09. Juni 2024
Im französischen Überseegebiet Neukaledonien kam es zu heftigen Ausschreitungen, als die Regierung erklärte, man wolle das Wahlrecht in dem Gebiet auf alle ausweiten. Die Lokalbevölkerung sieht darin koloniale Machtausübung aus dem weit entfernten Paris.
Kanakinnen und Kanaken in Paris demonstrieren mit neukaledonischen Fahnen am Tag der Arbeit, 1. Mai 2024.
Im Süden Neukaledoniens (oder Kanaky, wie die lokale Bevölkerung das Inselgebiet nennt) stand die Stadt Nouméa im vergangenen Mai rund zwei Wochen buchstäblich in Flammen: Es gab schwere Krawalle, an denen Berichten zufolge fast 5.000 junge Unabhängigkeitsaktivisten beteiligt waren. Etwa 200 Gebäude wurden niedergebrannt, vor allem Geschäfte und Fabriken, aber auch öffentliche Einrichtungen, Häuser, Schulen und Bibliotheken. Als Reaktion darauf bildeten sich bewaffnete Selbstverteidigungsgruppen und Milizen aus europäischen Personen, die ihre Stadtviertel schützen wollten. Sie errichteten mehr als 100 Barrikaden in der ganzen Stadt. Mindestens sieben Menschen starben, darunter vier Kanaken.
Die französische Regierung wiederholte im Zuge der Ausschreitungen die Fehler ihrer repressiven Kolonialpolitik auf dem südpazifischen Archipel und legte den Schwerpunkt nicht auf Dialog, sondern auf Law and Order. Sie verhängte vom 16. bis 27. Mai den Ausnahmezustand in Neukaledonien/Kanaky, stellte die meisten Anführer der Revolte unter Hausarrest und entsandte sogar das Militär, um die Aufrührer niederzuschlagen.
Dieser jüngste Aufstand muss im Kontext einer langen Kolonialgeschichte verstanden werden, die nach wie vor geprägt ist von einer Spaltung zwischen der indigenen Bevölkerung der Kanaken, die die Unabhängigkeit fordert, und den »Caldoches«, europäischen Siedlerinnen und Siedlern, die sich gegen die Unabhängigkeit stellen.
Nach der Eroberung des Archipels im Jahr 1848 sicherte Frankreich seine Herrschaft durch Strafkolonien und dann durch (zunächst recht erfolglosen) Siedlerkolonialismus. Die Kolonialbehörden gingen davon aus, dass kriegerische Auseinandersetzungen und Epidemien zum unausweichlichen Verschwinden der einheimischen Kanaken führen würden. Doch trotz eines tatsächlich erheblichen Bevölkerungsrückgangs bis in die 1920er Jahre haben die Kanaken überlebt – und mehrere große Aufstände in den Jahren 1878, 1917, 1984 und erneut im vergangenen Mai gestartet.
Jedes Mal wurde dieses Aufbegehren vom französischen Staat brutal niedergeschlagen. In vielerlei Hinsicht ähnelte Frankreichs Politik in Neukaledonien/Kanaky der in Algerien: Enteignung des Landes der Kanaken für neue Siedler, brutale Unterdrückung jeglicher Rebellion und die Errichtung eines frankreichtreuen Regimes. In Neukaledonien/Kanaky geschah dies auch in Form diverser Gesetze, die bis 1946 galten und mit denen den Kanaken die Staatsbürgerschaft entzogen, der Aufenthalt außerhalb ihrer Reservate verboten und Zwangsarbeit eingeführt wurde.
»Während die kanakischen Aktivistinnen und Aktivisten einerseits ihr Recht auf Selbstbestimmung als indigenes Volk einforderten, erklärten sie sich andererseits damit einverstanden, dieses Recht mit denjenigen zu teilen, die als ›Opfer der Geschichte‹ bezeichnet wurden.«
Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten die Kanaken zwar die Staatsbürgerschaft, gleichzeitig wuchsen aber auch die Spannungen zwischen den ethnischen Communities und die politische Polarisierung nahm zu. Mitgründe dafür waren der Nickel-Boom vor Ort und die Einwanderung hauptsächlich aus Europa, die vom französischen Staat vorangetrieben wurde. Von 1984 bis 1988 – eine Periode, die heute euphemistisch als »Les Événements« bezeichnet wird – erlebte das Land eine Welle der Gewalt zwischen der kanakischen Bevölkerung auf der einen und der französischen Regierung und den Siedlern auf der anderen Seite. Die »Ereignisse« gipfelten in der blutigen Geiselnahme von Ouvéa, zu dessen Ende 19 Unabhängigkeitsaktivisten und zwei Soldaten getötet wurden. Mit der Unterzeichnung des Matignon-Oudinot-Abkommens schien ein Kompromiss gefunden und die Unruhen beendet worden zu sein. Das Abkommen machte den Weg frei für einen schrittweisen und gemeinsam ausgehandelten Entkolonialisierungsprozess. 1998 wurde dieser Fortschritt mit dem Abkommen von Nouméa fortgesetzt, das insbesondere den Weg für ein Selbstbestimmungsreferendum in Neukaledonien/Kanaky ebnete.
