02. Februar 2022
Die deutsche Bauwirtschaft boomt, die Beschäftigten haben von diesem Aufschwung allerdings nichts – im Gegenteil. Tödliche Arbeitsunfälle und Lohnraub nehmen zu. Jetzt kommt es auf die Bau-Gewerkschaft an.
Um die Machtverhältnisse zugunsten der Bauleute zu verschieben, braucht die Gewerkschaft eine neue Strategie.
Dank politischer Rückendeckung wird in Deutschland immer mehr gebaut. Die steigende Zahl von fertiggestellten Wohnhäusern und Infrastrukturprojekten zeugt davon. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde sich damit auch die Lage für die am Bau Beschäftigten verbessern, nachdem das Baugewerbe in den späten 1990er Jahren in die Krise geraten war – eine Phase, in der Hunderttausende Bauleute arbeitslos wurden und viele traditionsreiche Baukonzerne insolvent gingen. Seit 2010 steigen die Löhne mit durchschnittlich 5 Prozent im Jahr wieder merklich an, ebenso wie die Beschäftigtenzahlen, die fast wieder das Vorkrisenniveau erreicht haben.
Spätestens seit der Corona-Pandemie zeichnen sich jedoch gleichzeitig die Schattenseiten des deutschen Bauwunders ab: mehr Arbeitsunfälle, Lohnraub und ein Anstieg illegalisierter Formen der Lohnarbeit. In Deutschland stirbt im Schnitt jeden vierten Tag ein Bauarbeiter an seinem Arbeitsplatz. Die häufigste Todesursache sind Stürze aus großer Höhe oder Verletzungen durch herabfallende Bauteile. Nur sehr selten sind diese Unfälle dem Versagen einzelner Menschen anzulasten, die Häufung der Todesfälle ist vielmehr eine Auswirkung des unkontrollierten Baubooms. Nach Angaben der Industriegewerkschaft Bauen Agrar Umwelt (IG BAU), welche die Bauarbeiter landesweit organisiert, gibt es neben diesen tödlichen Unfällen insgesamt 77.115 gemeldete Arbeitsunfälle – die Dunkelziffer ist jedoch vermutlich um einiges höher, denn nach Angaben der Berufsgenossenschaft Bau wird ein Großteil der Unfälle illegalisierter Beschäftigter selten bis gar nicht dokumentiert.
Während der Corona-Krise war die Baubranche eine der wenigen Wirtschaftszweige, in denen kaum Verluste, sondern vielmehr enorme Gewinn- und Profitsteigerungen verzeichnet wurden. Doch davon kommt vergleichsweise wenig bei den Arbeitern an: In den letzten beiden Rekordjahren 2020 und 2021 beliefen sich die jährlichen Lohnsteigerungen auf magere 3 Prozent.
Seit der Baukrise der 1990er Jahre unterliefen viele Unternehmen im Bausektor, ähnlich wie in anderen Teilen der Industrie und dem Dienstleistungssektor, zunehmend die Tarifverträge. Durch die Tarifflucht verloren Arbeitgeberverbände wie der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB), der wichtigste und größte Arbeitgeberverband des Sektors, immer mehr Mitglieder. Selbst der sehr erfolgreiche Großbetrieb PORR verließ den HDB Anfang letzten Jahres. Schwache Arbeitgeberverbände führen zwangsläufig zu einer geringeren Tarifbindung, was in der Regel zu niedrigeren Löhnen und schlechteren Arbeitsbedingungen beiträgt.
Die Tarifverhandlungen gestalten sich auch aufgrund der unterschiedlichen Interessenlagen der Arbeitgeberverbände immer schwieriger: Der Arbeitgeberverband des Bauhandwerks vertritt allen voran die kleinteiligen Handwerksbetriebe, welche etwa 90 Prozent aller Bau-Betriebe ausmachen, wohingegen der HDB die großen Bauunternehmen wie Strabag und Eurovia repräsentiert, welche über enorme Markmacht verfügen und dadurch oft die Bedingungen der kleineren Baubetriebe diktieren. Dies gilt vor allem, wenn sie als deren Generalunternehmer agieren. Hinzu kommen unterschiedliche Interessenlagen von West- und Ostbetrieben. Erstere wollen den Anfahrtsweg zu wechselnden Baustellen nicht bezahlen, letztere wollen am liebsten am Lohnunterschied zwischen Ost und West festhalten, da sie diesen als Standortvorteil begreifen.
