11. Oktober 2022
Angesichts des Ukraine-Kriegs plädieren immer mehr Historiker für eine Zeitwende der deutschen Erinnerungskultur – hin zu neuer Wehrhaftigkeit. Diejenigen, die das fordern, instrumentalisieren das Gedenken an den Krieg und seine Opfer.
Die Plastik »Mutter mit totem Sohn« von Käthe Kollwitz im Gedenkraum der Neuen Wache, Berlin.
IMAGO / Ulli WinklerUnter den Linden, in der Mitte Berlins, steht ein Denkmal mit wechselvoller Geschichte: die Neue Wache. Eingerichtet in Erinnerung an die Gefallenen der Befreiungskriege, war sie ab 1931 Gedenkstätte für die Toten des Weltkrieges. 1960 wurde sie »Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus«, heute ist sie die »Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft«. Jede dieser geschichtspolitischen Prämissen fand eine eigene politisch-ästhetische Form.
Für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs wurde ein schwarzer Granitblock mit darauf abgelegtem güldenem Eichenlaubkranz aufgestellt. Für die »Opfer von Faschismus und Militarismus« brannte eine »Ewige Flamme«, flankiert vom Grab des unbekannten Soldaten und jenem des unbekannten KZ-Häftlings. Heute steht die vierfach vergrößerte Plastik von Käthe Kollwitz »Mutter mit totem Sohn« im Mittelpunkt des Gedenkraums.
Bei der letzten Umwidmung des Ortes verschwand nicht nur die »Ewige Flamme«, auch Soldaten stehen nur noch seltenen auf den Stufen des Eingangsportals. Das war vor 1990 anders.
Vor dem »Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus« hielten Angehörige des Wachregiments »Friedrich Engels« Ehrenwache. Die militärische Symbolik des Gedenkens war zentraler Bestandteil der Erinnerungskultur in der DDR. Es gehörte zum formelhaft vorgetragenen Selbstverständnis des zweiten deutschen Staates, aus der Geschichte gelernt zu haben und gegen ein Wiedererstarken des Faschismus wachsam und gerüstet zu sein.
Ihre deutliche Entsprechung fand das Bekenntnis zum antifaschistischen Widerstand in den Nationalen Mahn- und Gedenkstätten. Die Plastik »Befreiung« auf dem Gelände des Konzentrationslagers Sachsenhausens und Walter Womackas Glasfenster »Widerstand und Befreiung« im ehemaligen Museum des antifaschistischen Freiheitskampfes der europäischen Völker ästhetisieren den entscheidenden Satz, der am Weimarer Thälmann-Denkmal prangt: »Aus eurem Opftertod wächst unsere sozialistische Tat «. Womackas Glasfenster wurden nach 1990 nicht entfernt, die Plastik von René Graetz steht ebenfalls noch. Die Kritik an der Erinnerungskultur in der DDR war nach der deutschen Vereinigung dennoch laut. Ihr wurde ideologische Verklärung und Verdrehung historischer Tatsachen attestiert.
Mit dem Ende der DDR erledigte sich auch die offizielle antifaschistische Heldenerzählung, die schon vor 1990 in scharfem Kontrast zum bundesdeutschen Gedenken gestanden hatte: »Die offensichtlichste Konstante der Nachkriegsauseinandersetzung mit dem Krieg und den Folgen stellt für die Bundesrepublik ihr postheroischer Grundzug dar«, dokumentierte Martin Sabrow 2009 und beschrieb eine postheroische Situation, in der die Bedeutung des Opfers weit größer war als die des Märtyreropfers. Der erinnerungspolitische Diskurs differenzierte die Opfergruppen zunehmend. Das »inklusive Aufarbeitungsgedächtnis der Gegenwart [verrückte] den Akzent von der lernenden Aufklärung zur heilenden Anerkennung«, wie Sabrow argumentiert.
Dann kam der russische Angriff auf die Ukraine. Mit dem 24. Februar 2022 scheint das postheroische Zeitalter ein jähes Ende gefunden zu haben. Doch auch die Art der Erinnerung als heilender Anerkennung steht seit dem Überfall auf die Ukraine in der Kritik. Vorgeworfen werden ihr mangelnde Tatkraft und fehlender Gegenwartsbezug. So konstatierte der Historiker Karl Schlögel in der NZZ, dass die »Ungeheuerlichkeit der jetzt unter unseren Augen begangenen Verbrechen der russischen Armee […] uns nicht mehr [erlaubt], in einer Erinnerungskultur und Gedenkarbeit zu verharren, die schon seit geraumer Zeit zum Ersatz für die Konfrontation mit der Gegenwart geworden ist«.
Die lautesten Kritiker der deutschen Erinnerungskultur verbinden ihre Darstellungen mit einer Missbilligung der aus ihrer Sicht zaudernden Unterstützung der Ukraine – sofern Unterstützung nicht nur Flüchtlings- oder Wiederaufbauhilfe umfasst, sondern vorrangig die Lieferung von Kriegsgerät meint. Ob die Skepsis derer, die eine Lieferung von Haubitzen und Panzern in offenen Briefen und Umfragen ablehnen, auf einer postheroischen Erinnerungskultur gründet, sei einmal dahingestellt. Anzunehmen ist, dass sie wesentlich stärker von der Sorge vor einer Ausweitung des Krieges herrührt. Schlögel hingegen erwähnt die Angst vor einer Gewalteskalation mit keinem Wort – in seinem Text dominieren die Verweise auf das »Schuldbewusstsein« der Deutschen, das die Moskauer Führung für ihre Propaganda nutze, so Schlögel.
