17. August 2024
Benjamin Netanjahu lässt sich nicht von Worten beirren – auch nicht, wenn diese hinter verschlossenen Türen fallen. Um ihn politisch zu besiegen, braucht es schlicht und ergreifend ein Ende des aktuellen Krieges. Die USA hätten die Macht, das zu erzwingen.
Benjamin Netanjahu spricht vor einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses im Repräsentantenhaus des US-Kapitols, 24. Juli 2024.
Benjamin Netanjahu hat die Zügel in Israel wieder in der Hand. Er und seine Regierungskoalition schneiden in den Umfragen aktuell ähnlich ab wie vor Kriegsbeginn. Sie haben zwar nach wie vor keine Mehrheit, wären nach aktuellem Stand aber in der Lage, im Falle von Neuwahlen jede andere Koalition zu verhindern. Bibis Partner – religiös-fundamentalistische Siedler wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir sowie ultraorthodoxe Parteien und seine Likud-Hinterbänkler – stehen fest zusammen. Das gilt auch in Bezug auf Netanjahus unbedingten Willen, den Krieg weiterzuführen. Im direkten Vergleich mit einem möglichen Gegenkandidaten Benny Gantz liegt der amtierende Premier in den Umfragen vorn, nachdem er viele Monate lang im Hintertreffen war. Zu seinem Glück kommt hinzu, dass die israelische Knesset nun bis Ende Oktober, nach mehreren jüdischen Feiertagen, in Karenz ist. Während der Knessetpause ist es praktisch unmöglich, eine Regierung zu kippen.
Das alles bedeutet, dass Netanjahu wohl mindestens bis Mitte 2025 an der Macht bleiben wird, wenn nicht sogar länger. Und es bedeutet auch: Er wird entweder Donald Trump oder Kamala Harris kurz nach deren Amtseinführung willkommen heißen.
Es ist ein beeindruckendes politisches Comeback, selbst für die Standards des am längsten amtierenden Premierminister Israels. Nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober wurde Netanjahu von vielen bereits totgesagt: »Mr. Security«, wie er sich selbst jahrelang nannte, war schließlich für die schlimmste militärische Niederlage in der Geschichte Israels mitverantwortlich. Unter seiner rechtsgerichteten Koalition gelang einem nichtstaatlichen Akteur ohne Luftwaffe, Panzer oder Artillerie eine umfassende Invasion des israelischen Staatsgebiets. Die Hamas und ihre Partner richteten innerhalb weniger Stunden die bis dato schwerste Mordaktion an Zivilisten in der Geschichte Israels an – und das vor den Augen des Herausgebers eines Buches mit dem Titel Terrorism: How the West Can Win.
Netanjahu wurde von israelischen Berichterstattern und Kommentatorinnen (zu Recht) nicht nur für das militärische Abwehrdebakel verantwortlich gemacht, sondern auch für die vorhergehende, jahrzehntelange militärische Aufrüstung der Hamas: Während seiner gesamten Amtszeit als Premier seit 2009 hat Netanjahu die Kontrolle der Hamas über den Gazastreifen unterstützt und alle Bemühungen um eine Vereinigung unter einer einzigen palästinensischen Führung im Rahmen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) aktiv sabotiert. Sein Ziel – und seine erklärte Lebensaufgabe – war es dabei, jede Aussicht auf eine mögliche palästinensische Staatlichkeit zu verhindern. Damit schuf Netanjahu eine Sicherheitsbedrohung, die am 7. Oktober direkt innerhalb der israelischen Bevölkerung wortwörtlich explodierte.
»Netanjahu geriert sich seit Jahren als einzigartiges diplomatisches Talent, das die führenden Politiker der Welt um den Finger wickeln kann – und ehrlich gesagt, scheint das gar nicht sonderlich weit von der Wahrheit entfernt.«
Nach dieser traumatischen Katastrophe gingen israelische Diplomaten und Militärs davon aus, dass der Krieg in Gaza nach einigen Wochen zu Ende sein würde. Die »diplomatische Uhr« schien herunterzuticken und irgendwann würden Israels westliche Verbündete, allen voran die US-Regierung unter Joe Biden, Israel zum Aufhören zwingen. Im November und Dezember, als die Zerstörung von Gaza-Stadt im Gange war, die südlichen Teile des Streifens aber noch relativ unversehrt waren, kursierten Berichte, dass die Amerikaner Bibi unter Druck setzten, den Krieg bis Neujahr zu beenden. Beim ersten Gefangenenaustausch im November wurden Dutzende israelische Frauen und Kinder freigelassen. Rund eine Woche lang kam niemand ums Leben. Die Tage des Gaza-Kriegs schienen bereits gezählt zu sein, ebenso wie die von Netanjahus Herrschaft. Alles deutete darauf hin, dass er bald durch eine gemäßigtere Mitte-Rechts-Koalition unter der Führung von Gantz abgelöst werden würde.
