01. August 2023
Rechte Regierungen in ganz Europa leiten staatliche Gelder an reaktionäre Gruppen weiter – im Namen des Widerstands gegen die »Gender-Ideologie«. Ihr Kampf gegen »die Eliten« ist die reinste Mogelpackung, erklärt Elżbieta Korolczuk im JACOBIN-Interview.
Eine Frau mit Kruzifix beim Marsch für Leben und Familie am 25. Juni 2023 in Krakau.
IMAGO / NurPhotoVon katholischen Reaktionären in Spanien bis hin zu von Geburtenzahlen besessenen Ideologen im Kreml: Die glühenden Verfechterinnen und Verfechter traditioneller Geschlechterrollen bezeichnen sich heute gern als »Anti-Gender« – und verwenden das englische Wort Gender als Label für eine Vielzahl unterschiedlicher feministischer und queerer Anliegen. So fordern sie beispielsweise »Gender raus aus den Schulen« (was auch immer damit gemeint sein soll). Worum geht es bei der Anti-Gender-Bewegung wirklich?
Über den selbsterklärten Krieg gegen eine vermeintliche »Gender-Ideologie« hinaus können wir die »Anti-Gender-Bewegung« vor allem als Teil der weltweiten »illiberalen« Zivilgesellschaft verstehen. Das diffuse Konglomerat umfasst rechtspopulistische Parteien, Kirchenobere, transnationale Organisationen wie Ordo Iuris sowie neoliberale und konservative Politikerinnen und Lobbyisten. Die Akteure des Anti-Gender-Diskurses sind durch eine gemeinsame Ideologie und ähnliche politische Ziele geeint. So haben sie in der jüngeren Vergangenheit die Istanbul-Konvention zurückgewiesen, sich gegen Antidiskriminierungsgesetze ebenso wie gegen Sexualunterricht ausgesprochen und Bemühungen blockiert, die Rechte von LGBTQ-Personen gesetzlich zu verankern und zu sichern.
Ein wichtiges Buch, um dieses Phänomen zu verstehen, ist Anti-Gender Politics in the Populist Moment von den beiden polnischen Forscherinnen Elżbieta Korolczuk und Agnieszka Graff. Die Autorinnen legen darin die Strategien der globalen Anti-Gender-Bewegung sowie ihre Verbindungen in die Politik offen. Sie erklären außerdem, wie die Bewegung in ihrem weltweiten Kampf für die Einschränkung reproduktiver Rechte erfolgreich sein konnte, und legen konkrete Strategien im Kampf gegen solche Reaktionäre dar. Im Interview spricht Co-Autorin Elżbieta Korolczuk über die Strategien der Anti-Gender-Bewegung in unterschiedlichen Ländern und darüber, wie man diese unterbinden und stoppen kann.
In Eurem Buch schreibt Ihr über eine »opportunistische Synergie« zwischen den unterschiedlichen Anti-Gender-Akteuren. Erklär uns zum Einstieg doch bitte noch einmal, wer diese Akteure sind und wie sie von ihrer Zusammenarbeit profitieren.
Mit dem Begriff beschreiben wir die ideologische und organisatorische Synergie zwischen unterschiedlichen Bewegungen, religiösen Akteuren und politischen Parteien. Diese Synergie hat als gemeinsamen Nenner die Anti-Gender-Rhetorik. Viele Organisationen, die hinter Anti-Gender-Kampagnen stehen, wie der sogenannte Weltkongress der Familien oder verschiedene europäische Anti-Choice-Gruppen, sind bereits seit den 1990er Jahren öffentlich präsent. Zu Beginn unserer Arbeit haben meine Kollegin Agnieszka Graff und ich uns gefragt: Warum sind sie gerade jetzt so mächtig geworden? Warum und wie üben sie aktuell einen solchen Einfluss auf die Politik aus?
Tatsächlich haben viele rechte politische Akteure erst vor einigen Jahren die »Anti-Gender-Rhetorik« aufgegriffen, entsprechende politische Forderungen gestellt und konservative Vorhaben unterstützt, beispielsweise Einschränkungen oder Verbote von Schwangerschaftsabbrüchen, Beschneidung der Rechte von queeren Menschen oder Widerstand gegen Gesetze, die Überlebende von häuslicher Gewalt unterstützen sollen. Warum haben Leute wie Matteo Salvini oder Donald Trump, die persönlich ja nicht sonderlich religiös sind, plötzlich diese Rolle als »Retter der traditionellen Familie« oder »Beschützer der Kinder vor der Gender-Ideologie« übernommen?