Ein wichtiges Merkmal dieses Entkolonialisierungsprozesses war, dass die Siedler und andere zugewanderte Bevölkerungsgruppen in den Prozess einbezogen wurden. Dazu wurde ein spezielles Wahlsystem eingerichtet: Während die kanakischen Aktivistinnen und Aktivisten einerseits ihr Recht auf Selbstbestimmung als indigenes Volk einforderten, erklärten sie sich andererseits damit einverstanden, dieses Recht mit denjenigen zu teilen, die als »Opfer der Geschichte« bezeichnet wurden, also mit den Nachkommen von Siedlern und ehemaligen Sträflingen sowie mit allen Bevölkerungsgruppen, die im Zuge mehrerer Migrationswellen nicht nur aus Frankreich, sondern auch von anderen pazifischen Inseln und aus dem asiatischen Raum eingewandert waren.
So wurden neben dem allgemeinen Wählerverzeichnis zwei getrennte sogenannte »Wahlkörper« eingerichtet: Der eine beschränkte das Stimmrecht bei Wahlen für neukaledonische Institutionen auf Personen, die mindestens zehn Jahre vor dem Abkommen von Nouméa bereits auf den Inseln lebten, während der andere noch restriktivere Kriterien für zukünftige Referenden festlegte. Damit wurden de facto alle Personen ausgeschlossen, die nach dem Abkommen nach Neukaledonien kamen (hauptsächlich Menschen aus dem französischen Mutterland).
Mit diesem Kompromiss wurde die koloniale Vergangenheit anerkannt und in einen institutionalisierten Entkolonialisierungsprozess überführt. Er war aber auch ein Entgegenkommen der Kanaken gegenüber anderen Gruppen. Das Abkommen galt als eine der Säulen des bürgerlichen Friedens, der seit 1988 zwischen den verschiedenen Communities in Neukaledonien/Kanaky herrschte. Es ermöglichte die Einbeziehung aller anderen alteingesessenen Gemeinschaften in eine einzigartige kaledonische Staatsbürgerschaft. Dies betraf vor allem Arbeitsmigranten aus anderen Ex-Kolonien im Pazifikraum und in Asien, die im Laufe der Geschichte zur Arbeit auf Plantagen oder in Nickelminen gekommen waren und das multiethnische Mosaik komplettierten. Heute sind von den 270.000 Einwohnerinnen und Einwohnern des Archipels 40 Prozent Kanaken, 29 Prozent Europäer und die restlichen 30 Prozent stammen von den Wallis- und Futuna-Inseln, aus Französisch-Polynesien, Vanuatu, Indonesien, Vietnam oder China.
Die neukaledonische »Ausnahmeregelung« zum republikanischen Universalismus in Frankreich – schließlich wurde mit dem speziellen Wahlrecht ein theoretisch für alle geltendes, universelles Recht eingeschränkt – wurde in der Verfassung verankert. Die Rechtmäßigkeit dieser Ausnahme wurde 2005 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt, der entschied, dass sie im Rahmen der Entkolonialisierungs- und Übergangsregelungen nicht gegen die Kriterien des allgemeinen Wahlrechts verstößt.
Doch dann beschloss der französische Staat im Namen des republikanischen Universalismus einseitig die Aufhebung dieses Wahlsystems.
Nach dem letzten Referendum über den Autonomiestatus des Archipels im Jahr 2021 begann der französische Staat, das sogenannte »eingefrorene Wahlsystem« beziehungsweise die »Wahlkörper« in Frage zu stellen.