Was ist also seitdem passiert; wie sind wir von der damaligen Situation zur katastrophalen Lage heute gekommen? Welche Rolle spielten internationale politischen Akteure bei der Aufrechterhaltung beziehungsweise Wiederbelebung von Netanjahus politischem Erfolg – und damit beim Massensterben in Gaza?
Viele liberale oder sozialdemokratische Regierungschefs im Westen erklären ihren sanften Umgang mit Netanjahu so: man wolle ihn nicht allzu hart öffentlich konfrontieren oder entschlossener handeln, um den Krieg zu beenden, denn dies würde Netanjahu in den Augen der israelischen Öffentlichkeit nur stärken und ihm »politischen Kredit« für weitere Konfrontationen mit dem Westen verschaffen. US-Präsident Joe Biden und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sind die wohl einflussreichsten und bekanntesten Vertreter dieser Strategie gegenüber dem israelischen Premier.
Im Prinzip geht es darum, die israelische Politik in der Öffentlichkeit nahezu vollständig zu unterstützen, während der heimischen Presse gesteckt wird, dass man hinter den Kulissen Bibi ein paar harte Worte an den Kopf wirft. Das liest sich dann in etwa so: »Wenn wir ihn direkt attackieren, wird er daheim in Israel nur noch beliebter. Deshalb tun wir unsere Frustration mit seiner Politik nur in Gesprächen unter vier Augen kund.« Wenn es bei dieser Strategie darum geht, einen Waffenstillstand zu erreichen (wie es alle Beteiligten behaupten), dann ist sie ein kläglicher Fehlschlag. Denn Netanjahu setzt das Massaker in Gaza fort und gewinnt gleichzeitig an politischer Macht in Israel selbst zurück.
Angesichts dieser inner-israelischen politischen Dynamik kann das westliche Mitwirken an der Zerstörung des Gazastreifens also nicht wirklich erklärt werden. Es ist bekannt, dass sowohl die USA als auch Europa geostrategische und wirtschaftliche Interessen haben, Israels militärische Anstrengungen zu unterstützen, und dass es eine mächtige politische Lobby gibt, die an vielen Stellen pro-israelische Positionen vertritt. Wenn hochrangige politische Entscheidungsträger wie Biden oder Scholz aber zumindest Bauchschmerzen bei der Unterstützung Netanjahus zu haben scheinen und dies auch kundtun, lohnt es sich, sich genauer damit auseinanderzusetzen und über die politische Dynamik innerhalb Israels zu sprechen.
»Seit dem Ausbruch der Kämpfe in Gaza betont Netanjahu, dass alle politische Kritik und dementsprechend auch alle Ermittlungen bezüglich seines Verhaltens in den vergangenen zehn Jahren bis zum Ende des Krieges warten müssen.«
Denn es stimmt, dass internationaler Druck für Netanjahu manchmal politisch von Vorteil ist. Israel ist schließlich ein Land, das sich im Krieg befindet. Die israelische Bevölkerung durchlebt ein permanentes Belagerungsgefühl (man könnte sagen: »ironischerweise«, in Anbetracht des Leids, das Israel dem Gazastreifen seit Jahrzehnten zufügt). Trotz der massiven diplomatischen und materiellen Unterstützung, die das Land seit dem 7. Oktober erhalten hat, herrscht in der israelischen Öffentlichkeit das Gefühl vor, dass »die Welt gegen uns ist«. Dieses Gefühl wirkt sich auch auf die Mainstream-Nachrichtenkanäle aus, in denen der Westen als naiv, geradezu überschwemmt von islamistischen Hamas-Anhängern und generell als antiisraelisch dargestellt wird. Kritik an Israel wird standardmäßig mit Antisemitismus gleichgesetzt. Die Vereinten Nationen und ihre Institutionen, einschließlich des Internationalen Strafgerichtshofs und des Internationalen Gerichtshofs, werden als »den arabischen Interessen verpflichtet« und grundsätzlich voreingenommen gegenüber dem jüdischen Staat betrachtet.
