27. Februar 2023
Auf der Friedenskundgebung in Berlin formierte sich keine Querfront. Doch der große Aufbruch blieb ebenfalls aus.
Oskar Lafontaine, Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer auf der Kundgebung am Brandenburger Tor, Berlin, 25. Februar 2023.
IMAGO / Future Image»Da sind wir wieder, wir Schwurbler«, sagt eine Frau lächelnd, als sie ihren Kaffee entgegennimmt und eine Bekannte grüßt. Diesen Vorwurf habe man sich lange anhören müssen, aber sich davon dennoch nicht beirren lassen, muntern sie sich gegenseitig auf.
Es sind sehr viele gekommen, vor allem Ältere, die vermutlich noch für eine der Antikriegsdemos der 1980er Jahre auf den Straßen waren. Jüngere Demonstrierende musste man eher suchen. Dieser »Aufstand für den Frieden« folgte einem Manifest, das Sahra Wagenknecht gemeinsam mit Alice Schwarzer vor knapp zwei Wochen veröffentlichte und das mittlerweile über 660.000 Menschen online unterzeichnet haben.
Von diesen kam erwartbar nur ein Bruchteil tatsächlich zum Brandenburger Tor. Nach Polizeiangaben sollen es 13.000 gewesen sein, laut Veranstalter waren es 50.000. Die einen wollen massig Neonazis gesehen haben, die anderen eine »neue« Friedensbewegung. Jeder sieht hier, was er oder sie sehen möchte.
Es wurden hauptsächlich Friedensfahnen geschwenkt. Dem Wunsch der Veranstalter, auf Landesflaggen zu verzichten, wurde weitgehend gefolgt. Die Polizeipräsenz hielt sich in Grenzen.
Nur hin und wieder wurde die grundsätzlich unaufgeregte Stimmung von »Nazis raus«-Rufen durchdrungen. Eine Gruppe aus etwa hundert Demonstrierenden mit Fahnen der LINKEN deklarierte auf Schildern: »Mit AfD und Co ist kein Frieden zu machen«. Zunächst hielt man sie für eine Gegendemonstration zur Wagenknecht-Demo, doch bei genauerem Hinsehen stellte sich heraus, dass dieser Block den rechten Publizisten Jürgen Elsässer umzingelt hatte und ihn zum Verlassen der Demo aufrief. Zuvor waren bereits die Versammlungsleiterin Sevim Dağdelen und der Friedensaktivist und frühere Chef der hessischen Linksfraktion Willi van Ooyen auf Elsässer zugegangen und hatten die Polizei aufgefordert, das Banner seiner Zeitschrift Compact einzurollen. Doch laut Polizei habe man keine Handhabe gegen diese Form der Demonstration. Erst der Block der größtenteils aus der Bewegungslinken stammenden Demonstrierenden hat Elsässer und seine Entourage effektiv verdrängt.
Es ist in gewisser Weise ironisch, dass ausgerechnet dieser Block, der Wagenknecht zumindest gesellschaftspolitisch innerhalb der Partei am schärfsten kritisiert, der Demonstration einen wichtigen Dienst erwiesen und den offensichtlichsten rechten Versuch der Unterwanderung abgeblockt hat. Sonst wäre die Stimmung linksseitig des Brandenburger Tors zumindest zeitweise zugunsten der Rechten gekippt. Auch einzelne Landesverbände wie der bayerische oder die Bundesarbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft hatten sich dem Aufruf angeschlossen, um von vornherein die Demonstration von links zu stärken und gegen rechts abzuschirmen. Der Bundesparteivorstand rief in einem Beschluss vom 16. Februar jedoch nicht explizit zu dieser Demonstration auf. Die Parteivorsitzende Janine Wissler begründete in einem Interview mit der Berliner Morgenpost ihre Nichtteilnahme damit, dass die Abgrenzung nach rechts nicht eindeutig sei und das Manifest »Leerstellen« aufweise. Damit ließ man eine Chance liegen, den vergleichsweise kleinen Block auf dieser Demonstration zu stärken und findet sich zugleich in einem Dilemma wieder, weil ohne Wagenknecht eine Friedensdemonstration dieser Größe kaum möglich scheint.