Tatsächlich haben diese Akteure nicht unbedingt eine ideologische Verankerung im Ultrakonservatismus, aber sie setzen entsprechende Akzente in diese Richtung, um politische Erfolge zu erzielen. Die derzeitige Politik der Rechten basiert weitgehend auf der Mobilisierung einer lautstarken Minderheit und der Verschärfung der Polarisierung bei kulturellen Fragen. Im polnischen oder italienischen Kontext handelt es sich bei dieser lautstarken Minderheit zum Beispiel um gläubige Katholikinnen und Katholiken sowie um Menschen, die sich durch die momentanen sozialen und kulturellen Veränderungen bedroht fühlen.
Vertreter der populistischen Rechten wollen als Anführer dieser Gruppen wahrgenommen werden und die Menschen für ihren Kulturkampf mobilisieren. Dies geschieht insbesondere in Form der angesprochenen opportunistischen Synergie: eine Zusammenarbeit zwischen diversen zivilgesellschaftlichen Akteuren, religiösen Fundamentalistinnen und rechtspopulistischen Politikern, wobei letztere durch diese Zusammenarbeit die ansonsten sehr schwachen ideologischen Wurzeln ihres Rechtspopulismus stärken und moralisierend eine tiefere Kluft zwischen »uns und den anderen« schaffen können.
Die populistische Rechte versucht in der Regel, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es korrupte Eliten gibt, die »das Volk« bedrohen. Der Anti-Gender-Diskurs ermöglicht es ihnen, die bestehende Kluft auch als moralisches Problem darzustellen und nicht nur als einen Kampf zwischen denen mit und denen ohne Macht. Der Graben zwischen »Volk« und »Eliten« soll vertieft werden. Die politische Debatte wird dabei zu einem regelrechten Überlebenskampf zwischen Gut und Böse, zwischen den Auserwählten und den Korrumpierten.
»LGBTQ-Personen oder Frauen, die für reproduktive Rechte kämpfen, werden als Teil der globalen liberalen Eliten dargestellt. So lassen sich sogar Gewalttaten von Anti-Gender-Aktivisten gegen solche Personen als Selbstverteidigung rechtfertigen.«
Darüber hinaus erlaubt ihnen die Anti-Gender-Rhetorik, die Frage, wer eine unterdrückte Minderheit ist, neu zu stellen und zu beantworten. So werden beispielsweise LGBTQ-Personen oder Frauen, die für reproduktive Rechte kämpfen, einerseits als unmoralisch, andererseits aber auch als Teil der globalen liberalen Eliten dargestellt. So lassen sich sogar Gewalttaten von Anti-Gender-Aktivisten gegen solche Personen als Selbstverteidigung rechtfertigen. Anti-Gender-Diskurse haben eine sehr starke emotionale Dynamik. Sie ermöglichen die Mobilisierung von Menschen, die dadurch ein Gefühl von Einheit und Gerechtigkeit bekommen. Dieses Gefühl erlaubt ihnen, sich im Recht zu fühlen, als wären sie wirklich »die Verteidiger unschuldiger Kinder gegen die Perversen«.
Ein Ziel dieser opportunistischen Synergie ist es, die Eliten zu verändern. Nach den Plänen von Rechtspopulistinnen und -populisten sollen nicht selten Vertreterinnen und Vertreter religiöser Gruppen und ultrakonservativer zivilgesellschaftlicher Organisationen die neuen Kader diverser staatlicher Einrichtungen werden, in beratende Ausschüsse berufen werden oder sogar Schlüsselpositionen in der Staatsführung einnehmen. Zivilgesellschaftliche und religiöse Akteure arbeiten eng mit rechtspopulistischen Parteien zusammen. Sie helfen sich gegenseitig ideologisch, organisatorisch, aber auch finanziell. In vielen Ländern erhalten solche Organisationen staatliche Mittel – und sind im Gegenzug loyal gegenüber Staat und Regierung. Die opportunistische Synergie kommt also allen Beteiligten zugute.
Warum ist die populistische Rechte mit ihrer Anti-Gender-Agenda so erfolgreich? Welche Fehler haben die liberalen Eliten – und möglicherweise auch die Linke – in der Vergangenheit gemacht?
Viele Liberale, aber leider auch Linke, neigen dazu, immer noch zwischen kulturellen und wirtschaftlichen Rechten zu unterscheiden, als ob es sich dabei um zwei getrennte Themenkomplexe handeln würde; die Rechte von Frauen, LGBTQ-Personen oder rassifiziert gelesenen Menschen werden als Kulturfragen behandelt. Dies ist nicht nur ein politischer und strategischer Fehler, sondern entspricht einfach nicht der Realität. Es ist richtig, dass wir Stereotypen überwinden, diskriminierende Sprache sowie Repräsentation und ganz allgemein Kulturfragen angehen wollen, aber das Thema Gleichberechtigung und Gleichstellung hat auch eine wirtschaftliche und soziale Dimension. Wessen Arbeit wird gewürdigt und wessen Arbeit bleibt unbezahlt? Wer sorgt für die Pflege? Wer hat Zugang zu Ressourcen? Das sind Sachen, die wir oft übersehen, wenn wir uns auf Fragen von Identität und Representation konzentrieren.
