26. Oktober 2024
In den 1970ern kam es in den Arbeitervierteln von New York zur musikalischen Revolution: Rap, Salsa und Punk entstanden. Doch im Laufe der 1980er zerstörten Gentrifizierung und Immobilienspekulation die Bedingungen, die das Entstehen dieser Szenen ermöglicht hatten.
Punks versammeln sich vor dem Punkclub »CBGB« in Manhattan, New York, 1984.
In den späten 1970er und frühen 80er Jahren galt New York City als arm, schmutzig und gefährlich, vor allem in den innerstädtischen und migrantisch geprägten Vierteln. In diesen marginalisierten Stadtteilen entwickelten sich drei neue Musikgenres: Punk, Salsa und Rap/Hip-Hop. Sie haben die westliche Kultur mehr als ein halbes Jahrhundert lang geprägt und radikal verändert.
Die Armenviertel von New York City gehörten lange Zeit zu den am dichtesten besiedelten sowie vielfältigsten Arbeiter-Stadtteilen der Welt. Diese Ansammlung von Menschen aus unzähligen Ländern in einem komplexen sozialen Netzwerk entwickelte sich zu einer Brutstätte für kulturelle Innovation und Evolution.
Im »belly of the beast« New York schufen migrantische Communities aus dem Globalen Süden zusammen mit den alteingesessenen, meist afroamerikanischen Arbeiterinnen und Arbeitern ein wirtschaftliches und kulturelles Ökosystem mit Institutionen, die die Arbeit junger kreativer Talente unterstützten. Diese Viertel hatten (und haben) ihre eigene politische und kulturelle Geschichte, ihre eigenen Sprachen und Dialekte sowie besondere Stile, Haltungen und Rhythmen, die sich vom US-amerikanischen Mainstream unterscheiden. Künstlerinnen und Musiker in New York City profitierten von diesen Traditionen.
New York war schon immer sozial geteilt. Die 14th Street ist beispielsweise eine gerade Linie, die sich von Fluss zu Fluss über Manhattan erstreckt und Downtown von Uptown trennt. Früher fungierte die Straße wie eine Grenze zwischen eingewanderten Menschen aus der Arbeiterklasse, die aus Europa oder dem Globalen Süden kamen (sowie andere Minderheiten, Schwule und Lesben, Sozialistinnen, Anarchisten und radikale Künstler, die sich bewusst für Downtown zum Leben und Arbeiten entschieden hatten) einerseits, und andererseits den eher konservativen, wohlhabenden Hochkulturschaffenden in Uptown. Am anderen Ende der Insel bildete die 110th Street die Trennlinie zwischen der besagten Oberschicht von Uptown und den schwarz, lateinamerikanisch und grundsätzlich migrantisch geprägten Arbeitervierteln von Harlem und der South Bronx.
»Was die Hip-Hop-Kultur der gesamten Stadt gemeinsam hatte, war die Tatsache, dass sie in Sozialwohnungen mit niedrigen Mieten produziert wurde.«
Die Subkulturen dieser stark von Migration und der Arbeiterklasse geprägten Viertel New Yorks waren für die Entstehung einer dynamischen Punk-, Salsa- und Hip-Hop-Szene ausschlaggebend. Ebenso wirkten sich tiefgreifende sozioökonomische Veränderungen in den Vierteln im Laufe der Zeit auf die Möglichkeiten aus, dort Musik zu produzieren.
Rap, beziehungsweise Hip-Hop, ist zweifellos eine der einflussreichsten Musikkulturen des 20. Jahrhunderts. Die South Bronx gilt als sein Entstehungsort, doch auch in anderen Stadtbezirken gab es bereits DJs und MCs, lange bevor ihre Musik im Radio zu hören war.
Was die Hip-Hop-Kultur der gesamten Stadt gemeinsam hatte, war die Tatsache, dass sie in Sozialwohnungen mit niedrigen Mieten produziert wurde. Die »Projects« waren sehr divers geprägt und beherbergten Familien aus der gesamten afrokaribischen Diaspora. Sowohl kürzlich zugezogene als auch alteingesessene Migrantinnen und Migranten, insbesondere aus Jamaika, brachten ihre eigenen Rhythmen, ihre ebenso ausgeklügelten wie unkonventionellen Aufnahmetechniken und ihre Vorliebe für Soundsysteme auf der Straße und Open-Air-Tanzpartys mit ein.