Man muss nach dieser Demonstration allen Befürchtungen zum Trotz konstatieren, dass hier keine Querfront zusammengewachsen ist. Die Anwesenheit einzelner bekannter AfD-Landespolitiker oder des rechten YouTubers Nikolai Nerling hatte nicht den Effekt, die Gemengelage zu dominieren. Sahra Wagenknecht griff den Vorwurf sogar explizit auf, indem sie sagte: »Seit wann ist der Ruf nach Frieden rechts, und Kriegsbesoffenheit links? Einige haben wohl vollkommen ihren politischen Kompass verloren«. Alice Schwarzer spitzte diese Einschätzung in ihrem Beitrag sogar noch zu: »Einige sind jetzt links, da weiß ich nicht, ob da nicht schon die Rechte anfängt«, und lächelt dabei. Sie spielte damit wohl auf die teilweise überdrehte Kritik an, die Wagenknecht von links entgegenschlägt. Die Querfront, das deutete Schwarzer an, bilde sich nicht auf dieser Demo, sondern bei ihren Kritikerinnen und Kritikern. Doch man lasse sich nicht einschüchtern. Tosender Applaus.
Obwohl sie die Debatte nerve, sagte Wagenknecht dann aber doch geradeheraus: »Selbstverständlich haben Neonazis und Reichsbürger auf unserer Friedenskundgebung nichts zu suchen, das versteht sich ja von selbst. Aber genauso sage ich auch, dass jeder, der ehrlichen Herzens für Frieden demonstrieren will, herzlich willkommen ist.« Auf dieses Bekenntnis folgte relativ zurückhaltender Beifall. Viel stärker empört zeigte sich die Menge, als Wagenknecht auf den Vizeaußenminister der Ukraine, Andrij Melnyk, zu sprechen kam, der echte Nazis wie den Kollaborateur Stepan Bandera verehre. Auf die Figur Annalena Baerbocks schien sich der größte Ärger zu entladen. Die Außenministerin erkläre mal eben so nebenher Russland den Krieg und verhalte sich auf internationalem Parkett wie ein Elefant im Porzellanladen. »Baerbock weg«, riefen die Teilnehmenden nach Wagenknechts Rede.
Wagenknecht sprach viel von Wahrheit und Lüge. Die »Kriegstrommler« lügten, weil man mit Waffen keinen Frieden schaffe. Zur Wahrheit, das wiederholte sie häufiger, gehöre, dass es der Westen gewesen sei, allen voran Großbritannien, der im Frühjahr Verhandlungsversuche des israelischen Präsidenten Bennet abgeblockt habe. Natürlich konnten weder sie noch ihre Vorredner Erich Vad oder Hans-Peter Waldrich bessere Beweise als eine anonyme Quelle von Seymour Hersh anführen, um anzudeuten, dass möglicherweise die USA Nordstream II gesprengt haben. Und genauso wenig konnten sie mit Sicherheit sagen, was Wladimir Putin zu Friedensgesprächen bewegen würde. Doch der Applaus der Menge bezeugte zumindest eines: Hier regt sich Zweifel an einem politischen Diskurs, der übermächtig nur weitere Waffenlieferungen als einziges Mittel in diesem Krieg kennt.
