05. Oktober 2023
Österreichs Kanzler Nehammer verhöhnt in einem Video armutsbetroffene Menschen, sie sollten doch Burger essen. Die Empörung darüber kratzt aber nur an der Oberfläche – denn die Politik der ÖVP ist noch viel armenfeindlicher als Nehammers ignorante Aussage.
Bundeskanzler Karl Nehammer macht vor, wie man einen Burger hält.
IMAGO / Eibner EuropaEs scheint, als würde auf Österreichs rechten Parteien ein Fluch liegen: der Fluch von geleakten Videos. Letzte Woche wurde ein Video öffentlich, in dem der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer im vertrauten Kreis von ÖVP-Funktionären seine Meinung zu armutsbetroffenen Menschen äußert. In der sechsminütigen Aufnahme beschwert sich Nehammer über alles: Frauen, die in Teilzeit arbeiten, die Debatte um Kinderarmut und die Sozialpartnerschaft.
»Was ist eigentlich mit den Eltern? Was heißt, ein Kind kriegt keine warme Mahlzeit in Österreich? Wisst’s, was die billigste warme Mahlzeit in Österreich ist, ist nicht gesund, aber sie ist billig: ein Hamburger bei McDonald’s. 1,40 Euro«, kommentiert Nehammer etwa über das Thema Kinderarmut in Österreich, und weiter: »Wenn i z’wenig Geld hab, geh i mehr arbeiten. Weil dann muss ich ja mehr Geld haben. Passiert aber nicht. Die Teilzeit-Quote ist unverändert.«
Das Video sorgte für Aufregung im ganzen Land. Kritik gab es von Institutionen wie dem Österreichischen Gewerkschaftsbund bis zum grünen Koalitionspartner. Dabei kratzt die Empörung über Nehammers Aussagen oft nur an der Oberfläche – denn es ist die armenfeindliche Politik der ÖVP, die im Mittelpunkt der Debatte stehen sollte.
Seit 36 Jahren regiert die ÖVP fast ununterbrochen in Österreich – für arme Menschen und Frauen hat sich seither nichts zum Besseren gewendet. Das beginnt bei den einfachen Dingen: In Österreich gibt es kein flächendeckendes Angebot für Kinderbetreuung, es variiert je nach Region stark. In Niederösterreich, dem Kernland der Volkspartei, liegt laut der Statistik Austria die Betreuungsquote von Kindern unter drei Jahren bei 29,9 Prozent und damit unter den Zielvorgaben der EU.
Nur jedes dritte Kind bis fünf Jahren wird dort für vollzeiterwerbstätige Eltern betreut, denn am Nachmittag wird es kostenpflichtig: laut Arbeiterkammer Niederösterreich 190 Euro im Monat und pro Kind. Diese Politik drängt Frauen in Teilzeitarbeit – besonders im Niedriglohnsektor. Dass Kinder noch immer nicht flächendeckend und kostenlos am Nachmittag oder auch in den Ferien betreut werden, hat die ÖVP mitverursacht. Bis Ende 2024 wurde von der Regierung ein Zuschuss von 60 Euro pro Kind für sozial schwache Familien beschlossen – ein Betrag, der angesichts der hohen Inflation zynisch erscheint. Auch wenn man bedenkt, dass es eigentlich einen viel effektiveren Plan mit Maßnahmen gegen Kinderarmut von der Regierung geben müsste, um den sie sich aber noch immer nicht gekümmert hat.
»Inzwischen zahlt man in Österreich für gleiche Lebensmittel rund 18 Prozent mehr als in Deutschland. Die Maßnahmen der Regierung dazu: mehr Lebensmittelspenden für die Wiener Tafel.«
Die EU-Kommission hat eine »Europäische Garantie für Kinder« vorgeschlagen. Mit ihr soll Kinderarmut in der EU bekämpft werden. Die Mitgliedstaaten sollen bis 2030 unter anderem Betreuung, Bildung, einen angemessenen Wohnraum und gesunde Ernährung für bedürftige Kinder kostenlos zur Verfügung stellen. Bis Mitte März 2022 hätten alle EU-Länder einen Aktionsplan vorlegen sollen. Bis heute ist Österreich säumig. Die Fürsorgepflicht, die Nehammer von Eltern fordert, vernachlässigt er selbst als Bundeskanzler gegenüber den in Österreich lebenden Menschen.
