06. Mai 2021
Einst das Zentralorgan der SED, nach der Wende auf Kurssuche: Die Tageszeitung »Neues Deutschland« hat eine bewegte Geschichte hinter sich und eine ungewisse Zukunft vor sich. JACOBIN hat mit einem langjährigen Redakteur über vergangene und zukünftige Hoffnungen gesprochen.
Das »Neue Deutschland« in der Erfurter Stadtlandschaft, 1989.
Die Zeitung Neues Deutschland wurde dieses Jahr 75 Jahre alt. Das ehemalige Zentralorgan der ostdeutschen Regierungspartei, das am 23. April 1946 in den Trümmern Ostberlins gegründet wurde, hat eine lange und abwechslungsreiche Geschichte hinter sich. Die ersten Jahre der Zeitung wurden noch von den Hoffnungen auf einen antifaschistischen Neuanfang begleitet – dieser sollte sich, wie auch schon der Name der Zeitung nahelegt, bis über die Grenzen der Sowjetischen Besatzungszone erstrecken.
Obwohl das Neue Deutschland zunächst der Kontrolle der sowjetischen Behörden und später den obersten Machtzentren der DDR unterworfen war, gab es gerade am Anfang Bestrebungen, die Zeitung zu einem wahren »Volksblatt« zu machen, das nicht nur von oben herab belehrte, sondern auch einem gewissen Maß an Kritik einen Platz bieten sollte. In den ersten Jahren hing in vielen der Redaktionsräumen die Losung des Vorsitzenden der Kommunistischen Internationale, Georgi Dimitroff, der auf deren 7. Weltkongress seine Genossen anmahnte: »Wenn Du schreibst, musst Du stets an den einfachen Arbeiter denken, der Dich verstehen, Deinen Ruf glauben und Dir mit Bereitschaft folgen soll.«
Doch mit der Verhärtung der Fronten zwischen Ost und West und der Eingliederung Ostdeutschlands in den Warschauer Pakt verschwanden diese Hoffnungen, und mit ihnen auch der Elan, mit dem sich frühe ND-Redakteure an die Arbeit gemacht hatten. Die Zeitung wurde immer strenger vom Zentralkomitee kontrolliert und zensiert, die Sprache wurde hölzern und die Beiträge leblos. Als 1989 das System kollabierte, für das die Zeitung Propaganda gemacht hatte, war unklar, wofür sie noch stehen sollte.
Doch trotz immenser Verluste blieb das Neue Deutschland über die letzten drei Jahrzehnte weiter bestehen und wurde zu einem Ort für Debatten innerhalb und um die Linkspartei, die nach wie vor ihr Haupteigentümer ist. Sie integrierte neue Generationen von Redakteurinnen und Redakteuren und öffnete sich für Westdeutsche und die neuen sozialen Bewegungen. Irgendwann nannte sie sich sogar um – inzwischen heißt sie schlicht nur noch nd.
Dennoch sank die Abonnentenzahl stetig weiter – heute beträgt sie nicht mal 20.000. Anfang März sickerte die Nachricht durch, dass die Linksparteiführung ihre alte Hauszeitung aufgeben möchte. Bedeutet dies das Aus für Ostdeutschlands älteste Zeitung? JACOBIN sprach mit Detlef-Diethard Pries, der von 1973 bis 2014 im aussenpolitischen Ressort des nd tätig war. Was war das nd, was ist es heute und was kann es noch werden?
Detlef, Du hast eine lange Karriere beim Neuen Deutschland gemacht, sowohl in der DDR als auch danach. Was brachte Dich als junger Mensch überhaupt dazu, eine Stelle beim »Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands« anzutreten?
Ich habe mich beim nd nie beworben, ich bin sozusagen aus Liebe zum nd gekommen – aber nicht zur Zeitung, sondern zu einer ehemaligen Kommilitonin. Ich habe in Leipzig studiert, wie die meisten Journalisten der DDR, und wollte ursprünglich als Assistent an der Uni bleiben. Es war eigentlich auch schon alles in Sack und Tüten, aber dann verliebte ich mich in eine Kommilitonin, die nach Berlin wollte. Sie meinte, ich sollte doch versuchen, noch irgendwo in Berlin unterzukommen.