Wie im Abkommen von Nouméa vorgesehen, konnten 2018, 2020 und 2021 drei Referenden abgehalten werden, wobei sich die Mehrheit der Teilnehmenden stets für den Verbleib im französischen Staat aussprach, wenn auch mit knappem Vorsprung. Beim ersten Referendum 2018 stimmten 43,3 Prozent für die Unabhängigkeit, beim zweiten im Jahr 2020 wurde dieses Lager stärker (46,7 Prozent). Die letzte Abstimmung im Jahr 2021, die mitten in der Corona-Krise stattfand, wurde derweil vom französischen Staat in aller Eile organisiert, wohingegen die Unabhängigkeitsbefürworter eine Verschiebung des Referendums aufgrund der Pandemie forderten. Der Staat blieb hart; die Unabhängigkeitsbefürworter riefen zum Boykott des Referendums auf. Dementsprechend niedrig war die Wahlbeteiligung und das Ergebnis von 96,5 Prozent für einen Verbleib im französischen Staat spiegelt kaum den Willen der Gesamtbevölkerung wider. Dennoch behauptete Präsident Emmanuel Macron dies – trotz der offensichtlichen Unsinnigkeit eines Referendums, das ohne Beteiligung der kanakischen Bevölkerung durchgeführt wurde. Die französische Regierung erkannte die Ergebnisse dieses dritten Referendums umgehend an. Die Unabhängigkeitsbefürworter waren fassungslos.
In den vergangenen drei Jahren ist die französische Führung verstärkt dazu übergegangen, die Unabhängigkeitsbewegung zu diffamieren. Trotz zahlreicher Warnungen hat die Regierung Macron das frühere Wahlsystem ausgesetzt – im Namen des republikanischen Universalismus. Diese Aufhebung des früheren Rechts erfolgte durch eine Verfassungsänderung, die es bisher ausgeschlossenen Personen ermöglicht, an Wahlen teilzunehmen. Zwar betrifft diese Änderung derzeit lediglich die Kommunalwahlen und nicht ein mögliches erneutes Unabhängigkeitsreferendum, doch für die Kanaken stellt sie ein inakzeptables Problem dar.
»In den vergangenen drei Jahren ist die französische Führung verstärkt dazu übergegangen, die Unabhängigkeitsbewegung zu diffamieren.«
Die neuen Regelungen haben Auswirkungen für etwa 20 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung. Die meisten dieser Personen sind vom französischen Festland gekommen – und lehnen die Unabhängigkeit Neukaledoniens/Kanakys entschieden ab. Dadurch drohen die Kanaken in ihrem eigenen Land in die Minderheit zu geraten. Das lokale politische Gleichgewicht wird erheblich verändert und das Unabhängigkeitsprojekt dürfte in immer unerreichbarere Ferne rücken. Die Änderung des Wahlsystems bedeutet insbesondere, dass die gesamte Struktur, auf der das Abkommen von Nouméa basierte, in Frage gestellt wird.
Trotzdem ist das Lager der Unabhängigkeitsbefürworter nicht gänzlich gegen diesen Prozess und zeigte sich sogar bereit, ihn zu diskutieren. Für sie ist das Hauptproblem die harte Gangart der französischen Regierung und deren parteiischer Schulterschluss mit den entschiedenen Gegnerinnen und Gegnern einer neukaledonischen Unabhängigkeit.
Seit dem Referendum 2021, das de facto das Ende des Nouméa-Abkommens und die Aufnahme von Verhandlungen über eine neue Regelung bedeutete, wird die Unabhängigkeitsbewegung von Paris ausgegrenzt. Der französische Staat wich von seiner früheren offiziellen Neutralität ab und stellte sich auf die Seite der vehementesten Unabhängigkeitsgegner.
Ein Symbol für die Haltung der französischen Regierung ist, dass die Anführerin der Frankreich-Loyalisten, Sonia Backès – deren Äußerungen bisweilen von Populismus und rassistischen Untertönen geprägt sind – von Macron auf den symbolträchtigen Posten der französischen Staatssekretärin für Staatsbürgerschaft berufen wurde. Es dürfte kaum etwas Zynischeres geben als eine Unabhängigkeitsgegnerin aus Neukaledonien, die mit rechtsradikalem Gedankengut kokettiert, im französischen Mutterland für Staatsbürgerschaftsfragen zuständig ist und rassistische Regelungen wie das höchst umstrittene Gesetz zum Verbot des Tragens der Abaya (eines muslimischen Gewandes) in Schulen befürwortet.