Der Erfolg der Rechtspopulisten, insbesondere in Ländern wie Polen und Ungarn, liegt vor allem darin begründet, dass es ihnen gelungen ist, kulturelle und sozioökonomische Fragen miteinander zu verknüpfen. Sie haben ein ultrakonservatives Programm mit einem System der sozialen Unterstützung kombiniert und damit eine Art chauvinistisches Wohlfahrtssystem geschaffen. In Polen nimmt dies die Form des Programms 500+ an, in dessen Rahmen Familien für jedes Kind unter 18 Jahren 500 Złoty (umgerechnet rund 125 Euro) pro Monat erhalten. In Ungarn spiegelt sich der Wohlfahrts-Chauvinismus in Subventionen für weiße Familien der Mittelschicht wider, die mehrere Mitglieder auf dem Arbeitsmarkt haben. Wir bezeichnen dies als chauvinistisches System, weil alle nicht der Norm entsprechenden Personen oder Familien – wie Migrantinnen und Migranten, Roma oder auch alleinerziehende Mütter – nicht davon profitieren.
Die meisten sozialen Probleme unserer Zeit hängen mit den Auswirkungen des Neoliberalismus zusammen. Mit Anti-Gender-Diskursen werden die Ängste der Menschen angezapft. In Ländern wie Polen glauben die Liberalen, dass der freie Markt für den Demokratisierungsprozess absolut notwendig ist. Er ist sozusagen ein essenzieller Teil des Gesamtpakets. Die Linke hingegen konzentriert sich oft nur auf die wirtschaftliche Kritik am Neoliberalismus – sie bezieht sich auf prekäre Arbeitsbedingungen oder mangelhafte Arbeitsrechte.
Zeitgleich ist es der populistischen Rechten gelungen, eine Kritik am Neoliberalismus zu formulieren, die den Kulturkampf mit wirtschaftlichen Problemen verbindet. Sie stellen den Liberalismus, Gleichstellung und Identitätspolitik als die Hauptursache für einen überbordenden Individualismus, Entfremdung und den Zerfall lokaler Gemeinschaften dar, die in Wahrheit einfach mit dem Spätkapitalismus Hand in Hand gehen. Die Rechtspopulisten in Europa postulieren daher: Nur die Familie wird uns vor diesem Niedergang retten, und deshalb muss der Staat sie um jeden Preis schützen. Selbstverständlich ist hier ausschließlich die »echte« Familie mit Mutter, Vater, Kind gemeint. In diesem Sinne sollten wir die Anti-Gender-Bewegung nicht nur als Ausdruck der religiös-konservativen Überzeugungen einer lautstarken Minderheit interpretieren. Anti-Gender-Kampagnen können auch als reaktionäre Antwort auf den Neoliberalismus verstanden werden.
In Anti-Gender-Narrativen finden sich einerseits der Wunsch nach einer »moralisch neuen Weltordnung«, andererseits ein starker Nationalismus. Wie werden diese beiden scheinbar widersprüchlichen Ziele zusammengebracht?
Wenn wir uns die Struktur der Anti-Gender-Kampagnen ansehen, wird deutlich, dass es sich um eine globale Bewegung handelt. Gleichzeitig wird stets versucht, lokal verwurzelt und bürgernah zu erscheinen. Das ist kein wirklich neues Phänomen. Die katholische Kirche agiert seit Jahrtausenden als multinationales Unternehmen mit Niederlassungen in der ganzen Welt. Gleichzeitig erscheint sie »authentisch« und mit der jeweiligen nationalen Identität in den einzelnen Ländern verwoben.
Die Kirche ist der Inbegriff von Globalisierung und kultureller Kolonisierung. Schließlich hat sie in der Vergangenheit (meist erfolgreich) versucht, ihre Werte mit Gewalt und Zwang in anderen Ländern zu verbreiten. Das hindert die Anti-Gender-Akteure übrigens nicht daran, selbst eine antikoloniale Rhetorik zu verwenden – sie behaupten, die einheimischen Katholikinnen und Katholiken (oder im weiteren Sinne die christliche Gemeinschaft) seien heute Opfer, die von den globalen liberalen Eliten »kolonisiert« und unterdrückt werden.