Schließlich geriet ich an den Direktor der Sektion für Journalistik, Emil Dusiska, der ursprünglich beim nd war, und er sagte »Das ist kein Problem, ich ruf’ die Katja an« – das war die Kaderchefin vom nd – »Du gehst zum Neuen Deutschland«. Und so bin ich 1973 dort gelandet.
Auch wenn Du also nicht wirklich zum Neuen Deutschland wolltest, wusstest Du bestimmt, worauf Du Dich dort einlässt?
Ja, sicher wusste ich das. Es war klar, dass das Zentralorgan nicht gerade ein locker redigiertes Blatt war. Dass ich in der Partei war, war auch klar. Ich kann mich noch erinnern, dass Günter Schabowski, als er noch Chefredakteur war, mal von einem westdeutschen Korrespondenten darauf angesprochen wurde, dass man doch sicher in der Partei sein müsse, wenn man im Neuen Deutschland arbeiten wolle. Und er sagte: »So stellt sich die Frage nicht. Alle, die beim nd anfangen, haben sich schon längst entschieden.« Und da hatte er recht. Wir waren schon im Studium, ich behaupte jetzt mal, 70 Prozent SED-Mitglieder gewesen.
Ich hatte allerdings das große Glück, dass ich sofort in die Abteilung »Außenpolitik« kam. Da waren zwei aus der britischen Emigration, und einer, der Zuchthaus und KZ durchlebt hatte. Es waren Leute dabei, die schon Auslandseinsätze hinter sich hatten. Da herrschte eine sehr offene Atmosphäre. Und ich kann gar nicht bestreiten, dass mich die Leute auch beeindruckt haben mit ihrem Lebenslauf.
Was hast Du in der Abteilung Außenpolitik gemacht?
Die Abteilung war in vier Sektionen aufgegliedert: sozialistische Länder, kapitalistische Länder, Dritte Welt und Querschnittsfragen. Ich war in der Sektion Sozialistische Länder. Ich war auch zwei Jahre Korrespondent in Moskau und ein halbes Jahr in Warschau, und gegen Ende war ich sogar Sektionsleiter.
Wir waren aber nur drei, vier Hansel in der Sektion. Einer bearbeitete die Sowjetunion, einer machte Polen und die Tschechoslowakei, einer den Balkan, soweit er sozialistisch war, und einer die asiatischen sozialistischen Länder. Ich habe nacheinander alle diese Gebiete beackert.
Konntest Du über das, was dort geschah, ehrlich berichten? Wie viel echter Journalismus war da möglich?
Da war schon journalistische Tätigkeit drin. Die Sowjetunion war auch für Korrespondenten nicht frei besuchbar in allen Gebieten, aber es gab vom Außenministerium organisierte Journalistenreisen, zum Teil zusammen mit westlichen Journalisten, wodurch sich auch einzelne Kontakte ergaben. Einmal sagte mir ein Kollege, »Wenn wir auf so eine Reise fahren, wissen wir vorher, was wir schreiben werden, und die Wessis wissen auch, was sie schreiben werden.« Man holte sozusagen bloß das journalistische Fleisch um seine jeweilige Position zu verkaufen.
Ich war von 1981 bis Anfang 1984 in Moskau, als sie alle nacheinander starben – erst Suslow, dann Breschnew, dann Andropow – und ich war auf dem Roten Platz zu den Beerdigungen. Noch an meinem letzten Tag rief mich der im sowjetischen Außenministerium für die DDR-Presse Verantwortliche an und sagte »Ich habe ein Geschenk für Dich: Eine Karte für den Roten Platz zur Beerdigung von Andropow!« Statt meine Sachen zusammenzupacken, musste ich also auf den Roten Platz toben. Konnte man ja schlecht ablehnen.