Hedwig Richter, Historikerin an der Universität der Bundeswehr, war eine der Unterzeichnerinnen des offenen Briefes, der die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine forderte. Als sie anschließend in der Augsburger Allgemeinen in einem Interview gefragt wurde, ob »die Deutschen als Lehre aus Putins Krieg wieder lernen [müssten], kampfbereit zu sein?«, stimmte sie zu: »Ja, leider. Von heute aus erscheint es banal: Klar muss eine Demokratie ihr Land verteidigen können.« Die Wehrfähigen und Offiziere, die bei Hedwig Richter die Seminarbank drücken, charakterisiert sie so: »Nüchtern, bescheiden, aber auch entschieden. Diese jungen Menschen sind wirklich bereit, ihr Leben für die Demokratie herzugeben.« Als man für die Demokratie noch lebte und nicht starb, war das Zivilisationsniveau auch schon einmal höher.
Im Online-Magazin Geschichte der Gegenwart machte der Historiker Stephan Scholz einen konkreten Vorschlag zur Steigerung der Kampfbereitschaft. Er thematisierte die »Selbstbezogenheit« der deutschen Erinnerungskultur und beanstandet, die »Kriegserinnerungen der europäischen Nachbarn und ehemaligen Kriegsgegner [seien bisher zu wenig] wahr- und ernstgenommen worden«. Diese Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung der europäischen Kriegserinnerungen ist nicht falsch. So werden Sowjetunion und Russland in der deutschen Erinnerung an den Vernichtungskrieg im Osten häufig synonym verwandt. Regelmäßig wird daher übersehen, dass auch Gebiete der heutigen Ukraine, Weißrusslands sowie der baltischen Staaten Räume der Vernichtung wurden. Eine Nationalisierung der Erinnerung – wie dies manchmal unter Linken befürchtet wird – ist das nicht. Zumindest dann nicht, wenn man zugleich festhält, dass die Rote Armee ein multiethnisches Gebilde war.
Problematisch wird es aber, wenn die Wahrnehmung der europäischen Kriegserinnerungen jene mobilisierende Funktion übernehmen soll, die man von der DDR-Erinnerungskultur kennt: Wenn sie der Wehrertüchtigung dient oder zumindest als Amphetamin gegen »Kriegsmüdigkeit« zum Einsatz kommen soll. Die Erweiterung der Erinnerungskultur um die europäischen Kriegserinnerungen unterliegt bei Scholz einem Zweckkalkül: »Anders als ihre ehemaligen Kriegsgegner haben die Deutschen nicht die Erfahrung eines breiten und letztlich erfolgreichen Widerstandes sowie der Selbstbefreiung vom Nationalsozialismus gemacht. In die deutsche Erinnerungskultur ging vielmehr die Erfahrung ein, im Zweiten Weltkrieg für die falsche Sache und nur in sehr wenigen Fällen und zudem vergeblich gegen den Nationalsozialismus gekämpft zu haben.«
Diese Darstellung ignoriert nicht nur die Memorialinszenierungen in der DDR. Im Kontext der aktuellen Debatte birgt sie auch die Gefahr, der Beliebigkeit Tür und Tor zu öffnen. Erinnerungspraxis, die nur als Routine abläuft, ist inhaltsleer. Eine Erinnerungspraxis, die sich in den Dienst eines politischen Programms stellt, muss sich den Vorwurf der Instrumentalisierung gefallen lassen. Wer damit anfängt, öffnet die Büchse der Pandora – und macht die Zweckrationalität zum geschichtspolitischen Modus. Wer ein wissenschaftliches Interesse am Verstehen von Gewaltgeschichte hat, kann das nicht wollen, denn jede zweckrationale Erinnerung verlangt nach einer normativen Grundierung. Dass hierüber ein gesellschaftlicher Konsens erzielt werden könnte, ist unwahrscheinlich und so wird alles zur subjektiven Besitznahme auf dem Jahrmarkt der Narrative.
Ein Beispiel: Als sich die Querdenkerinnen und Querdenker in eine Traditionsreihe mit dem NS-Widerstand stehend gerierten, war das nicht nur Ausdruck eines bemerkenswert schrägen Geschichtsverständnisses, sondern auch einer Aneignung. Die Querdenkerin Jana aus Kassel, drückte mit ihrem Sophie-Scholl-Vergleich, der im Internet viral ging, eben keine bekannte und revisionistische Nichtanerkennung der NS-Verfolgungspolitik aus, sondern erkannte sie vielmehr besitznehmend an, um sich selbst wohlfeil zu präsentieren. Nun ist Jana aus Kassel keine Historikerin. Umso bemerkenswerter ist, wenn Vertreterinnen und Vertreter des Faches nun für die erinnerungskulturelle Zweckmäßigkeit argumentieren.
Gegen die spricht noch ein zweiter Grund. Gedenken konzentriert sich immer auf Episoden oder Bilder, bewahrt sie und macht sie so zum »Teil der Kontinuität und Identität«, wie Peter Reichel resümierte. In diesem Sinne hat sie immer Gegenwartsbezug. Hält in diese Beziehung aber die Zweckrationalität Einzug, droht neben der Beliebigkeit des Erinnerns auch eine simplifizierende Heroisierung, die den Opfern kaum gerecht werden kann, weil sie ihr Leid in den Kontext eines Nachgeschehens verschiebt. Das ist eine Form der Eingemeindung, die den Opfern ihre Identität nimmt und sich unrechtmäßig ihrer Autorität bedient. Walter Womackas Glasfenster verkörpern den hehren Anspruch, aus der Gewaltgeschichte zu lernen. Es wäre klug, dabei die Einseitigkeiten der Heroisierung nicht zu wiederholen.
Christian Dietrich ist Historiker.