»In Polen zeigen rechte Politiker ganz offen homophobe und transphobe Haltungen. Im Gegensatz dazu erklären sie in Schweden beispielsweise, Frauen oder schwule Männer vor den muslimischen Barbaren aus dem Osten zu schützen.«
Gerade in unserer Region war diese Strategie erfolgreich. In den vergangenen dreißig Jahren hat Mittel- und Osteuropa gegenüber dem Westen aufgeholt, zumindest in Bezug auf Wirtschaftswachstum und vermeintlich gut funktionierende Demokratie. Im Anti-Gender-Narrativ sind aber wir diejenigen, denen der Westen letztlich folgen und von denen er lernen sollte, denn die vielgerühmten westlichen Demokratien würden »degenerieren«.
Ich arbeite derzeit in Schweden, das von der Rechten oft als moralisch degeneriert und von muslimischen Minderheiten heimgesucht dargestellt wird. Die polnischen Ultrakonservativen lieben es, Schweden zu hassen und warten auf jedes noch so klitzekleine Zeichen, dass das Land angeblich kurz vor dem Zusammenbruch steht. Der Anti-Gender-Diskurs arbeitet mit einer starken emotionalen Dynamik aus Stolz und Scham. Lange Zeit haben wir uns dafür geschämt, dass unsere Gesellschaft nicht weit genug entwickelt sei. Jetzt können wir endlich stolz darauf sein, dass wir diejenigen sind, von denen andere Länder lernen sollten und dass nach unserem Vorbild allmählich eine neue moralische Weltordnung geschaffen wird. Für viele ist das eine sehr überzeugende Geschichte, die wir uns erzählen können. Und Geschichten sind für die Politik sehr wichtig.
In der Tschechischen Republik wird der Diskurs viel stärker auf säkulärer Ebene geführt als beispielsweise in Polen – einfach, weil unsere Gesellschaft sehr viel atheistischer ist. In Eurem Buch schreibt Ihr, dass die Anti-Gender-Ideologie einerseits sehr flexibel, andererseits aber kohärent ist. Ist das scheinbar säkulare Auftreten tschechischer Organisationen wie der sogenannten Bewegung für das Leben oder der Allianz für die Familie ein Beispiel für eine gelungene Balance zwischen eben dieser Flexibilität und interner Kohärenz der Anti-Gender-Bewegung?
Ja, absolut. Diese Flexibilität zeigt sich auch bei der eben angesprochenen Spaltung zwischen Ost und West. Das können wir an den Attacken gegen die Gender Studies sehen: In Schweden zum Beispiel werden die Bemühungen, Gender Studies einzuschränken oder abzuschaffen, mit der Behauptung gerechtfertigt, es handele sich um eine unwissenschaftliche Disziplin. Der rechte Kolumnist Ivar Arpi behauptet, Gender Studies seien eher eine Religion als eine Wissenschaft. In den Ländern Mittel- und Osteuropas hingegen werden die Gender Studies als ein westlich-kolonialer Import und als Angriff auf die Religion gesehen.
Flexibilität findet sich auch im Gegensatz zwischen offenem Hass und Homophobie auf der einen Seite und einem Homonationalismus oder Femonationalismus auf der anderen: In Polen zeigen Politikerinnen und Politiker ganz offen homophobe und transphobe Haltungen. Im Gegensatz dazu sind sie in Schweden raffinierter und viel subtiler. Sie erklären dann beispielsweise, schwedische Frauen oder schwule Männer vor den muslimischen Barbaren aus dem Osten zu schützen, die sie angeblich vergewaltigen und ermorden würden.
Der Anti-Gender-Diskurs kann also die eigene Ausdrucksweise an den lokalen Kontext und die lokalen Bedürfnisse anpassen. Im Kern handelt es sich jedoch immer um die Tendenz, politische Differenzen moralisch zu bewerten und eine Spaltung zwischen der »normalen Bevölkerung« und den vermeintlichen Eliten zu vertiefen. Wie ich bereits erwähnt habe, positionieren sich die Anti-Gender-Akteure als Verteidiger der einfachen Menschen, was es ihnen wiederum ermöglicht, Gewalttaten zu rechtfertigen. Dies bringt uns zu der Frage, wo Anti-Gender-Kampagnen tatsächlich enden und wo Faschismus beginnt.