Die Stärke des »Aufstands für den Frieden« liegt also darin, dass er die Bundesregierung und die mediale Kriegsstimmung angreift und dabei gleichzeitig die Angst der Bevölkerung vor einem Atomkrieg adressiert. Immerhin 39 Prozent stimmten laut einer Insa-Umfrage dem Manifest für den Frieden zu. Doch auch die Schwäche dieser Position trat dort zutage, wo die Vehemenz der Forderungen auf die Uneindeutigkeit ihrer Umsetzung trifft, etwa wenn Wagenknecht sagte: »Es geht darum, Russland ein Verhandlungsangebot zu unterbreiten.« Da wurde von Kompromissen gesprochen, obwohl im Unklaren bleibt, von wem die Initiativen ausgehen sollten und an welcher Stelle diplomatische Versuche genau ansetzen könnten. Alice Schwarzer wurde konkreter und sprach von den legitimen Ansprüchen auf einen Rückzug hinter die Grenzen vor dem 24. Februar 2022. Auch die Waffenlieferungen zu Beginn des Kriegs hielt sie für richtig. Daraufhin gab es keinen Applaus. Er flammte bei ihrer Rede erst dann wieder auf, als Schwarzer vor den düsteren Aussichten eines langen Abnutzungskriegs und der atomaren Bedrohung warnte.
»Wir fangen jetzt auch an, uns zu organisieren, denn Deutschland braucht eine wirklich starke Friedensbewegung«, sagte Wagenknecht in ihrer Rede. Zum Abschluss betonte sie aber auch, dass es die erste Kundgebung gewesen sei, die sie selbst organisiert hätte. Nur eine Mail von Alice Schwarzer hätte gereicht – die beiden Frauen kannten sich vorher nicht persönlich – und schon nach einem Tag Bedenkzeit stand die Idee, erklärten die beiden zu Beginn der Kundgebung. Hinter der neuen Bürgerbewegung, die Schwarzer am Ende ausrief, steckt also kein strategisch ausgearbeiteter Plan, sondern politisches Gespür dafür, dass nach der Lieferungen der Kampfpanzer nicht nur das Kriegsgeschehen, sondern auch die gesellschaftliche Stimmung ins Rutschen kommen könnte.
Entsprechend selbstbewusst rief Wagenknecht: »Das hysterische Gebrüll zeigt: Sie haben Angst vor einer neuen Bewegung.« Und Alice Schwarzer, die sich in der Rolle der zweiten Anführerin dieser Bewegung offensichtlich gut gefällt, fügte hinzu: »Nicht das Volk ist falsch, sondern seine Vertreter«. Mit diesem Ende ließ sie auch hier vollkommen offen, wer an deren Stelle treten sollte. Genau diese Skepsis gegenüber der politischen Vertretung als Ganzes griff diese Demonstration auf, doch es ist fraglich, was als nächstes darauf folgt – und auch, ob sie die Kritik der linken Gruppen vor Ort, die eine klare Abgrenzung nach rechts forderten, aufnehmen oder aus taktischen Gründen zugunsten einer breiten Bewegung fallenlassen werden. Wagenknecht positionierte sich deutlich nicht als Linke oder Internationalistin, und beide Frauen sprachen bewusst von einer Bürgerbewegung.
Diese neue alte Friedensbewegung besteht aus jenen, die bereits einmal auf die Straße gegangen sind, vor Jahrzehnten. Sie besteht aus Pazifistinnen, Friedensbewegten und vermutlich aus jenen, die sich bevormundet und weitgehend nicht mehr repräsentiert fühlen, auch nicht von der Linkspartei, wohl aber von Wagenknecht. Sie machen den Großteil dieser neuen Bewegung aus. Dazu kamen am Wochenende ein paar kleinere linke Gruppen und jene, die die Demonstration nach rechts abgeschirmt haben.
Große Energie des Aufbegehrens geht von diesem Tag nicht aus, doch er war zumindest ein Signal dafür, dass Proteststimmung gegen den Kurs der Bundesregierung durchaus vorhanden ist. Die von den beiden Frauen angekündigte Bürgerbewegung ist da eine Verheißung. Ob die Organisatoren jedoch in der Lage sind, weitere und womöglich größere Demonstrationen zu stemmen und darüber hinaus eine längerfristige Bewegung zu etablieren, ist offen. Das Momentum wäre womöglich da, die Gräben in der Linken haben sich am Wochenende jedoch noch einmal vertieft.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.