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07. Oktober 2025

Häftlinge sind staatlicher Gewalt schutzlos ausgeliefert

Der 15-jährige Nelson soll in Haft Suizid begangen haben. Mithäftlinge und Angehörige bezweifeln das, doch ein unabhängiges Gutachten wird es nicht geben. Der Fall zeigt: Wer in Polizeigewahrsam stirbt, kann sich nicht auf staatliche Aufklärung verlassen.

Ein Gang der JVA Ottweiler, in der Nelson Dil de Sousa Bulica unter ungeklärten Umständen zu Tode kam.

Ein Gang der JVA Ottweiler, in der Nelson Dil de Sousa Bulica unter ungeklärten Umständen zu Tode kam.

IMAGO / Becker&Bredel

Am 2. August 2025 kam der fünfzehnjährige Nelson Dil de Sousa Bulica in der JVA Ottweiler im Saarland zu Tode. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft soll es sich um einen Suizid »ohne Fremdeinwirkung« gehandelt haben. Diesem Narrativ wird vor allem von Mithäftlingen, Angehörigen und Aktivisten widersprochen.

Bekannt wurde der Fall vor allem durch den Protest der Mithäftlinge, siebzehn von ihnen streikten am Folgetag – das heißt, sie weigerten sich, nach dem Freigang in ihre Zellen zurückzukehren. Es mussten Spezialkräfte anrücken, um den Protest zu brechen, zwei der Initiatoren wurden sogar in andere JVAs versetzt – vermutlich, um weitere Aktionen zu verhindern. Mitgefangene berichteten, dass Nelson am Vortag so ausgehungert gewesen sei, dass er Süßigkeiten gestohlen habe, worauf er von Beamten beleidigt und zusammengeschlagen worden sei. Nelsons Vater erklärte, seinen Sohn, der aufgrund der Gewalt der Wärter völlig entstellt war, auf Bildern nicht wiederzuerkennen.

»Nelsons Leichnam wurde ohne das Wissen seiner Familie eingeäschert. Ihnen wurde dadurch nicht nur die Möglichkeit auf Aufklärung, sondern auch auf Abschied genommen.«

Nelson war erst fünfzehn Jahre alt, was seinen Tod besonders tragisch macht. Aber er ist nicht der erste Todesfall in staatlichem Gewahrsam dieses Jahr. Erst wenige Monate zuvor wurde der zwanzigjährige Lorenz von der Polizei in Oldenburg erschossen.

Es sind migrantische oder schwarze Männer wie Nelson und Lorenz, die ein besonders erhöhtes Risiko haben, exzessive Gewalt durch Polizei und Justiz zu erleben. In der Regel können sie sich bei der Aufklärung dieser Gewalt nicht auf staatliche Behörden verlassen. Diese kommt erst durch Angehörige und solidarische Initiativen zustande.

Kein Einzelfall

Die Kampagne Death in Custody zählt Todesfälle in staatlichem Gewahrsam und hat dazu eine Chronik erstellt. Gewahrsam wird dabei nicht nur räumlich, sondern auch akteursbezogen gefasst – das heißt überall da, wo der staatliche Gewaltapparat involviert ist. In dieser Chronik werden nicht nur die Fälle gezählt, bei denen von einer direkten Gewalteinwirkung durch die Beamten ausgegangen wird, sondern auch Suizide.

Begründet wird das damit, dass selbst bei einem tatsächlichen Suizid in einer Situation, in der die persönliche Freiheit so stark eingeschränkt ist, nicht von einem freiwilligen Tod gesprochen werden kann. Darüber hinaus ist in vielen Fällen anzuzweifeln, ob es sich tatsächlich um Suizide handelt, beziehungsweise glaubhaft nachgewiesen worden, dass dies nicht der Fall war. Das ist aber häufig schwer aufzuarbeiten, da die Deutungsmacht bei den Behörden liegt, was sich in vielen der von Death in Custody dokumentierten Fälle zeigt.

Da ist zum Beispiel der Algerier Ferhat Mayouf, der 2020 in der JVA Moabit Berlin angeblich Suizid beging. Wie Nelson wurde er von Schließern verprügelt und anschließend in Isolationshaft gesteckt. In seiner Zelle brach ein Feuer aus und obwohl er mehrmals an seine Zellentür hämmerte und um Hilfe rief, ließen die Wärter ihn nicht raus. Sie verständigten stattdessen die Feuerwehr. Als diese 27 Minuten später eintraf, war Ferhat bereits an einer Rauchvergiftung erstickt. Die Staatsanwaltschaft sah kein Fehlverhalten der Wärter und tat den Fall als Suizid ab. Auch hier war es vor allem sein Mithäftling, der den Fall in die Öffentlichkeit trug.

»Ob eine rassistische Motivation vorliegt, ändert wenig an der Realität der absoluten Verfügungsgewalt, die über Häftlinge besteht.«

Oder Amad Ahmad, ein Kurde, der aus Syrien nach Deutschland floh, aufgrund einer Verwechslung festgenommen und zu Unrecht mehrere Monate inhaftiert wurde. Nachdem in seiner Zelle in der JVA Kleve ein Brand entfacht war, erlag er seinen Verletzungen. Die Ermittlungen des Innenministeriums NRW wurden mit der Feststellung eingestellt, dass Ahmed den Brand selbst gelegt hätte, um Suizid zu begehen. Dagegen spricht, dass er nach Ausbruch des Brandes die Gegensprechanlage betätigte, wahrscheinlich, um nach Hilfe zu rufen. Es wirkt, so sein Vater, auch wenig plausibel, dass jemand, der in Syrien deutlich schlimmere Gefängnisfolter erlitten und eine lebensgefährliche Flucht überlebt hat, ausgerechnet in Deutschland Suizid begehen sollte.