Wenn ich mit meinen gleichaltrigen tschechischen Freundinnen und Freunden spreche, sind viele davon überzeugt, dass Schwangerschaftsabbrüche hier niemals verboten werden oder dass so etwas wie die sogenannten LGBTQ-freien Zonen in Polen niemals eingeführt werden könnten – eben, weil wir eines der unreligiösesten Länder der Welt sind. Die tschechische Anti-Gender-Bewegung setzt deswegen auf eine Strategie des »schleichenden Vorankommens« und testet langsam aus, wie weit sie gehen kann. Manchmal gelingt es ihnen nicht ganz und sie zeigen ihr wahres Gesicht, wie zum Beispiel, als sie die Bereitstellung von Notfall-Verhütungsmitteln für Überlebende von Vergewaltigungen während des Krieges in der Ukraine kritisierten. Manchmal fürchte ich, dass wir eines Tages aufwachen und nicht mehr dieselben Rechte haben – ohne zu wissen, wann wir sie eigentlich verloren haben. Deshalb interessiert mich: Was können wir von den Erfahrungen mit der Anti-Gender-Bewegung in Polen lernen, wo deren Strategie ja doch sehr anders ist?
Klar, es ist möglich, eines Tages aufzuwachen und festzustellen, dass uns bestimmte Rechte genommen wurden, ohne zu wissen, wann genau das passiert ist. Das kann insbesondere dann passieren, wenn wir der Politik wenig Aufmerksamkeit schenken. Diese Art von Veränderung ist normalerweise ein langer Prozess. Ich persönlich sehe eine große Gefahr darin, wie Anti-Gender- und Anti-Choice-Aktivisten Narrative und Begriffe aus dem Bereich Menschenrechte oder diversen feministischen Zusammenhängen übernehmen und ausnutzen. Sie nehmen ein bestimmtes Wort, wie »Frauenrechte«, verändern seine Bedeutung und laden es stark emotional auf.
Sprache spielt eine große Rolle. Wir können das sehr deutlich an den Ergebnissen von Meinungsumfragen sehen. Die Ergebnisse werden unterschiedlich ausfallen, wenn man dieselben Menschen fragt, ob sie »ungeborene Kinder mit Behinderungen schützen wollen« oder ob sie »schwangere Frauen dazu zwingen wollen, einen Fötus mit Anomalien bis zum Ende auszutragen, selbst wenn das Kind kurz nach der Geburt stirbt«. Anti-Gender-Aktivisten verknüpfen ihre Rhetorik gegen Schwangerschaftsabbrüche oft mit dem angeblichen Schutz von Frauen, insbesondere im sozioökonomischen Bereich.
»Anti-Gender-Aktivisten glauben selbst nicht, was sie predigen. Wir sollten ihre Heuchelei ständig entlarven. Wir sollten aber nicht die Menschen ausgrenzen, die auf diese Propaganda hereinfallen, sondern darüber nachdenken, wie wir unser Land zu einem Raum machen können, in dem es Platz für alle gibt.«
Es ist leicht, Polen als Sonderfall abzutun, weil die katholische Kirche dort eine viel stärkere Position hat als in der Tschechischen Republik oder an vielen anderen Orten in Europa. Ich denke, dass wir immer wachsam sein müssen. Wenn man sich die Kampagnen oder Veranstaltungen tschechischer Anti-Gender-Organisationen ansieht, stellt man fest, dass auch dort meistens Priester an diesen Aktionen teilnehmen oder sie sogar anführen. Viele religiöse Fundamentalisten sind heute in der Lage, ultrakonservative Ansichten unter dem Vorwand zu verbreiten, dass es sich dabei um eine Frage des Gewissens oder des gesunden Menschenverstands handelt. Das hat dann scheinbar nichts mit Religion zu tun.
Ich denke, dass wir uns heute mehr denn je bewusst sein müssen, für welche Werte wir stehen und welche Sprache wir verwenden, um für diese Werte zu kämpfen. Wir müssen uns über die ideologische Verankerung im Klaren sein. Wenn das Reden über Menschenrechte durch Anti-Gender-Rhetorik belastet und sozusagen »beschmutzt« wird, wird es für die breite Bevölkerung sehr viel schwieriger, zu erkennen, worum es in der Debatte eigentlich geht. Das gilt insbesondere für Menschen, die vielleicht nicht viel über dieses Thema wissen.
Wie geht man also vor? Ein Beispiel könnte die feministische Bewegung Czarny Protest (Schwarzer Protest) sein. Die Protestierenden in Polen haben sich nicht in abstrakt-komplizierter Sprache von Menschenrechtsexpertinnen, Aktivisten oder Akademikerinnen verloren. Sie fanden starke emotionale Begriffe und sprachen die konkreten Auswirkungen der Gesetzesvorschläge an, ebenso wie ihre persönlichen Erlebnisse, Ängste, Leiden. Wir brauchen eine solche Sprache, die an unsere Alltagserlebnisse anknüpft und Emotionen transportiert. So mobilisiert man Menschen.