In den frühen 1980er Jahren war Rap in den Parks von Manhattan, in Highschool-Sporthallen, in improvisierten Clubs und auf den damals beliebten Roll- oder Schlittschuhbahnen zu hören. Schlittschuhbahnen waren in New York zu dieser Zeit eine gesamt-amerikanische Institution, doch das Roxy, das 1978 in Chelsea eröffnet wurde, bot innerstädtisch-urbane Kultur in Reinform. Die jungen DJs des Clubs brachten dort alle Gäste zum Tanzen – mit ihren neuen, sogenannten »Hip-Hop-Sounds«, die zusammen mit Disco, Funk, Soul, Rock und früher elektronischer Musik gespielt wurden.
Das Roxy war einer der ersten Veranstaltungsorte in Manhattan, an dem Rapper auftraten: Afrika Bambaataa, Run DMC, LL Cool J und Kurtis Blow spielten dort live; die Rock Steady Crew veranstaltete Breakdance-Wettbewerbe. Vom Roxy aus verbreiteten sich Rap und Hip-Hop im ganzen Land und darüber hinaus. Es entstand eine weltweit rezipierte Kultur.
Der Salsa aus New York mag in der South Bronx geboren worden sein, aber schon früh wurde er in den Barrios der ganzen Stadt gespielt. Dazu gehörte auch die Lower East Side, oder »Loisaida«, wie die Einheimischen sie nennen – ein Viertel mit damals vielen heruntergekommenen Projects und Mietskasernen sowie einer riesigen puertoricanischen und dominikanischen Bevölkerung. Auf der Loisaida hörte man Tag und Nacht Latino-Musik aus Boomboxen auf den Straßen und Treppen, in den Bodegas, dominikanischen und Chino-Latino-Restaurants und den örtlichen Supermärkten.
»Salsa mag vielen Menschen als ein Musikgenre erscheinen, in dem ausschließlich spanisch gesungen wird, doch seine Wurzeln sind deutlich vielfältiger.«
Ein großer Teil der Qualität (und des Erfolgs) dieser Salsa-Musik dürfte darauf zurückzuführen sein, dass sie von eng vernetzten Familien in einer lokalen Community entwickelt wurde, die sich zwischen zwei sehr unterschiedlichen Kulturen bewegte, nämlich zwischen NYC als urbanem Raum und der spanischsprachigen Karibik. So wurden Dutzende verschiedene Latino-Musikstile mitgebracht und in der Stadt miteinander verschmolzen.
Salsa mag vielen Menschen als ein Musikgenre erscheinen, in dem ausschließlich spanisch gesungen wird, doch seine Wurzeln sind deutlich vielfältiger. Viele Latino-Bands starteten tatsächlich mit Aufnahmen auf Englisch – und teilweise in anderen Latino-Genres als Salsa.
Willie Colóns erstes Album, El Malo, das er im Alter von 16 Jahren aufnahm, enthält beispielsweise Lieder, die auf Englisch gesungen werden und Boogaloo-Rhythmen aufweisen, die von schwarzen R&B-Musikern populär gemacht wurden. Die Hermanos Lebrón wurden in Puerto Rico geboren, wuchsen aber in East Williamsburg, Brooklyn, auf. Sie nahmen 1967 ihr erstes Album Psychedelic Goes Latin und 1968 ihr zweites, Brooklyn Bums, auf. Die Band begann als eine von Motown inspirierte Soulgruppe. 1970 veröffentlichten sie Salsa y Control, einen der ersten Songs, in dem der Begriff »Salsa« verwendet wurde. Das Lied wurde zum Hit in ganz Lateinamerika. In den 1970er Jahren gründeten Eddie und Charlie Palmieri das radikal-innovative Kollektiv Harlem River Drive, das Latin-Stile, Soul und Free Jazz zusammenbrachte.