»Trotz des starken Widerstands der Kanaken gegen das neue Gesetz stimmten die Senatorinnen und Senatoren sowie die Nationalversammlung in Paris mehrheitlich für die Reform. Damit ignorierten sie die Komplexität der französischen Kolonialgeschichte.«
In den letzten Monaten haben die Unabhängigkeitsgegner ihre Provokationen verstärkt und damit die Kluft zwischen Kanaken und Nicht-Kanaken, die sich seit den 2000er Jahren deutlich verringert hatte, wieder vertieft. Als die Unruhen und ihre Niederschlagung tobten, präsentierte sich beispielsweise der Parlamentsabgeordnete Nicolas Metzdorf in den französischen Medien als Opfer eines antiweißen Rassismus. Dass eine solche Rhetorik in und über Neukaledonien/Kanaky verbreitet ist, offenbart eine gewisse Blindheit gegenüber dem Fortbestehen kolonialer Fragen und Probleme sowie dem allgegenwärtigen Rassismus in der kaledonischen Gesellschaft. Die französische Regierung und die Anti-Unabhängigkeitsfraktionen haben sich darauf verständigt, auf einen universellen Republikanismus zu drängen – und dabei zu leugnen, dass Rassen- und Kolonialkonflikte in Neukaledonien/Kanaky überhaupt existieren.
Der Fall Neukaledonien ist inzwischen auch in der Links-Rechts-Spaltung in der französischen Nationalversammlung sowie im Diskurs rund um Kolonialfragen der vergangenen Jahre Thema. Der Minister für Inneres und Überseegebiete, Gérald Darmanin, der auf die Wahlrechtsreform pochte, ignorierte die Warnungen der linken Fraktionen und nutzte lieber die Gelegenheit, seine politischen Gegner anzugreifen. Vor der Abstimmung der Abgeordneten kritisierte er die Mitglieder der Neuen Ökologischen und Sozialen Volksunion (NUPES) scharf, da diese den Reformvorschlag der französischen Regierung für Neukaledonien/Kanaky entschieden ablehnten.
Trotz des starken Widerstands der Kanaken gegen das neue Gesetz stimmten die Senatorinnen und Senatoren sowie die Nationalversammlung in Paris mehrheitlich für die Reform. Damit ignorierten sie die Komplexität der französischen Kolonialgeschichte und die Gründe für den zuvor geltenden rechtlichen Exzeptionalismus, der durch den Entkolonialisierungsprozess gerechtfertigt wurde. Sie spielten die damit verbundenen Risiken herunter und stimmten der Aufhebung des früheren Wahlsystems zu. Dies wiederum löste die Ausschreitungen in Neukaledonien/Kanaky aus.
Schon seit mehreren Monaten nehmen die Spannungen zwischen den beiden Lagern zu. Im November vergangenen Jahres wurde als Reaktion auf den Gesetzesvorschlag des französischen Staates eine sogenannte Koordinationszelle für Aktionen vor Ort (cellule de coordination des actions de terrain, CCAT) von politischen Organisationen und Gewerkschaften gegründet, die sich für die Unabhängigkeit einsetzen. Die CCAT sollte auf die drohende Reform des Wahlsystems aufmerksam machen und organisierte rund 20 Demonstrationen, die allesamt friedlich verliefen. Bei der letzten Demonstration am 8. Mai zogen tausende Kanaken aus der ganzen Insel friedlich durch die wohlhabenden Stadtteile im Süden von Nouméa, die überwiegend von Europäern bewohnt werden. Sie trugen Fahnen und skandierten: »Das ist Kanaky, das ist unsere Heimat.« Die Stimmung war ausgelassen. Im Gegensatz dazu haben profranzösische Loyalisten in den vergangenen Monaten ihre Provokationen verschärft. Backès warnte beispielsweise im März mit Nachdruck, man sei bereit, »hier auf den Putz zu hauen«.