Paradoxerweise hat der Angriff auf die Frauen- und LGBTQ-Rechte in Polen die Einstellung der Menschen in die entgegengesetzte Richtung von dem verändert, was sich die Ultrakonservativen ausgemalt hatten. In den vergangenen sechs Jahren hat sich die Einstellung vieler Menschen, insbesondere der jüngeren Generation, stark verändert. Für die Jüngeren ist die Frage des Schwangerschaftsabbruchs keine Kompromiss-Frage mehr: Je nach Umfrage sind 70 bis 80 Prozent der jungen Polinnen und Polen für eine vollständige und uneingeschränkte Legalisierung.
Vertreter der tschechischen Anti-Gender-Bewegung besuchen regelmäßig Schulen und halten Vorträge vor jungen Schülerinnen und Schülern. In der Regel stehen diese Vorträge im absoluten Widerspruch zur modernen Sexualpädagogik. Kannst Du uns beschreiben, ob es eine solche Beeinflussung der Jugend auch in Polen gibt und wie sie aussieht?
In Polen ist es der Regierung sehr gut gelungen, den Zugang zivilgesellschaftlicher Organisationen, insbesondere progressiver Gruppen, zu Schulen und anderen Bildungseinrichtungen zu begrenzen. Der derzeitige Bildungsminister ist ein ultrakonservativer Politiker, der seine ideologische Agenda ganz offen darlegt. Er will das gesamte Bildungssystem in eine Brutstätte für Nationalistinnen und fromme Katholiken umgestalten, daran lässt er keinen Zweifel.
Darüber hinaus gibt es eine gute Zusammenarbeit zwischen ultrakonservativen Organisationen und Schulen, sei es auf lokaler Ebene oder online. Solche Organisationen erhalten vom Staat Millionen in Form diverser Spenden oder speziell ausgerichteter Programme. Progressive Organisationen hingegen sind von jeglicher finanzieller Unterstützung durch den Staat ausgeschlossen. Polen ist ein extremes Beispiel dafür, was passiert, wenn man Anti-Gender-Organisationen erlaubt, die Regeln für die Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen zu diktieren.
Du befasst dich schon seit Langem mit der Anti-Gender-Bewegung. Ich selbst mache das erst seit rund vier Monaten und finde es jetzt schon extrem anstrengend. Als meine Kollegin und ich eine der führenden Anti-Gender-Akteurinnen in Tschechien befragen wollten, wurde uns beiden klar, wie angsteinflößend sie war. Die Vertreter der Anti-Gender-Bewegung haben kein Problem damit, dich anzulächeln und dir ins Gesicht zu lügen, dass die polnischen Frauen doch super leben. Woher nimmst Du den Mut und die Energie, Deine Forschung und Deinen Aktivismus fortzusetzen?
Ich komme aus Białystok, einer Stadt in Nordostpolen, die sehr konservativ ist und eine große sowie einflussreiche katholische Gemeinde hat. Sowohl meine Mutter als auch meine Großmutter waren sehr gläubig. Meine Mutter kandidierte 2004 sogar bei den Kommunalwahlen für eine rechtsnationalistische, antieuropäische Partei. Trotzdem haben wir uns geliebt und sie war eine große Unterstützung für mich, als ich begann, mich in der Frauenbewegung zu engagieren. Ich glaube, viele Menschen, die auf die Anti-Gender-Propaganda hereinfallen, tun dies aus einem bestimmten Grund. Vielleicht sind sie sehr religiös, haben Angst vor einer sich schnell verändernden Welt, in der sie sich übergangen fühlen, oder sie sind sozioökonomisch benachteiligt. Dann werden sie plötzlich auf Anti-Gender-Propaganda aufmerksam, die ihnen erstens einen Sündenbock bietet und zweitens Hoffnung auf eine bessere Zukunft macht.
Ich empfinde weder Liebe noch Hass für Politikerinnen oder andere Akteure von Anti-Gender-Organisationen. Ich weiß, dass ihre Strategien und ihre Haltung oft opportunistisch sind – sie glauben selbst nicht, was sie predigen. Sie sind zynische Heuchler. Und wir sollten ihre Heuchelei ständig entlarven und uns ihren Kampagnen widersetzen. Wir sollten aber nicht die Menschen ausgrenzen, die auf die Anti-Gender-Propaganda hereinfallen, sondern vielmehr darüber nachdenken, wie wir unser Land zu einem Raum machen können, in dem es Platz für alle gibt. Das ist unglaublich schwierig, wenn wir diejenigen sind, deren Rechte bedroht sind und die ständig angegriffen werden. Man wird nicht als Frau geboren, man wird zur Frau. Man wird auch nicht als Faschist geboren, man wird im Laufe des Lebens zum Faschisten.