Franz Knipping, zeitweise Auslandskorrespondent in London, hat das Neue Deutschland mal als einen »Großbetrieb der Ideologieproduktion« bezeichnet. Trotzdem wart Ihr gleichzeitig Journalisten. Verspürtest Du damals eine Spannung zwischen dem journalistischen Auftrag, die Wahrheit nach bestem Wissen wiederzugeben, und dem parteipolitischen Auftrag, eine politische Weltanschauung zu vermitteln?
Sicher gab es da ein Spannungsverhältnis. Uns war schon an der Universität beigebracht worden, dass die Presse der »kollektive Agitator, Propagandist und Organisator der Partei« sei, laut Lenin. Ungeachtet dessen waren wir natürlich auch Journalisten geworden, um zu schreiben und die Wahrheit zu verbreiten.
Habt Ihr untereinander über diese Spannung diskutiert?
In unserer Abteilung wurde sehr offen darüber diskutiert. Irgendjemand hat mal eine Sammlung »goldener Worte« angelegt in der die teils ironischen, sogar zynischen Sprüche einzelner Kollegen festgehalten wurden. Da stand zum Beispiel: »Wenn man heute das nd liest, müsste man denken, die Welt ist ein Würfel.«
Ganz zum Schluss, 1989, saß ich zufällig mit dem damaligen Chefredakteur Herbert Naumann in einem Auto. Der erzählte von seinem Schwiegersohn, der das nd abonnieren wollte. Das ging aber nicht mehr, weil die Auflage auf 1,1 Millionen begrenzt war. Naumann war ein gebürtiger Sachse, der sich nie diese Sprache abgewöhnt hatte. Und er sagte: »Verstehste, da kannste nicht mal mehr beitragen zur Verblödung der Menschheit!«
Das klingt ganz schön zynisch.
Sicherlich. Wobei man sagen muss, dass wir alle hofften, dass sich dieses Verhältnis irgendwann auflöst, dass es besser wird. Ich kann mich entsinnen, dass ich mal zu einem Kollegen sagte, »Die wissen gar nicht,« – ich meinte die da oben – »was sie uns hinterlassen«. Aber sie hinterließen uns nichts mehr.
In den 1950er und 60er Jahren gab es unter Chefredakteuren wie Hermann Axen ab und zu Versuche, das nd zu einer offeneren und populären Zeitung zu machen. Im Laufe der 1970er und 80er, zuerst unter der Leitung von Joachim Hermann und danach unter Günter Schabowski, wurde die Zeitung jedoch immer dogmatischer und realitätsferner. Ich denke dabei konkret an Beispiele wie die Berichterstattung zur Leipziger Messe 1987, als angeblich 43 Bilder von Erich Honecker abgedruckt wurden. Hast Du die zunehmende Erstarrung damals auch wahrgenommen?
Ja, die war deutlich zu spüren. Ich habe unter Joachim Herrmann angefangen. Jemand sagte später einmal, Herrmann sei ein typischer Vertreter der Sorte Mensch, die so lange befördert werden, bis sie auf einem Posten ankommen, den sie nicht mehr ausfüllen können. Er berichtete vor der Redaktionsversammlung immer über die ZK-Tagungen, und beim ersten Mal nahm ich mir noch ein Blatt Papier und einen Stift mit, um womöglich Wichtiges aufzuschreiben. Aber es war nichts Wichtiges, er verbreitete nur Sprechblasen.
Deshalb hofften wir alle sehr auf Schabowski, denn der war erstens intelligenter und zweitens war das einer, mit dem man mal ein persönliches Wort reden konnte. Schabowski hatte ja auch ein Gespräch mit Honecker gehabt. Honeckers Lieblingszeitung war der Tagesspiegel, und sowas ähnliches hätte er sich auch fürs nd gewünscht. Schabowski wurde beauftragt, ein Konzept für dieses nd zu entwickeln. Die Konzeption wurde vom Politbüro beschlossen und Schabowski verkündete vor der versammelten Belegschaft, es sei der manifeste Wille der Parteiführung, »auf Zeitungspapier künftig Zeitungen zu drucken«.