Wenn Netanjahu mit ausländischen Staatsoberhäuptern streitet, sind die meisten (wenn auch nicht alle) Israelis daher logischerweise auf der Seite ihres Premierministers. Netanjahu geriert sich seit Jahren als einzigartiges diplomatisches Talent, das die führenden Politiker der Welt um den Finger wickeln kann – und ehrlich gesagt, scheint das gar nicht sonderlich weit von der Wahrheit entfernt. Wenn er sich nun gegen den globalen Druck wehrt, wie er es insbesondere in den vergangenen zehn Monaten getan hat, wird diese Haltung von großen Teilen der israelischen Öffentlichkeit gewürdigt und unterstützt. Das jüngste Einlenken der USA in zwei kritischen Fragen – die Lieferung von Fünfhundertpfundbomben und die Zurückhaltung möglicher Sanktionen gegen das Netzah Yehuda Bataillon – funktionieren dann wie Belege für Netanjahus Sichtweise: Wenn er standhaft bleibt, wird der Westen schon nachgeben.
Andererseits sieht mehr als die Hälfte der israelischen Öffentlichkeit Netanjahu weiterhin als verantwortlich für die verheerenden Zustände in Israel an. Sie werden ihn nicht unterstützen, egal wie viele stehende Ovationen er im US-Kongress erhält. Diese Opposition gegen Netanjahu nutzt internationale Interventionen zu ihren Gunsten, präsentiert sich dabei aber oft als Verbündete von Biden als dem wahren Freund Israels und der israelischen Geiseln, gegen Netanjahu.
Tatsächlich sind die Auseinandersetzungen mit dem Westen aber weitgehend leeres Gerede und maximal zweitrangige Faktoren für Netanjahus politischen Aufschwung. Der wahre Grund für sein Comeback ist die Aufrechterhaltung des Krieges selbst.
Seit dem Ausbruch der Kämpfe in Gaza betont Netanjahu, dass alle politische Kritik und dementsprechend auch alle Ermittlungen bezüglich seines Verhaltens in den vergangenen zehn Jahren bis zum Ende des Krieges warten müssen. Zugleich hat er deutlich gemacht, dass ein Ende des Krieges in naher Zukunft für ihn nicht in Sicht ist. Seine Strategie, Alltagspolitik in Israel auf die Zeit nach dem Krieg zu verschieben, hat sich in Israel leider durchgesetzt. Es ist nicht so, dass die Opposition nicht gewillt wäre, Netanjahu zu stürzen. Doch indem er praktisch alle rechten Kräfte hinter sich vereinen konnte, wird sein Verbleib an der Macht – eine Aussicht, die im letzten Winter noch als unwahrscheinlich galt – nun als die einzige vernünftige und quasi-unvermeidliche Realität hingenommen.
»Das Einzige, was Netanjahu politisch schaden und letztlich zu seinem Niedergang führen kann, ist das Ende des Krieges selbst.«
Netanjahu hat seine rechte Basis um den Slogan »kompletter Sieg« versammelt. Er setzt damit auf die Unterstützung durch Siedler und Faschisten und hat offenbar verstanden, dass die einzige Bedrohung für sein politisches Überleben von der Rechten ausgeht. Smotrich und Ben-Gvir bekamen daher freie Hand, um ihre jeweiligen Programme voranzutreiben, darunter die Annexion des Westjordanlandes und sogar die Anwendung von Folter in israelischen Gefängnissen. Netanjahus Rechtsruck bedeutet darüber hinaus aber vor allem eins: eine weitere Verzögerung, wenn nicht gar Opposition gegen irgendeine Art von Geiselaustauch- oder Friedensabkommen.