Die Gewerkschaft trifft in der Folge auf immer weniger Sozialpartner, welche sich zunehmend uneinig sind. Die Arbeitgeberverbände zeigen in offenen Verhandlungen kaum mehr echte Bereitschaft an Kompromissen und untergraben damit auch die Logik der Tarifautonomie. Ob vor diesem Hintergrund überhaupt noch von Sozialpartnerschaft die Rede sein kann, ist fraglich. Im Zusammenhang mit dem niedrigen Organisationsgrad der Beschäftigten führt dies zu immer mehr Schlichtungen, Allgemeinverbindlichkeitserklärungen und einer größeren Verantwortlichkeit der Politik. Denn wo die Sozialpartner nicht mehr fähig und willens sind, braucht es politische Regelungen, sei es mittels eines gesetzlichen Mindestlohns oder Rechtsverordnungen, die Branchenmindeststandards staatlich regulieren.
Doch auch zwischen den verschiedenartigen Interessen der Arbeitgebervereine und der organisierten Arbeiterschaft, namentlich der Baugewerkschaft IG BAU, herrschen große Interessenkonflikte vor. So will die Gewerkschaft den Facharbeiter-Mindestlohn von 15,70 Euro im Osten wiedereinführen, wohingegen die Arbeitgeber diesen selbst im Westen abschaffen wollen, um den bundesweit geltenden Mindestlohn im Bau durchsetzen, der zurzeit bei 12,85 Euro liegt, und der dem in diesem Jahr noch einzuführenden allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro sehr nahe käme.
Einig sind sich beide Seiten erst wieder, wenn es um steigende Baupreise, ausländische Niedriglohnkonkurrenz oder die bisher mangelnden politischen Rahmenbedingungen geht. Trotz der hart erkämpften Kompromisse in der letzten Tarifrunde sind bei entscheidenden Themen wie der Umsetzung des Ost-West-Angleichs bis 2026 sowie der Wegezeitentschädigung bei weitem noch nicht alle Fragen geklärt. Für weiteren Zündstoff ist somit gesorgt. Die Arbeitgeberseite hat bereits in der Vergangenheit gezeigt, wie wenig sie sich an gemeinsame Vereinbarungen gebunden fühlt. So gab es bereits 1996 einen detaillierten Fahrplan für die Ost-West-Angleichung, der jedoch im Zuge der Baukrise einseitig wieder aufgekündigt wurde. Ostdeutsche Kollegen wurden damit vor die Wahl gestellt, entweder den niedrigeren Lohn im Osten zu akzeptieren oder gleich entlassen zu werden.
Trotz der günstigen wirtschaftlichen Kennzahlen ist es den Gewerkschaften in den letzten Jahren nicht gelungen, von der Schwäche der Arbeitgeberseite zu profitieren – denn sie sind selbst zu schwach. Die IG BAU hat wie kaum eine andere DGB-Gewerkschaft seit den 1990er Jahren einen dramatischen Mitgliederschwund erlebt und ist von 720.000 Mitgliedern im Jahr 1996 auf aktuell unter 250.000 gerutscht. Im Jahr 1993 fanden sich noch rund 120.000 Bauarbeiter in Bonn zusammen, um das damalige »Schlechtwettergeld« zu verteidigen. Zur »großen« Mobilisierung der IG BAU im Zuge der Lohntarifverhandlungen 2021 kamen gerade einmal 1.000 Bauarbeiter nach Berlin. Zwar konnte hier erstmals die Angleichung der Arbeitsbedingungen in Ost und West vereinbart werden, denn der Lohntarifvertrag, den die IG BAU Ende Oktober 2021 für das Bauhauptgewerbe abgeschlossen hat, sieht vor, dass bis Ende 2026 gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt werden muss. Drei Jahrzehnte nach der Wende ist diese Angleichung jedoch längst überfällig. Dass es so lange gedauert hat, erklärt sich auch aus dem im Vergleich zu den alten Bundesländern viel geringeren Organisierungsgrad. Der IG BAU ist es bisher nicht gelungen, echte Kampfstärke von Usedom bis zum Erzgebirge zu erzeugen.