Er hat später zugegeben, dass das schon am nächsten Tag im Grunde obsolet war. Er selbst schrieb in seiner Anfangsphase ja sehr flotte Kommentare und redigierte auch in die Kommentare von anderen herein, um sie schärfer zu machen. Aber im Grunde wurde die Gängelei durch das »große Haus«, wie wir sagten, immer schlimmer.
Als Schabowski 1985 ersetzt wurde und Herbert Naumann an seine Stelle trat, wurde es dann ganz schlimm. Naumann konnte ja auch nicht argumentieren, der hatte bloß einen Riecher dafür, was nicht erwünscht war. Selbst im außenpolitischen Ressort wurden wir immer mehr gezwungen, die Beiträge unserer Korrespondenten mit der jeweiligen Abteilung im Zentralkomitee abzustimmen. Das war ganz schlimm zu Perestroika-Zeiten. Unser damaliger Abteilungsleiter sagte uns irgendwann, »Also Jungs, wir müssen uns mal ein paar Manuskripte, die sie abgelehnt haben, in die Schublade legen, denn irgendwann wird man uns fragen ›Was habt ihr die ganze Zeit gemacht?‹«
Der ehemalige stellvertretende Chefredakteur vom nd, Harri Czepuck, hat nach der Wende eine falsche »Informationspolitik« bei der Zeitung beklagt – dass man den Leserinnen und Lesern nicht genug zutraute, und deshalb nicht über reale Missstände schrieb. Doch als Journalisten habt ihr sicherlich die schlimmer werdende Lage in der DDR mitbekommen. Wie überrascht war die Redaktion, als die Montagsdemonstrationen anfingen und 1989 schließlich die Mauer fiel? Habt ihr damit gerechnet?
Nein, das haben wir nicht erwartet. Ich kann mich entsinnen, dass ich am 1. Oktober bei einem Empfang zum 40. Jahrestag der Volksrepublik China war, der in Berlin dazu gegeben wurde. Der im Zentralkomitee für China Verantwortliche sprach im engeren Kreis über die Situation, die hier schon etwas angespannt war, und er sagte »Also passt auf! Am 7. Oktober passiert nichts.« Er wollte sagen: Die Situation ist im Griff. Aber es passierte dann eben doch etwas.
Ich war zufällig privat in Moskau, als Honecker abgesetzt wurde, und da sagte ein sowjetischer Kollege, »Jetzt fängt es bei euch auch an!« Wir hofften natürlich auch, dass es in die Richtung geht, die wir uns wünschten, aber das passierte nicht. Am 4. November bei der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz waren wir in voller Abteilungsstärke dabei. Da wurde ich schon etwas ängstlich angesichts der teils aggressiven Stimmung unter den Massen.
Wie habt Ihr als Redaktion auf die neue Situation reagiert? Gab es sowas wie eine Aufbruchsstimmung?
Ja, natürlich. Die ersten personellen Veränderungen nahm noch Schabowski selbst vor. Er kam in die Redaktion und verkündete Naumanns Abberufung. Dann wollte er uns Harald Wessel [bekannt für seine polemischen Artikel gegen die Perestroika] als Chefredakteur andienen. Da erhob sich lauter Protest in der Belegschaft.
Man muss dazu sagen, es gab im Frühjahr 1989 eine Parteiversammlung der Grundorganisation, die erstmals anders abgelaufen war als frühere solcher Veranstaltungen, wo eigentlich immer nur Propaganda-Losungen verkündet wurden. Die schärfste Form der Kritik bestand darin, dass der jeweilige Redaktionssekretär die Anzahl der Druckfehler bemängelte. In dieser Versammlung wurde im Referat des Parteisekretärs die Berichterstattung aus den sozialistischen Ländern kritisiert, worauf ich, der ja nun dafür verantwortlich war, mich zu einem Diskussionsbeitrag genötigt sah.
