für Putins System der »gelenkten Demokratie« geworden, in dem alle anderen Parteien nur Zierde sind und nicht wirklich um Macht und politischen Einfluss konkurrieren sollen.
Die eigentliche Hauptnutznießerin des »Smart Voting« war die Kommunistische Partei der Russischen Föderation. Sie war die einzige Kraft innerhalb des bestehenden politischen Systems, die die Stimmen derjenigen Menschen auf sich vereinen konnte, die ihre Wut über die sozialen Missstände zum Ausdruck bringen wollten. Mit seinem Aufruf zur taktischen Unterstützung »gewann« Nawalny nicht nur hunderttausende Jungwählerinnen und -wähler für die KP, sondern trug auch zu einer Erneuerung der Partei selbst bei: zuvor hatte die Unzufriedenheit mit dem konservativen und opportunistischen Kurs der alten Führung deutlich zugenommen.
Im Sommer 2020 wurde dem Kreml offenbar klar, dass Nawalny ein existenzielles Problem darstellte, das nur mit radikalen Mitteln gelöst werden könne. Er überlebte aber nicht nur den besagten Giftanschlag, sondern führte zusammen mit seinem Team auch eine brillante Recherche zum gescheiterten Mord durch. Sie veröffentlichten die vollständige Liste aller Beamten des Sicherheitsdienstes FSB, die daran beteiligt waren.
Der Januar 2021 wurde zu Nawalnys letztem großen Kampf: Zehntausende gingen in den großen Städten auf die Straße, um seine sofortige Freilassung zu fordern. Diese Demonstrationen wurden illegalisiert und brutal unterdrückt. Hunderte Menschen wurden von der Polizei verprügelt und inhaftiert. Zu diesem Zeitpunkt plante Putins Regierung vermutlich schon, in die Ukraine einzumarschieren. Die Ausschaltung jeder potenziellen Opposition war ein wesentlicher Bestandteil dieser Vorbereitung. Die Proteste am Tag des Kriegsbeginns, dem 24. Februar 2022, waren indes schlecht organisiert und erreichten nicht mehr das Ausmaß der Proteste aus dem Vorjahr. Die russische Öffentlichkeit versank in einer Atmosphäre der Angst und Apathie. Nawalny selbst konnte in seiner Gefängniszelle nur noch aus Propagandasendungen im Fernsehen und in Briefen von seinen Mitstreitern Neuigkeiten erfahren.
Alexej Nawalny war nie Sozialist. Er glaubte an die Möglichkeit einer »normalen« Demokratie in Russland, mit Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, einer großen Mittelschicht und einer Form der sozialen Marktwirtschaft. Bis zum Schluss vertrat er so triviale Prinzipien wie »Regierung des Volkes und durch das Volk«. Im Sinne von Alexander Radischtschew, einem der ersten russischen Dissidenten des späten 18. Jahrhunderts, wünschte sich Nawalny, dass sich jede Russin und jeder Russe »nicht wie ein Baum, nicht wie ein Sklave, sondern wie ein Mensch« fühlen solle.
Nach seiner Ermordung und angesichts des Aufstiegs diverser autoritärer Formen des Kapitalismus auf der ganzen Welt müssen wir uns daran erinnern, dass die Linke und die Unterdrückten dieser Erde ohne grundlegende Rede- und Versammlungsfreiheit kaum eine Chance haben, auch nur irgendetwas zu gewinnen.
Wenn wir uns mit einem bis an die Zähne bewaffneten Repressionsapparat konfrontiert sehen, der durch keinen rechtlichen Rahmen eingeschränkt wird, ist es unwahrscheinlich, dass wir in die Lage kommen, eine echte Massenbewegung aufzubauen. Die Teilnehmenden an den jüngsten Protesten im Iran wissen das genauso gut wie die Palästinenserinnen und Palästinenser oder die Kurdinnen und Kurden, die selbst zu Tausenden in Gefängnissen gefoltert werden. Die sozialistischen und anarchistischen politischen Gefangenen in Russland wissen das ebenfalls.
Nawalny hat einfache Wahrheiten nicht nur verstanden, sondern letztendlich auch sein Leben für sie geopfert. Das tat er nicht vergebens.
Ilja Budraitskis ist Politik- und Sozialtheoretiker und lebte bis vor kurzem in Moskau, wo er an der Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sowie am Institut für zeitgenössische Kunst unterrichtete. Sein neuestes Buch Dissidents among Dissidents über die Linke in Russland erschien Anfang 2022 bei Verso.