Nehammer und die Volkspartei werden nicht müde zu wiederholen, dass sich Leistung lohnen muss. In Österreich ist das ein leeres Versprechen – und es ist die Volkspartei selbst, die dafür sorgt, dass das so bleibt. Laut Daten der Statistik Austria sind in Österreich 1,5 Millionen Menschen armutsgefährdet.
Zu glauben, man müsse für mehr Geld einfach mehr arbeiten, ist entweder zynisch oder sehr naiv. Denn durch die Inflation ist die Zahl der Working Poor gewachsen, also der Menschen, die von Erwerbsarmut betroffen sind und trotz eines Vollzeitjobs nicht genug zum Leben haben. Oft sind das Eltern mit Kindern oder alleinerziehende Elternteile, die unter prekären Bedingungen arbeiten, in Branchen, in denen es keinen Kollektivvertrag gibt, und notgedrungen trotz eines Jobs Sozialhilfe beziehen müssen, die von rechten bis konservativen und liberalen Parteien abschätzig als »Hängematte« bezeichnet wird.
All das hängt auch mit dem Anstieg der Mieten und Lebensmittelkosten zusammen, die von der ÖVP-Grünen Regierung noch immer nicht abgewehrt werden. Mietverträge sehen eine Anpassung an die Inflationsrate vor und in den letzten zwei Jahren lag die Rate bei knapp 10 Prozent, wodurch die Preise in die Höhe schnellten. Das führte dazu, dass vielen Mieterinnen und Mietern in den letzten zwei Jahren viermal die Mieten erhöht wurden.
Sechsmal hat man im Parlament gegen einen Mietpreisdeckel gestimmt, nun ist er da, aber es gibt natürlich einen Haken: Ab 2024 sollen Erhöhungen auf 5 Prozent pro Jahr begrenzt werden, für nächstes Jahr wird aber eine Inflationsrate von bis zu 4 Prozent vermutet. Der Deckel bringt also ungefähr so viel wie der 60-Euro-Familienzuschuss. Plus: freie Mieten, die nicht im regulierten Mietsektor sind, schauen durch die Finger.
»Das Land sei eines der ›besten Europas‹, so Nehammer. Das ist reine Selbstbeweihräucherung und hilft den 353.000 Kindern und Jugendlichen nicht, die aktuell von Armut betroffen sind.«
Aber nicht nur mit den Wohnkosten kommt man in Österreich aktuell ins Schlittern: Österreich ist das viertteuerste Land in der EU. Die Lebensmittelpreise steigen hier schneller als in vielen anderen Ländern. Inzwischen zahlt man in Österreich für gleiche Lebensmittel rund 18 Prozent mehr als in Deutschland. Die Maßnahmen der Regierung dazu: mehr Lebensmittelspenden für die Wiener Tafel.
Die nächste Baustelle ist die Umverteilung von Vermögen. Seit Jahren wird in Österreich über eine Vermögenssteuer diskutiert, Erbschaften werden steuerfrei weitergegeben. Dabei gab es in Österreich bereits eine Erbschaftssteuer, bevor sie 2008 abgeschafft wurde – natürlich von der ÖVP, aber dieses Mal in Koalition mit den Sozialdemokraten.
Nehammers geleaktes Video steht in einem krassen Widerspruch zu der Kampagne, mit der er gerade versucht, Stimmen bei den Nationalratswahlen 2024 für sich zu gewinnen: »Glaub an Österreich«. Gleicht man die Aussagen mit der realen Lebenssituation von Menschen – insbesondere Armutsbetroffenen – ab, verliert man hingegen den Glauben an Österreich. Das Land sei eines der »besten Europas«, so Nehammer. Das ist reine Selbstbeweihräucherung und hilft den 353.000 Kindern und Jugendlichen nicht, die aktuell von Armut betroffen sind. Die Gründe für diese Quote liegen nicht in der mangelnden Fürsorgepflicht der Eltern – wie Nehammer behauptet –, sondern in seiner Politik.
Wie viel Eigenverantwortung kann man noch verlangen, wenn sich die Regierung für all die Auswirkungen der Krisen in den letzten Jahren nicht verantwortlich fühlt? Nehammers Aussagen sind die ideologische Konsequenz der politischen Praxis der Volkspartei. Wenn sich Parteien schon bürgernah verkaufen wollen, kommt eine völlig weltfremde Einstellung ungünstig.
Vanja Nikolić ist Journalistin aus Wien. Ihre Texte sind unter anderem bei Arbeit&Wirtschaft, Der Standard und an.schläge erschienen.