Erst hinterher sagte mir ein Kollege, »der Chefredakteur, der hinter Dir saß, der wurde immer röter als Du geredet hast«, weil ich im Perestroika-Sinn gesprochen hatte. Ich sagte etwa: »Wenn der Zug in der Sowjetunion in die richtige Richtung fährt, wie es manchmal auch heißt, dann müssen wir auch beschreiben, welche Stationen er zurücklegt, egal ob man das nun in jedem Falle als die zu 100 Prozent richtige Lösung empfindet oder nicht.«
Daraufhin wurde ich beauftragt, eine neue Konzeption für diese Berichterstattung auszuarbeiten – wirkungslos wie alle vorherigen. Später erfuhr ich, dass der Chefredakteur sich nach dieser Versammlung im Zentralkomitee habe rechtfertigen müssen, weil er den »Aufrührern« aus der Abteilung Außenpolitik – auch unser Abteilungsleiter und sein Stellvertreter waren in ähnlichem Sinne aufgetreten – nicht entschieden genug entgegengetreten wäre.
Was für Auswirkungen hatten die politischen Veränderungen auf die Zusammensetzung und die Arbeitsweise der Redaktion beim Neuen Deutschland?
Naja, wir waren dann wirklich freie Redakteure im Rahmen unserer Überzeugung, denn wir waren ja nach wie vor überzeugte Linke. Die Periode unmittelbar um die Wende war die fruchtbarste in meiner Tätigkeit beim nd. Die Ressorts rückten enger zusammen und berieten, man half sich gegenseitig aus. Das war vorher kaum der Fall gewesen und später auch nur noch in beschränktem Maße, weil dann Neue hinzukamen, die eben die Geschichte nicht kannten und andere Vorstellungen hatten.
Unmittelbar nach Mauerfall stürzte die Auflage des nd von 1,1 Millionen auf 200.000 innerhalb eines Jahres. Das ist ein unvorstellbar drastischer Einbruch. Wie seid Ihr damit umgegangen?
Es war klar, dass die ganze Pflicht- und Alibi-Abonnements wegfallen. Aber als dann ein westlicher Berater kam und meinte, ihr werdet vielleicht bei 120.000 landen, schockierte uns das schon. Dass es so schnell abwärts gehen würde, hatten wir nicht erwartet.
Wir wollten einerseits die alten treuen Leser nicht verlieren, die waren aber zum Teil sehr »orthodox«, wie man heute sagt. Wir waren ja ein bisschen jünger als der Großteil dieser Leser, und insofern waren wir ihnen immer ein Stück voraus. Das schreckte natürlich auch manche von ihnen ab. Sie wechselten zum Teil zur Jungen Welt oder zum Rotfuchs, den mein alter Bürokollege Klaus Steiniger gründete.
Wie sich durch die Junge Welt zeigt, gibt es offenbar in der deutschen Presselandschaft einen gewissen Bedarf nach einer marxistisch-leninistischen Zeitung. Habt ihr beim nd auch versucht eine solche Nische zu finden?
Auch da gab es verschiedene Vorstellungen. Die einen meinten, es sollte die ostdeutsche Tageszeitung werden. Es gab sogar mal eine Idee, sie in diesem Sinne umzubenennen. Dagegen sprach, dass wir dann sehr viele Leser verprellt hätten, die nach wie vor eine sozialistische Tageszeitung wollten.
Man wollte das nd zu einer unpolitischen ostdeutschen Tageszeitung machen?
Nein, nicht unpolitisch, aber es gab die Überlegung sich als eine eher linksliberale Zeitung zu positionieren. Andererseits gab es den Versuch der West-Ausdehnung, der aber nie so richtig gefasst hat. Es gab sogar die Vorstellung, einen Teil der Auflage im Westen drucken zu lassen, um näher an die Leser heranzukommen. Das zerschlug sich dann aber auch.
Auch wenn das nd nach 1989 nicht mehr »Zentralorgan« war, spielten die Nachfolgeparteien der SED nach wie vor eine wichtige Rolle im Leben der Zeitung. Nun will die Partei die Zeitung aufgeben und in eine Genossenschaft umwandeln. Hätte es damals das nd ohne die Partei überhaupt geben können?