Henry Fiol, einer der bekanntesten Salsa-Sänger, wurde als Sohn eines puertoricanischen Vaters und einer italienisch-amerikanischen Mutter geboren und wuchs in den Jacob Riis Houses in der Avenue D auf. Die 1949 als Arbeiterwohnungen errichteten Jacob Riis Houses (benannt nach dem Fotografen, der die Slums und Mietskasernen der Innenstadt um die Jahrhundertwende dokumentierte) bestehen aus 13 Gebäuden, von denen viele bis zu 14 Stockwerke hoch sind und sich über insgesamt sieben Blocks erstrecken. Diese riesige Wohnanlage ist einer der wenigen Gründe dafür, dass die Latino-Kultur in der Lower East Side auch heute noch überleben kann. Sie wirkt fast wie eine Mauer, die die weiß geprägte Welle der Gentrifizierung davon abhält, bis zum East River vorzudringen.
Für viele ist ein Akronym gleichbedeutend mit New Yorker Punk: CBGB. Der Club wurde 1973 ursprünglich als Biker-Bar in der Lower East Side gegründet (gleich um die Ecke vom Hauptquartier der Hell’s Angels). Zunächst war das CBGB ein Musiklokal für Country, Bluegrass und Blues – daher die Abkürzung. Ein Jahr später jedoch wurden verstärkt lokale Rockbands gebucht und sich im Laufe der Zeit immer weiter in Richtung der neuen kulturellen Welle »Punk« orientiert. Suicide, die Ramones, die Cramps, Television, Mink DeVille, Richard Hell und Patti Smith wurden zu musikalischen Stammgästen und machten das CBGB als »Home of Punk« bekannt.
Normalerweise bildet eine einzelne Bar oder auch eine Gruppe von Bars und Musiklokalen kein eigenes musikalisches oder kulturelles Ökosystem; das geschichts- und kulturreiche Viertel Lower East Side jedoch schon: In den frühen 1970er Jahren lebten die Punkmusiker in den billigen Mietshäusern des Viertels, aßen preisgünstiges osteuropäisches, karibisches und asiatisches Einwandereressen, tranken in Absteigekneipen und informierten sich in den örtlichen Secondhand-, Buch- und Plattenläden sowie Revival-Kinos über neue Trends.
Der anarchistisch und von Anfang an aggressiv gegenkulturell geprägte Punk scheint im Gegensatz zu Salsa und Rap nicht aus einer lokalen Community und schon gar nicht aus einer ethnischen Kultur heraus entstanden zu sein. Tatsächlich aber stand die frühe Punkszene einer historischen Kultur der Lower East Side sehr nahe: die der jüdischen Einwanderer und Arbeiter.
Viele derjenigen, die den wütend-rumpeligen Sound und die Arbeiterklassen-Attitüde des späteren Punks prägten, waren jüdischer Herkunft. Lewis Allan (Lou) Reed, Alan Vega (Boruch Alan Bermowitz) von Suicide, Joey (Jeffrey Hyman) und Tommy (Erdélyi) von den Ramones, Richard (die »Geheimwaffe« Handsome Dick Manitoba) Blum von den Dictators, der Gitarrist der New York Dolls, Sylvain Sylvain (Sylvain Mizrahi), die Gitarristen und Komponisten Lenny Kaye von der Patti Smith Group sowie Chris Stein von Blondie und auch der Besitzer des CBGB selbst, Hilly (Hillel) Kristal, waren allesamt Jüdinnen und Juden. Lester Meyers, alias Richard Hell, der Autor der Punk-Hymne Blank Generation und der Mann, der den Style mit zerschlissenen T-Shirts, Sicherheitsnadeln und Stachelhaaren als Symbole des Punk populär machte, war Halbjude.