Als das Gesetz kurz vor der Abstimmung in der Nationalversammlung in Paris stand, errichteten CCAT-Gruppen dann Barrikaden auf den wichtigsten Straßen der Insel. Als das Gesetz angenommen war, spitzte sich die Situation in Nouméa zu. Große Geschäftshäuser – symbolträchtig, da sie wohlhabenden Caldoche-Familien gehören – brannten als Erstes. Die Brandstiftungen und Plünderungen griffen dann auf Geschäfte im Allgemeinen sowie auf viele öffentliche Gebäude über. Ganze Stadtteile wurden verwüstet. Offiziellen Angaben zufolge wurden diese Taten von vier- bis fünftausend Kanaken begangen, die im öffentlichen Diskurs meist als junge Kriminelle dargestellt werden, die nicht nur von den Fans einer neukaledonischen Unabhängigkeit, sondern auch von ausländischen Kräften wie Aserbaidschan, China oder auch Russland manipuliert worden seien. Innenminister Darmanin bezeichnete die CCAT gar als Mafiaorganisation.
»Aktuell kritisieren viele Menschen in Neukaledonien die politische Inkompetenz sowohl der strikten Unabhängigkeitsgegner als auch der Befürworter. Diese politischen Gruppen hätten vor allem die kanakische Jugend vernachlässigt und verloren.«
Auf Bitten der Unabhängigkeitsgegner rief Paris den Ausnahmezustand aus und entsandte tausende Mitglieder der Gendarmerie und des Militärs, um den Aufstand der Kanaken niederzuschlagen. Innerhalb weniger Tage hatte darüber hinaus die verängstigte europäische Bevölkerung Barrikaden errichtet, die von sogenannten Selbstverteidigungsgruppen und bewaffneten Milizen besetzt wurden. Dies trug freilich nicht zur Entspannung der Situation bei, sondern heizte sie eher noch an. Einige Führungspersönlichkeiten der Unabhängigkeitsgegner riefen die Bevölkerung dazu auf, selbst die Initiative zu ergreifen und ihre Stadtviertel zu schützen.
Fünf politische Parteien, darunter Unabhängigkeitsbefürworter und -gegner, riefen hingegen gemeinsam zum Frieden auf. Nach und nach wurden auf den europäischen Barrikaden tatsächlich weiße Fahnen gehisst. Ein Grundproblem bleibt indes auch nach der Beruhigung der Lage bestehen: In Neukaledonien ist die Bevölkerung schwer bewaffnet. Es wird davon ausgegangen, dass es mehr als 100.000 Schusswaffen bei 270.000 Einwohnerinnen und Einwohnern gibt. Das liegt nicht nur daran, dass die Jagd in der Region beliebt und historisch tief verwurzelt ist, sondern auch daran, dass viele Neukaledonierinnen und Neukaledonier erwartet hatten, dass es nach einem Unabhängigkeitsreferendum zu Auseinandersetzungen kommen könnte und dementsprechend große Waffenvorräte angelegt haben. Einer der weißen Waffenhorter war es auch, der auf den 19-jährigen kanakischen Studenten Jybril schoss und damit für ein Todesopfer der Unruhen sorgte.
Neben den Konfrontationen gab es jedoch auch Zeichen der Annäherung. An einigen Barrikaden wurden Geschenke übergeben und auch in ethnisch gemischten Vierteln kam es zu Solidaritätsaktionen wie der Verteilung von Mahlzeiten. Dennoch bleibt festzuhalten, dass sich die Spaltung zwischen Kanaken und Nicht-Kanaken, die sich in den Jahren nach dem Nouméa-Abkommen entspannte, inzwischen wieder verschärft hat. Dies zeigt sich auch im Gegensatz zwischen den ozeanisch geprägten und unterprivilegierten Stadtgebieten im Norden, die nun völlig verwüstet sind, und den extrem privilegierten weißen Vierteln im Süden der Halbinsel, wo sich die Europäer verbarrikadiert hatten. Letztere Gebiete sind unbeschädigt geblieben.
Aktuell kritisieren viele Menschen in Neukaledonien die politische Inkompetenz sowohl der strikten Unabhängigkeitsgegner als auch der Befürworter. Diese politischen Gruppen hätten vor allem die kanakische Jugend vernachlässigt und verloren. Tatsächlich haben viele der jungen Randalierer die Ereignisse der 1980er Jahre nicht miterlebt und identifizieren sich heute nicht (mehr) mit den Unabhängigkeitsbefürwortern oder anderen früheren kanakischen Autoritäten.
Tatsächlich sind diese Jugendlichen oft unterqualifiziert und arbeitslos; sie werden sowohl von den Behörden als auch von der älteren Generation verunglimpft und als Kriminelle angesehen. Die Krawalle schüren diesen Diskurs natürlich mit: Dort habe es demnach komplett außer Kontrolle geratene Randalierer gegeben, die die Alkohollager von Supermärkten plünderten, stark alkoholisiert waren, nicht einmal mehr auf ihre Eltern hörten und extreme Gewalttaten verübten.