Nelsons Tod erinnert aber auch an den aus Sierra Leone geflüchteten Oury Jalloh, dem vermutlich bekanntesten Fall von Polizeigewalt in Deutschland. Jalloh wurde 2005 tot in einer Dessauer Polizeizelle aufgefunden. Es waren seine Freunde, der größte Teil von ihnen selbst afrikanische Geflüchtete, die nicht losließen und daran festhielten, dass es sich nicht um einen Suizid gehandelt haben kann. Auch wenn zahlreiche unabhängige Gutachten diese These bestätigten, gab es keine Konsequenzen für die Beamten.

Der Staat ist parteiisch

Die saarländische Justizministerin Petra Berg (SPD) versprach eine »lückenlose Aufklärung« von Nelsons Tod, stellte sich aber auch hinter die Beamten. Gegen zwei von ihnen läuft aktuell zwar ein Verfahren wegen Körperverletzung, aber offizielle Verfahren zu solchen Fällen werden in der Regel nach kurzer Zeit fallen gelassen. Die Beweislast ist oft zu gering und der Korpsgeist bei Polizei und anderen Justizbeamten sorgt dafür, dass sie sich in der Regel nicht gegenseitig belasten. Unabhängige Stellen, bei denen Beamte ihre Kollegen anonym belasten können, gibt es bisher nicht. Dass die Staatsanwaltschaft »keine Hinweise auf Fremdeinwirkung« sieht und behauptet, es gäbe »keine äußeren Verletzungszeichen«, kann also als parteiische Quelle gelten.

In den meisten Fällen braucht es darum unabhängige Gutachten und Aktivismus von Familie, Freunden oder Bekannten der Opfer, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Aktivisten von der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh deckten bei ihren Recherchen zu dem Polizeirevier in Dessau sogar eine Kontinuität auf: 1997 wurde Hans-Jürgen Rose, anderthalb Stunden nachdem er aus dem Polizeirevier Dessau entlassen wurde, mit schweren inneren Verletzungen aufgefunden, an denen er später im Krankenhaus erlag. 2002 wurde der Obdachlose Mario Bichtemann auf demselben Polizeirevier tot mit einem Schädelbasisbruch in seiner Zelle aufgefunden.

Die Möglichkeit eines unabhängigen Gutachtens, das zumindest im Fall Oury Jalloh zu einer anderen Öffentlichkeit beitrug, wurde bei Nelson verunmöglicht. Sein Leichnam wurde ohne das Wissen seiner Familie eingeäschert. Ihnen wurde dadurch nicht nur die Möglichkeit auf Aufklärung, sondern auch auf Abschied genommen.

»Bis heute hat sich das Justizministerium des Saarlands nicht bei Nelsons Familie gemeldet – diese hätte der saarländischen Justiz schließlich Vorwürfe gemacht, so die Behörden.«

Der Vorsitzende der Saarländischen Linkspartei Florian Spaniol forderte, dass die Ermittlungen zum Fall von Nelson in Ottweiler »die Frage einer möglichen rassistischen Motivation« im Umgang mit dem Jugendlichen aufarbeiten werden müssen. Das ist zwar wohlwollend, aber ob eine rassistische Motivation vorliegt, ändert wenig an der Realität der absoluten Verfügungsgewalt, die über Häftlinge besteht. Motivation ist nicht ausschlaggebend dafür, ob es sich um einen Fall von strukturellem Rassismus handelt.

Das Risiko, überhaupt in einer solchen Situation der Gefangenschaft zu enden, ist für bestimmte Gruppen höher als für andere. Menschen ohne sicheren Aufenthaltsstatus, migrantische Jugendliche und Obdachlose sind staatlichen Behörden besonders stark ausgeliefert und ungleich mehr von exzessiver Gewalt durch den Staat betroffen. Sie sind es auch, die weniger Mittel haben, um sich dagegen zur Wehr zu setzen und weniger Zugang zu staatlichen Institutionen, um ihre Rechte zu schützen.

Dass es für die Beamten, die diese Gewalt begehen, in der Regel keine Konsequenzen gibt, ist für die Angehörigen häufig ein weiterer Schlag. Es zeigt, dass es innerhalb staatlicher Institutionen keine Gerechtigkeit für sie gibt. Jene Institutionen, von denen Gewalt ausgeht, haben schlicht kein Interesse an ihrer Aufklärung. Diese Rechtlosigkeit ist nicht das Ergebnis von individuellem Fehlverhalten, sondern strukturell angelegt in einem System, das Menschen schutzlos ausliefert.

Das Einzige, was bisher Aufklärung schaffen konnte, waren die organisierten Anstrengungen von Angehörigen und Menschen, die mit ihnen solidarisch sind. Auch im Fall Nelson sind es Initiativen von unten, die der Familie Beistand anboten und Geld für die Beerdigung sammelten. Die Beisetzung von Nelsons Urne fand am 1. September mit seiner Familie und mehr als 200 weiteren Teilnehmern statt. Von staatlicher Seite nahm niemand teil. Bis heute hat sich das Justizministerium des Saarlands nicht bei Nelsons Familie gemeldet – diese hätte der saarländischen Justiz schließlich Vorwürfe gemacht, so die Behörden.

Bafta Sarbo ist Sozialwissenschaftlerin und Verfasserin des Vorworts zur Neuausgabe von Walter Rodneys Wie Europa Afrika unterentwickelte (Manifest, 2023).