»So wie die Komiker Pigmeat Markham und Rudy Ray Moore eine ganze Generation von Rappern und Hip-Hop-Musikern beeinflussten, waren jüdische Comedians wie der großmäulige Sozialkritiker Lenny Bruce ein wichtiger Einfluss auf die frühen Punkrocker in New York.«
Über hundert Jahre lang gab es in der Lower East Side die weltweit größte Dichte an jüdischen Künstlern, Schriftstellerinnen, Schauspielerinnen, Komikern und Musikerinnen. Punkrocker waren die neue Generation der jüdischen »Sonderlinge« im Viertel; sie folgten auf die skandalumwitterten Dichter, alkoholkranken Komiker, angezündeten Junkies und romantischen Selbstzerstörer, von denen viele in denselben schmutzigen alten Mietskasernen lebten wie ihre Eltern und Großeltern. Es gab kaum religiöse Bindung an das Judentum. Vielmehr wurde das Erbe eines speziell jüdischen Sarkasmus und ironischen Humors zelebriert, ebenso wie die radikale Kulturgeschichte der jüdischen Arbeiterklasse. Aus der Melange ging ein wichtiger Teil der amerikanischen Punkmusik, -ästhetik und -kultur hervor.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten bereits schillernde Persönlichkeiten wie die Anarchistin Emma Goldman mit ihren radikalen Ideen von ungebundenem Sex und Arbeiterrechten als auch der Revolutionär Leo Trotzki, der seine Zeitschrift Novy Mir im Viertel herausgab, in den jüdischen sozialen und kulturellen Kreisen der Lower East Side verkehrt. In den 1960er und frühen 70er Jahren lebten und arbeiteten die Yippies (Youth International Party oder Youth in Protest) unter der Federführung von Abbie Hoffman und Jerry Rubin, Tuli Kupferberg – das dichtende anarchistische Mitglied der Musikgruppe The Fugs und Herausgeber der Zeitschrift Fuck You – sowie der schwule, antiimperialistische Dichter Allen Ginsberg (ein Vorbild für viele spätere Punkmusiker) im Viertel.
Darüber hinaus wurden viele Juden aus der Arbeiterklasse der Lower East Side (und anderen jüdischen Vierteln der Stadt) weltweit als Standup-Comedians berühmt, die sich auf den bereits erwähnten Klugscheißer-Sarkasmus und bissige Ironie spezialisierten. So wie die Komiker Pigmeat Markham und Rudy Ray Moore eine ganze Generation von Rappern und Hip-Hop-Musikern beeinflussten, waren jüdische Comedians wie der großmäulige Sozialkritiker Lenny Bruce ein wichtiger Einfluss auf die frühen Punkrocker in New York. Wie die jüdischen Komiker vor ihnen gaben sich auch die Punks nichtjüdische Namen, die vermeintlich cool waren und mehr Street Credibility versprachen (und sie für ein breiteres, weißeres Publikum attraktiver machten). Und: Wie so viele jüdische Comedians der alten Schule hatten auch viele Punkmusiker mit Drogenmissbrauch zu kämpfen und starben nicht selten jung.
Frühe Rap-, Salsa- und Punkmusiker galten als Teil der Counterculture, in gewisser Hinsicht antikapitalistisch, in jedem Falle »anti-corporate«. Die Wurzeln in und Beziehungen zu den Straßen und toughen Nachbarschaften wurden auch dann noch betont und gepflegt, als die jeweiligen Karrieren an Schwung aufnahmen. Tatsächlich spielten Gangs eine wichtige Rolle bei der Entstehung eines Großteils der besten Musik aus NYC in den 1970er Jahren. Afrika Bambaataa war Mitglied der Black Spades, einer Gang, die in den späten 1960er Jahren in den Sozialwohnungen der Bronx entstand und sich auf andere US-Bundesstaaten ausdehnte. Viele Mitglieder dieser Gang wurden später Teil von Bambaataas Zulu Nation mit seinen Graffiti-Künstlern, Breakdancern, Rappern und DJs.
Frühe Salsa-Musiker in New York pflegten ebenfalls ihre Beziehungen zur Straße und zu Gangs (wie man in Willie Colóns frühen Alben El Malo, The Hustler und Lo Mato hören kann). Joe Bataan, ein schwarzer Filipino, der in East Harlem aufwuchs und Boogaloo, Soul und Salsa kombinierte, war eine Zeit lang Anführer der Latino-Straßengang Dragons. Viele Salsa-Musiker stiegen derweil in den Reihen der Young Lords auf, einer überwiegend puertoricanischen Organisation nach dem Vorbild der Black Panthers und der damals größten Latino-Gang in NYC. Einer der Gründer der Young Lords in der Stadt war der Musiker, Lyriker und Journalist Felipe Luciano, der auch ein Gründungsmitglied der Protorapper The Last Poets war – und mit seiner wöchentlichen Radiosendung City Rhythms ein wichtiger Förderer der Salsa-Musik.