Ebenso zeigt sich im Zuge der Unruhen aber auch, dass eine neue Generation von Unabhängigkeitsbefürwortern heranwächst, die für diese jungen Menschen attraktiver ist. Die Wut der Jugendlichen (weiter angeheizt durch das Kolonialerbe-Problem des Alkoholismus) sollte als ein Ausdruck ihrer Entwurzelung und ihrer Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit verstanden werden. Die CCAT war in der Lage, diese Energie mit einem aktivistischen Ansatz zu mobilisieren, der in der traditionellen Pro-Unabhängigkeitsbewegung nicht vorhanden war. Dies zeigte sich in den Monaten vor den Ausschreitungen, als es zu den (friedlichen) Demonstrationen kam, bei denen die CCAT bewies, dass sie die kanakische Jugend organisieren und mobilisieren kann.
Getreu seiner Gewohnheit, Gegner als Terroristen oder Schläger zu bezeichnen, hält der französische Staat (genau wie die Anti-Unabhängigkeitsbewegung) derweil daran fest, sowohl die CCAT als auch die Jugendlichen zu diskreditieren und ihnen ihren politischen Stellenwert abzusprechen. Das alles geschieht im angeblichen Interesse der Wiederherstellung der »republikanischen Ordnung«. Stand 1. Juni waren bereits 725 Kanaken im Zuge der Ausschreitungen verhaftet worden, die nun in Schnellverfahren angeklagt werden. Macrons kurzer Besuch am 23. Mai, mit dem er versuchte, die Lage zu beruhigen, scheint hingegen keine Wirkung gehabt zu haben. Er hatte sich damals freilich auch nicht klar dazu geäußert, ob er sich zukünftig für oder gegen eine Aufhebung des alten Wahlsystems starkmachen würde.
»Langfristig wird die Lösung der Probleme im Territorium viel mehr erfordern als nur Aufrufe zur Ordnung.«
Die Lage bleibt angespannt. Bereits am 18. Mai hatten CCAT-Aktivisten eine schwarze Flagge gehisst, um den Beginn der Trauerzeremonie für den erschossenen jungen Kanaken zu markieren – eine Trauerpraxis, die in der ozeanischen Lebenswelt zentral ist. Die CCAT ruft aber ebenso dazu auf, weiterhin Druck auszuüben und jede Barrikade, die von den Ordnungskräften niedergerissen wird, sofort wieder aufzubauen. Die repressive Politik des französischen Staates auf der anderen Seite mindert die Chancen, die Situation zu entschärfen, nur noch weiter.
Hinter der Frage des Wahlsystems, der Wählerlisten oder gar der Unabhängigkeit steht das brisante Thema der tiefgreifenden Ungleichheiten, die Neukaledonien/Kanaky entlang von ethnischen Trennlinien strukturieren. Diese Ungleichheiten sind das Ergebnis der kolonialen Vergangenheit und werden durch die repressive und arrogante Reaktion der französischen Regierung nur noch verschärft. Weiter verstärkt wurden sie außerdem durch die heftige jüngste Wirtschaftskrise. Insbesondere der Absturz der Nickelpreise und die Konkurrenz aus Indonesien haben die neukaledonische Nickelbranche, die für fast alle Exporte des Überseegebiets steht und Arbeitsplätze für ein Viertel der Bevölkerung bietet, erheblich geschwächt. Die Versuche Frankreichs, die Kontrolle über die Nickelproduktion wiederzuerlangen, sind an sich bereits eine Schlüsselfrage für die Souveränität und Autonomie der Kanaken.
Langfristig wird die Lösung der Probleme im Territorium viel mehr erfordern als nur Aufrufe zur Ordnung (oder noch mehr Referenden). Vielmehr muss es das Ziel sein, das Erbe der kolonialismusbedingten Ungerechtigkeit und Ungleichheit zu überwinden. Denn dieses prägt die kanakische Jugend bis heute.
Nathanaëlle Soler ist Anthropologin und Postdoc am Forschungsinstitut für Entwicklung (Recolnat) in Nouméa, Neukaledonien/Kanaky. Sie ist außerdem wissenschaftliche Mitarbeiterin an der EHESS in Paris.