Nein. Erstens war sie der Besitzer. Zeitweilig war ja sogar Dietmar Bartsch Geschäftsführer des nd, was ursprünglich mit sehr viel Skepsis gesehen wurde, weil er vorher mal gesagt hatte, das nd müsse sich unter marktwirtschaftlichen Bedingungen behaupten wie jede Nudelfabrik auch. Das empörte die Belegschaft natürlich, dass sie als Nudelfabrik bezeichnet wurden. Aber er gab sich dann als Geschäftsführer große Mühe. Ich war angenehm überrascht. Leider war es ja bloß ein Jahr oder so.
Du erwähntest den Versuch der West-Ausdehnung, der aber nicht so wirklich gefruchtet hat. Gab es in den letzten dreißig Jahren zumindest kleine Erfolge in der Bestrebung, eine neue Leserschaft zu erschließen?
Wenn man die reinen Zahlen betrachtet, war es im Grunde ein ständiges Schrumpfen, wobei es durchaus auch Leute gab, die mit Anerkennung vom Neuen Deutschland sprachen. Aber das war eben in der Summe zu wenig, es konnte die Verluste nicht ausgleichen.
Es gab auch rein biologische Verluste – die alten Genossen starben weg, junge Leute lesen keine Zeitung mehr, kaufen sich höchstens hin und wieder eine oder informieren sich im Internet. Das ist eine Erscheinung, mit der alle Tageszeitungen zu kämpfen haben, aber uns traf es besonders, weil es natürlich auch nach wie vor gegenüber dem ehemaligen Zentralorgan Vorbehalte gab.
War das Neue Deutschland also nach der Wende einfach kulturell nicht mehr anschlussfähig?
Wir haben auch unsere Stärken zu wenig ausgespielt. Wir hatten ja zu DDR-Zeiten ein relativ ausgedehntes Korrespondentennetz und wir waren immer »Osteuropa-kompetent«. Aber das haben wir zu wenig zur Geltung gebracht. Andererseits spielten die ehemaligen Bruderländer in der Öffentlichkeit auch eine immer geringere Rolle.
Du erwähntest, dass in den 1990er Jahren darüber debattiert wurde, das nd zu einer ostdeutschen Tageszeitung werden zu lassen. In den letzten Monaten ist wieder eine Diskussion darüber aufgeflammt, dass es kaum noch ostdeutsche Medien gibt – und wenn, dann gehören sie Westdeutschen. Könnte eine stärkere »ostdeutsche« Orientierung ein Erfolgsrezept sein für das heutige nd?
Man könnte es versuchen. Ein Bedürfnis gäbe es schon, denke ich, aber die Öffentlichkeit im Osten ist inzwischen auch sehr gespalten. Man kann ja nicht auf den AfD-Zug aufspringen. Viele, die früher aus Protest DIE LINKE gewählt haben, wählen heute aus Protest die AfD. Ich stelle es mir schwer vor, sie für die Zeitung zurückzuholen. Eine reine Ost-Zeitung zu gründen ist deshalb, glaube ich, nicht mehr möglich.
Glaubst Du, dass es eine Zukunft für die Zeitung geben kann? Könnte das vorgeschlagene Genossenschaftsmodell funktionieren?
Ja, zunächst einmal hoffe ich das natürlich sehr. Neulich hat der gegenwärtige Chefredakteur berichtet, dass intensive Gespräche stattfinden. Das Genossenschaftsmodell klappt ja irgendwie bei der Jungen Welt. Aber vielleicht ist es dazu eben auch schon zu spät. Ich bin da nicht besonders optimistisch.
Und was sollte dann aus Deiner Sicht aus der Zeitung werden?
Wenn das nd als Verständigungsorgan verschiedener linker Strömungen dienen könnte, wäre das schön. Aber wie gesagt, das wird sehr schwierig werden.
Detlef-Diethard Pries war bis zum Renteneintritt 2014 Redakteur und stellvertretender Ressortleiter im Auslandsressort des »nd«. Seither arbeitet er ehrenamtlich als einer der vier Redakteure von »das Blättchen«.