»Wir müssen sagen: Wir, also Frauen und Minderheiten, sind auch das Volk, und ihr Anti-Gender-Eliten vertretet uns nicht. Ihr seid Teil der korrupten Elite.«
Man muss immer im Hinterkopf behalten, dass Polarisierung ein Spiel mit zwei Spielern ist. Es ist wie beim Tanzen – es braucht zwei. Wenn wir das gleiche Spiel wie die Faschisten spielen, werden wir Teil des Problems, nicht der Lösung. Ich verstehe aber natürlich, dass diese Haltung nicht für jede und jeden eine Option ist. Für mich als heterosexuelle Cis-Frau ist es zum Beispiel nicht so schwierig und potenziell gefährlich, mich gegen homophobe Attacken zu stellen, sie zu kritisieren und mich zu distanzieren, wie es für eine queere Person ist. Ich will damit nicht sagen, dass wir unsere politischen Gegner einfach akzeptieren sollten, wie sie sind. Aber ich denke, wir sollten zumindest versuchen, zu verstehen, warum einige Menschen so empfänglich für Anti-Gender-Narrative sind.
Du betonst, dass wir einen »feministischen Populismus« als Gegenpol zur Anti-Gender-Bewegung brauchen. Was genau meinst Du damit? Und muss dieser auch antikapitalistisch sein? Ich frage das, weil Ihr in Eurem Buch auf den antikapitalistischen Text Feminismus für die 99% verweist, aber mit diesem zumindest in Teilen auch nicht einverstanden seid. Verstehe ich das richtig?
Wenn meine Co-Autorin Agnieszka Graff und ich über feministischen Populismus sprechen, folgen wir Chantal Mouffe, die Populismus als eine Ideologie oder einen politischen Stil bezeichnet, der weder unbedingt gut noch unbedingt schlecht ist. Er nimmt in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Formen und Ausprägungen an. Wir leben in einer Krise des kapitalistischen Systems und gleichzeitig in einer Krise der Demokratie, die mit Fragen der Repräsentation und der Macht verbunden ist. Die Schlüsselfragen lauten heute: Wer ist das Volk, wer hat eine Stimme, wer hat Legitimität und wer wird wirklich vertreten?
Wenn Rechtspopulisten behaupten, die Stimme des Volkes zu sein, reagiert die Linke meist mit Verweisen auf den Rechtsstaat, in Polen insbesondere das Verfassungstribunal, und die Stabilität des Justizsystems. Dies sind zweifellos wichtige Aspekte der Demokratie, aber der Konflikt in der heutigen Politik liegt woanders. Wie die Frauen in Polen müssen wir sagen: Wir, also Frauen und Minderheiten, sind auch das Volk, und ihr Anti-Gender-Eliten vertretet uns nicht. Ihr seid Teil der korrupten Elite. Ich will damit nicht sagen, dass wir die Sprache des Rechts oder die Sprache der Menschenrechte aufgeben sollten. Wir müssen sie aber mit Konfliktfreude und Emotionen aufladen; wir müssen sie mit konkreter Bedeutung füllen.
Ich finde es wirklich bizarr, dass die aktuelle Politik, abgesehen von der populistischen Rechten, sich von Emotionen fernzuhalten versucht. Emotionen sind Teil unseres Lebens, deswegen sollten sie auch Teil der Politik sein. Emotionen stehen nicht im Widerspruch zu Fakten, beide sind miteinander verwoben. Wenn Politikerinnen über den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch sprechen, sollten sie dies nicht als eine abstrakte Entscheidung, als eine rein rechtliche Frage darstellen. Sie sollten über die realen Erfahrungen von Frauen sprechen, die gezwungen sind, ein Kind zur Welt zu bringen, das sie nicht wollen oder sich nicht leisten können. Welche Gefühle hängen damit zusammen? Wir reden hier von Verzweiflung, von Qual. Es ist eine furchtbare Erfahrung, die niemand durchmachen sollte, wenn wir sie doch verhindern können. Progressive Politik muss bewusst unsere alltäglich gelebte, körperliche Erfahrung widerspiegeln, die Fakten benennen und sie emotional mit entsprechenden Schlussfolgerungen verbinden.
In der Tschechischen Republik sehen viele den Kampf der polnischen Feministinnen und Feministen als gescheitert an. Schließlich wurden Schwangerschaftsabbrüche weiter kriminalisiert; die Faschisten scheinen gesiegt zu haben. Wie siehst Du das?