Die jüngsten Morde an Mohammed Deif von der Hamas in Gaza und an Ismail Haniyeh in Teheran sowie an Fuad Shukr von der Hisbollah in Beirut scheinen das Ziel »kompletter Sieg« voranzubringen. Zumindest werden sie von der israelischen Rechten als Zeichen eines bevorstehenden Sieges über Israels Feinde und als glorreiche Beispiele für Israels unübertroffene Militärfähigkeiten gefeiert. Sogar die mögliche Ausweitung des Konflikts zu einem größer angelegten Krieg gegen die Hisbollah und den Iran wird von vielen in der Regierung begrüßt. Für diese Leute ist die Zerstörung des Libanon nichts weiter als die natürliche Fortsetzung der Zerstörung Gazas.
Die Politik der amtierenden rechtsradikalen Regierung in Israel steht für nichts außer ewig währenden Krieg. Ein solcher Krieg passt perfekt in ihre Vision von der Zerstörung des Gazastreifens und der Annexion des Westjordanlandes. Wichtiger noch: er ist zum Schlüssel für ihr politisches Überleben geworden.
Genau dieser Fakt, dass Netanjahu alles tun wird, um den Krieg zu verlängern, ist das fehlende Element in der Argumentation von führenden westlichen Politikern, die angeblich an einer Beendigung des Krieges interessiert sind. Es muss darüber hinaus angenommen werden, dass diese Regierungschefs eine vorsätzliche Ignoranz an den Tag legen, als lediglich naiv zu sein. Denn nach zehn Monaten der immergleichen Manöver, um einen Waffenstillstand zu umgehen, und zahllosen Berichten, dass Netanjahu eine Einigung blockiert, tun Politiker wie Biden und Scholz immer noch so, als könne man durch rein diplomatischen Druck ein Waffenstillstandsabkommen durchsetzen.
Dabei lässt sich Netanjahu ganz offensichtlich nicht durch diplomatische Reden abschrecken, weder hinter verschlossenen Türen noch in der Öffentlichkeit. Er lässt sich ebenso nicht von der Kritik in internationalen Gremien beirren und nicht einmal von der Resolution des UN-Sicherheitsrates, mit der ein Ende des Krieges in Gaze gefordert wird. Seine rechte Regierungskoalition kann aufgrund der beschriebenen Gegebenheiten weiterbestehen, selbst wenn er persönlich wegen Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt wird. Offenbar kann sie es auch verkraften, dass die israelische Wirtschaft kollabieren könnte.
»Konventionelle diplomatische Bemühungen zur Beendigung des Krieges laufen schon seit Monaten und sind offensichtlich gescheitert.«
Das Einzige, was Netanjahu politisch schaden und letztlich zu seinem Niedergang führen kann, ist das Ende des Krieges selbst. Dadurch würden innenpolitische Prozesse in Gang gesetzt, die in Neuwahlen enden dürften. Sei es, weil die Rechten Bibi im Stich lassen, um den Krieg zu beenden, oder weil diejenigen in Machtpositionen in Israel, die Netanjahus Herrschaft akzeptiert haben, solange der Krieg tobte, nach Kriegsende darauf drängen, sich der öffentlichen Meinung zu stellen und entsprechend wählen zu lassen.
Konventionelle diplomatische Bemühungen zur Beendigung des Krieges laufen schon seit Monaten und sind offensichtlich gescheitert. Unter Netanjahu wird Israel den Krieg fortsetzen, es sei denn, es ist materiell dazu nicht mehr in der Lage – sprich: wenn die Waffenlieferungen gekappt werden. Die USA haben die Macht, dies mit einem einzigen Schritt zu erreichen. Dabei ist noch nicht einmal ein vollständiges Waffenembargo nötig. Vielmehr könnte eine glaubwürdige und entschlossene Drohung mit dem Stopp von Offensivwaffen ausreichen. Leider setzt sich Biden weiterhin voll und ganz für die Aufrüstung ein. Damit ermöglicht er es Netanjahu, Gaza weiter zu zerstören. Vizepräsidentin Kamala Harris kann es sich im tobenden US-Wahlkampf derweil nicht leisten, sich öffentlich gegen diese Position zu stellen.
Doch genau das muss die Forderung der Linken sein, gerade in den USA, aber auch anderswo: Schluss mit dem vermeintlichen »tough talk« hinter verschlossenen Türen. Es gibt echte Machtinstrumente, mit denen man Netanjahu beikommen kann.
Nimrod Flaschenberg war parlamentarischer Berater der linken Chadasch-Allianz in Israel. Aktuell studiert er in Berlin Geschichte.