07. Februar 2022
Seit neuestem versuchen Konservative wieder, den »Nationalsozialismus« mit dem Sozialismus gleichzusetzen. Nichts könnte falscher sein.
Hitler grüßt den von der NSDAP eingesetzten Leiter der »Deutschen Arbeitsfront« Robert Ley, 1935.
Seit dem Zweiten Weltkrieg ist immer wieder versucht worden, den Sozialismus ideologisch und politisch mit dem Nazismus gleichzusetzen. Zum einen, um zu vertuschen, dass die Nazi-Diktatur durch Konservative und Industrielle ermöglicht und gestützt wurde; zum anderen, um im Sinne des strikten Antikommunismus des Kalten Krieges jede sozialistische Idee zu diskreditieren.
Ja, die Nazis nannten sich selbst »Nationalsozialisten«. Aber sie sprachen auch von sich als den Vertretern einer »arischen Herrenrasse« – und da nimmt man sie heute gemeinhin auch nicht mehr beim Wort. Die Selbstbezeichnungen der Nazis für bare Münze zu nehmen, bedeutet, dass man entweder auf ihre Propaganda reinfällt, oder sie wissentlich fortsetzt. Wer den »Nationalsozialismus« allen Ernstes für Sozialismus hält, verhöhnt die Kommunistinnen und Sozialisten, die im Widerstand kämpften oder den Konzentrationslagern zum Opfer fielen. Und wer versucht, Hitler als einen Linken zu porträtieren, betreibt nichts geringeres als Geschichtsrevisionismus.
Wie die meisten kulturkämpferischen Anmaßungen von rechts, kommt auch der neuste Trend zu solchen Gleichsetzungen aus den USA, wo Republikaner die aufstrebende sozialistische Bewegung mit dem deutschen Faschismus in Verbindung zu bringen versuchen. Dass sich nun auch hierzulande Konservative und Neoliberale nicht zu schade sind, diese Art der Geschichtsklitterung zu betreiben, ist angesichts von rechten Anschlägen und dem Aufstieg der AfD im Osten brandgefährlich. Wieder scheinen Sozialistinnen und Sozialisten dafür herhalten zu müssen, dass die Brandmauer nach rechts von Konservativen selbst eingerissen wird.
Dabei wird nicht nur die Selbstbezeichnung der Nazis anerkannt und wiederverwendet – man geht sogar soweit zu behaupten, Hitler hätte den Sozialstaat begründet. Das ist bereits im Falle der Sozialgesetzgebung Otto von Bismarcks ein Mythos bürgerlicher Geschichtsschreibung, der außer Acht lässt, dass die Herrschenden stets nur die Forderungen und Kämpfe der Arbeiterbewegung befriedet oder vereinnahmt haben, damit sozialistische Parteien und Gewerkschaften nicht zu stark werden.
So wie Bismarck mithilfe von Zuckerbrot und Peitsche die sozialistische Bewegung aufhalten wollte, versuchten die Faschisten Teile der Arbeiterschaft für sich gewinnen, indem sie dem damals populären Sozialismus Lippendienst erwiesen und etwa den 1. Mai zum nationalen Feiertag umdeuteten, daraufhin aber am 2. Mai 1933 die Gewerkschaften zerschlugen. Das Arbeits- und Sozialrecht der Nazis sorgte für Repression und Verfolgung.
Hitler selbst hat der Arbeiterbewegung die Niederlage des deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg angelastet. Sie habe in einem empfindlichen Moment des Krieges das Rückgrat der deutschen Rüstungsindustrie gebrochen. Der Munitionsstreik von 1918 hatte zuerst große Teile Österreich-Ungarns erfasst und wenige Wochen später auch Berlin erreicht, wo mehr als 150.000 Arbeiterinnen und Arbeiter die Betriebe stillstehen ließen. Für Hitler war klar: Um seine eigene Macht zu festigen, war der Kampf gegen die organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter unerlässlich.
Der Historiker Günter Morsch beschreibt, wie die Nazis mit ihrer Praxis der »kalkulierten Improvisation« noch vor allen Gesetzen die Desorganisierung der Arbeiterinnen und Arbeiter verfolgten. Dem lag die taktische Annahme zugrunde, dass eine gewisse Autonomie der Exekutive die Furcht vor dem Ungewissen in den Reihen ihrer Gegner schüren würde. Diese Willkür bildete einen zentralen Bestandteil dessen, was man gemeinhin als »Schreckensherrschaft« bezeichnet. Damit lässt sich auch erklären, dass das NS-Regime kein allgemeines Streikverbot umgesetzt hat – denn ein solches hätte sie das Element der Unberechenbarkeit gekostet. Stattdessen wurden aufmüpfige Arbeiterinnen und Arbeiter immer wieder Opfer willkürlicher Repression – und das konnte von Verwarnungen über Haft bis zur Verordnung von Zwangsarbeit alles bedeuten.
Neben dieser »kalkulierten Improvisation« erließ das NS-Regime das »Gesetz zur Ordnung der Nationalen Arbeit« (AOG), das ganz offen der Einhegung von Arbeitskämpfen diente. Auch aufgrund der Lobbyarbeit vieler Unternehmen wurden sogenannte Arbeitserziehungslager eingerichtet. Streikende sowie »aufmüpfige Arbeiter« konnten zur Arbeit in diesen Lagern verdonnert werden – unter Bedingungen, die Morsch zufolge jenen in Konzentrationslagern nicht unähnlich waren.
Außerdem gab das AOG den Unternehmern durch bewusst schwammige Formulierungen die Möglichkeit an die Hand, jederzeit eine fristlose Kündigung erwirken zu können. So waren die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht nur der Willkür der Gestapo, sondern auch jener ihrer Chefs schutzlos ausgeliefert.
Dass die Anzahl von Streiks und Arbeitskämpfen 1936/37 laut Statistiken immer weiter zurückging, lässt sich jedoch nicht allein durch die drakonischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeiterbewegung erklären. Trotz der enormen Risiken kam es immer wieder zu Arbeitsniederlegungen, wie zum Beispiel 1936 in den Darmstädter Opel-Werken. Vielmehr sind die niedrigen Zahlen auf eine Politik des Totschweigens zurückzuführen. Damit sollten mögliche Protestwellen bereits im Keim erstickt werden. So heißt es in den »Richtlinien zur Bekämpfung und Behandlung der Kurzarbeitsniederlegungen« von 1936: »Jedes Aufsehen ist unbedingt zu vermeiden, um der staatsfeindlichen Propaganda keine Anhaltspunkte zu liefern.«
Die 68er-Bewegung brachte ans Licht, dass es zwischen dem faschistischen Regime und der Bundesrepublik eine Reihe personeller und gesetzlicher Kontinuitäten gab und gibt. Das Verbot »wilder Streiks«, die nicht von Gewerkschaften, sondern den Arbeiterinnen und Arbeitern selbst ausgerufen werden, lässt sich auf die Verfasser des AOG zurückführen und gilt bis heute. Spuren wie diese finden sich nicht nur im Arbeitsrecht, sondern auch in Institutionen wie dem Bundesnachrichtendienst. Sie reichen bis weit in die Parlamente und Gerichtssäle hinein.
Diese Linien werden durch geschichtsrevisionistische Debatten stets verwischt, um die eigene Mitschuld zu verbergen. Stattdessen versucht man, Linke für den Faschismus verantwortlich zu machen. Das läuft jedoch damals wie heute stets darauf hinaus, Faschisten zu rehabilitieren statt sie zu bekämpfen. Daran sollte sich niemand mit Herz und Verstand beteiligen.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.