Ich gebe an der Universität einen Kurs über soziale Bewegungen. Da wird mir von den Studierenden oft die Frage gestellt: War die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung erfolgreich? Ja, natürlich, sie war äußerst erfolgreich. Die Jim-Crow-Gesetze wurden aufgehoben und neue Gesetze eingeführt, um die Segregation in den wichtigsten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu beenden. Dann kommt gewöhnlich die Frage: War die Bewegung denn ein großer oder eher ein kleiner Erfolg? Ist sie nicht eigentlich gescheitert, wenn man bedenkt, dass Martin Luther King Jr. getötet wurde, dass sich die Lebensbedingungen vieler Afroamerikanerinnen bis heute nicht geändert haben, dass Polizeigewalt so weit verbreitet ist? Ich würde sagen: Diese Bewegung war in vielerlei Hinsicht ein Erfolg, aber der Prozess der Veränderung geht heute noch weiter.
»Hoffnung ist privatisiert worden. Wir haben das Gefühl, dass uns persönlich etwas Gutes widerfahren muss, damit wir Hoffnung empfinden. Die Bürgerrechtsbewegung in den USA sah Hoffnung als eine Arbeit, die gemeinsam bewältigt werden muss.«
Das Gleiche gilt für Polen. Mit der Entscheidung des Verfassungstribunals wurde der Zugang zum legalen Schwangerschaftsabbruch im Land stark eingeschränkt. Doch möglicherweise war diese Entscheidung der Kipppunkt in einem sehr viel umfassenderen Wandel, der in Zukunft Früchte tragen wird. Denn in Polen haben viele Menschen ihre Meinung zu diesem Thema geändert. 60 bis 70 Prozent der gesamten polnischen Bevölkerung sind für irgendeine Form des legalen Schwangerschaftsabbruchs, während es vor 2016 nur 30 Prozent waren. Die feministische Bewegung ist zu einer Massenbewegung geworden. Anders als zum Beispiel in Ungarn ist der Feminismus in unserem Land nicht nur in NGOs und in bürokratisierten Gruppen verankert – wir haben eine lokale Mobilisierung, zahlreiche Protestgruppen, eine Massenbewegung.
Darüber hinaus ist die polnische Linkspartei wieder ins Parlament eingezogen, und wir haben mehrere weibliche Abgeordnete, die offen feministische Positionen vertreten und enge Verbindungen zu Aktivistenkreisen pflegen. Im vergangenen Jahr hat außerdem die Verfügbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen, die vom Aborcyjny Dream Team vermittelt werden, stark zugenommen. Allein im letzten Jahr konnten sie 44.000 polnischen Frauen helfen. Während die Politik in Polen also immer konservativer wird, wird die Gesellschaft deutlich progressiver.
Ich habe in letzter Zeit viel über Hoffnung nachgedacht und darüber, wie wir sie heute wahrnehmen. Hoffnung ist privatisiert worden. Wir haben das Gefühl, dass uns persönlich etwas Gutes widerfahren muss, damit wir Hoffnung empfinden; dass wir in irgendeiner Weise Erfolg haben müssen, der uns dann als Einzelpersonen Hoffnung gibt. Historisch gesehen war das jedoch anders. Die angesprochene Bürgerrechtsbewegung in den USA sah Hoffnung als eine Arbeit, die gemeinsam bewältigt werden muss, und nicht als eine persönliche Reaktion auf die Außenwelt.
Ich wünsche mir,
wir könnten die Hoffnung wieder politisieren und sie nicht nur als
unsere individuelle Reaktion auf die Welt da draußen verstehen,
sondern als gemeinsame Verpflichtung, die Welt zu einem besseren Ort
zu machen. Hoffnung ist unsere kollektive Aufgabe, getrieben von der
Vision einer besseren Welt. Und so sollten wir sie auch wieder
verstehen.
Dieses Interview ist Teil des Projekts »Zwischen Gott und der Alt-Right: Eine Studie über die tschechische Anti-Gender-Bewegung«, in der tschechischen Online-Zeitschrift Alarm. Die Serie, die aus Reportagen, Analysen und investigativen Artikeln besteht, wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert.
Elżbieta Korolczuk ist Soziologin und feministische Aktivistin aus Polen. In ihrer Forschung und ihren Publikationen beschäftigt sie sich mit der Frauenbewegung, der Zivilgesellschaft sowie der Politisierung reproduktiver Rechte. Sie arbeitet an der Södertörn Universität in Stockholm und dem American Studies Center an der Universität Warschau. Sie ist Co-Autorin von Anti-Gender Politics in the Populist Moment.