Die Arbeitgeberseite weckt zudem den Eindruck, auf Zeit zu spielen, in der Hoffnung, dass die Gewerkschaft weiter Mitglieder verliert und so ausgezehrt ist, bis es für sie am grünen Tisch nicht mehr viel zu holen gibt. Es ist davon auszugehen, dass es spätestens zur nächsten Lohnrunde 2024 die ersten Streiks seit 2002 geben wird. Nur so könnte die IG BAU ihr Gesicht gegenüber den verbliebenen Mitgliedern wahren, auch wenn die Gefahr, diesen Arbeitskampf zu verlieren, nicht zu unterschätzen ist. Die IG BAU scheint sich darüber im Klaren zu sein, denn es wirkt so, als würde sie immer wieder bewusst Streiks abwenden, nur um dann in den darauffolgenden Schlichtungsverfahren zu eher bescheidenen Abschlüssen zu gelangen.
Diese können sich zwar im Verhältnis zur eher niedrigen Mobilisierungsfähigkeit durchaus sehen lassen, könnten sich langfristig aber als Pyrrhussieg erweisen. Denn wenn die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Bauleute weiterhin so dramatisch sinkt wie in den vergangenen zehn Jahren, dann wird irgendwann kaum mehr jemand zum Streiken da sein.
Versuche mit den vielen entsandten Beschäftigten aus den osteuropäischen Mitgliedsstaaten ins Gespräch zu kommen, sind bisher nur zaghaft erfolgt und gelingen eher selten. Doch es fanden bereits Austauschrunden mit rumänischen Kranfahrern statt – eine Berufsgruppe, die über hohe strukturelle Macht verfügt. Kranfahrer können ihre Forderungen kollektiv besser durchsetzen, da sie aufgrund ihrer wichtigen Rolle im Bauprozess leichter Störungen und Stopps hervorrufen können. Im Ernstfall stehen dann nicht nur die Kräne, sondern die ganze Baustelle still.
Weder der Fachkräftemangel noch die unzureichenden Ausbildungszahlen haben dazu beitragen können, die Machtverhältnisse zugunsten der Bauarbeiter zu verändern. Damit das gelingen kann, bräuchte die Gewerkschaft zunächst einmal den Mut, neue Wege einzuschlagen. Sie müsste aktiv auf migrantische Beschäftigte zugehen und das Bewusstsein für die eigene Stärke wiederentdecken. Nur so könnte ein Sieg in einer möglichen Streikauseinandersetzung gelingen – dieser scheint jedoch unter den jetzigen Bedingungen in weite Ferne gerückt zu sein.
Die Baubranche hat nicht erst seit dem Bauboom Probleme, genügend Arbeitskräfte zu gewinnen, und ebenso wenig gelingt es der IG BAU, neue Mitglieder an sich zu binden. Diesem Trend wird auch der gute Tarifabschluss 2021 nicht viel entgegensetzen können. Es bleibt somit offen, wie die IG BAU mehr Kampfbereitschaft entwickeln kann, um dem rückläufigen Organisationsgrad entgegenzuwirken. Denn nur mit einer neuen Generation von kämpferischen Bauarbeitern kann sich die Branche erneuern.
Hierzu braucht es den Brückenschlag von einheimischen und entsandten Beschäftigten sowie die Einsicht, dass Tarifabschlüsse nicht vom Himmel fallen, und eine stärkere Konfliktorientierung der organisierten Bauleute und ihrer Kampforganisation, der Gewerkschaft. Denn insbesondere im Arbeitskampf – und sei er noch so klein – entwickelt sich widerständiges Bewusstsein sowie ein Verständnis der eigenen Handlungsfähigkeit. Im deutschen Bausektor liegt dafür noch ein langer Weg bevor. Denn die Organisation der Beschäftigten an der Basis kann keine noch so kluge Verhandlungsstrategie ersetzen.