01. Mai 2025
Politiker ohne Visionen, die dauerhaft Mehrheiten überzeugen könnten, und zugleich Protestbewegungen ohne echte Gegenentwürfe – diese ausweglose Lage prägt den postsowjetischen Raum seit den 1990ern, in zunehmendem Maße aber auch den Westen.
»Die Geschichte nach dem Ende der Sowjetunion ist die Geschichte eines Vakuums, das niemand zu füllen vermag.«
Im postsowjetischen Raum hat es seit 1991 mehr als ein Dutzend Revolutionen und gescheiterte Aufstände gegeben. Die gesellschaftspolitische Realität während und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war und ist geprägt durch eine anhaltende Krise der Hegemonie – namentlich den ersatzlosen Wegfall der kommunistischen Hegemonie, die im Zuge der bolschewistischen Revolution und der anschließenden Gründung der Sowjetunion entstanden war.
Die zahlreichen postsowjetischen Revolutionen waren eine Reaktion auf diese Hegemoniekrise. Doch anstatt die Zustände radikal zu verändern, haben sie die Krise lediglich reproduziert und verschärft. Diese Entwicklung ist nicht auf den postsowjetischen Raum beschränkt, sondern ein bestimmendes Merkmal heutiger Revolutionen: Im Gegensatz zu den sozialen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts verbinden sich in jüngeren Aufständen revolutionäre Form und gegenhegemoniale Schwäche, sprich: Es mangelt an überzeugenden Gegenentwürfen.
Die Geschichte nach dem Ende der Sowjetunion ist die Geschichte eines Vakuums, das niemand zu füllen vermag. Die postsowjetischen Eliten waren nicht in der Lage, die politische, moralische und intellektuelle Führung zu übernehmen, die es braucht, um die Zustimmung der breiten Gesellschaft für ein zukunftsorientiertes Projekt zu mobilisieren. Doch die subalternen Klassen – die Millionen von Arbeiterinnen und Arbeiter, die einst (bei allen möglichen Mängeln und Problemen) in die ökonomische Architektur des Staatssozialismus integriert waren – zeigen sich ebenso politisch zersplittert, desorganisiert und unfähig, eine gegenhegemoniale Alternative von unten zu artikulieren und durchzusetzen.
Eine Unfähigkeit der Eliten, eine Vision zu entwerfen, die demokratische Mehrheiten dauerhaft überzeugen könnte, und zugleich eine Unfähigkeit der breiteren Masse, selbst eine echte Alternative zu entwickeln – mit diesen Worten ließen sich ebenso gut die heutigen westlichen Gesellschaften beschreiben. Tatsächlich kann man die postsowjetische Krise als eine frühe, regionale Erscheinungsform eines globalen Prozesses verstehen, den wir heute überall im Westen beobachten. Im postsowjetischen Raum geschah dies nur in einer extremeren Form. Dort sind die 1990er Jahre erst recht niemals zu Ende gegangen.
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Wolodymyr Ischtschenko ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Er arbeitet zu Protestbewegungen in der Ukraine und hat unter anderem im Guardian sowie der New Left Review publiziert. Sein neuestes Buch Towards the Abyss: Ukraine from Maidan to War ist 2024 bei Verso erschienen.
Oleg Schurawlew ist Soziologe, arbeitet im Forschungsprojekt Public Sociology Laboratory und wird künftig an der TU Dresden tätig sein.