»Die frühen Salsa-, Hip-Hop- und Punk-Künstler standen für den Gegenentwurf zu einer von Mainstream und Kommerz kontrollierten Kultur.«
Mehrere frühe Punkmusiker stammten ebenfalls aus den harten Arbeitervierteln von New York. Ähnlich wie jüdische Mafiosi und Kriminelle, die einst in der Lower East Side und in Brooklyn aktiv waren, pflegten die Punks einen aggressiven Street-Look. Sie übernahmen oft die zurückgegelten Pomade-Frisuren und Lederjacken der italienischen, jüdischen und Latino-Gangs der 1960er Jahre.
Die frühen Salsa-, Hip-Hop- und Punk-Künstler standen für den Gegenentwurf zu einer von Mainstream und Kommerz kontrollierten Kultur. Rapper und DJs wurden nicht selten wegen Urheberrechtsverletzungen verklagt; Salsa-Musiker wurden beschuldigt, den Son und andere lateinamerikanische Musikarten zu stehlen, die in der US-Musikindustrie bereits recht bekannt geworden waren; und Punks galten ohnehin als Gegenpol zur Vorstellung der großen Konzerne, dass Musiker professionell sein müssten (oder gar wissen, wie man ihre Instrumente spielt). Die meisten passten schlichtweg nicht zu den großen Plattenfirmen und Studios.
In diesem Sinne können diese NYC-Musikgenres als Angriff auf die Selbstgefälligkeit der Mainstream-Musikindustrie gelesen werden. Viele frühe Rap-Acts wie Public Enemy knüpften darüber hinaus an die radikale Tradition afroamerikanischer Redner, Agitatoren und revolutionärer Schriftsteller wie Malcom X, die Black Panther, die bereits erwähnten Last Poets (die aus einem 1967 in East Harlem gegründeten Schreib-Workshop hervorgegangen waren) und Gil Scott-Heron an.
Bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert hatten radikale Latino-Dichter und -Schriftsteller New York City zu ihrer neuen Heimat gemacht. José Martí, der große Dichter und kubanische Freiheitskämpfer, lebte die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens in der Stadt, ebenso wie der puertoricanische Sänger, Antiimperialist und Unabhängigkeitsaktivist Daniel Santos. Ihre Tradition wurde von jungen Musikern fortgeführt. Das Nuyorican Café wurde 1973 in der Lower East Side gegründet, unter anderem vom Filmemacher und Schriftsteller Miguel Piñero (Short Eyes) und dem Dichter Pedro Pietri. Es wurde zu einem wichtigen Zentrum für Latino-Theater und Poetry Slams.
Zu Beginn der 1980er Jahre erholte sich die US-Wirtschaft von der Rezession der 70er. In diesem Zuge tauchten auch in New York immer mehr neue, höherpreisige Immobilienangebote auf, die nun auch tief in die alten Einwanderer- und afroamerikanischen Viertel der Stadt vordrangen. Die erwähnte »Grenze« entlang der 114th Street wurde durchbrochen und die Lower East Side im Eiltempo gentrifiziert. Die in die Höhe schießenden Mieten machten es für Musiker und Künstlerinnen fast unmöglich, dort weiterzuleben. Touristinnen und Touristen aus aller Welt strömten plötzlich in die ehemals verrufenen Straßen des Viertels.
Die revolutionäre Rhetorik und harten Rhythmen des Salsa Duro wichen den zuckersüßen, kommerzielleren Klängen des Salsa Romántica oder Salsa de alcoba (Schlafzimmer-Salsa); Rap mit Bezug zum Ghetto verwandelte sich in im wahrsten Sinne des Wortes »hippen« Hip-Hop oder durchkommerzialisierte »Gangsta«-Musik; und der frühe Punk wurde in der öffentlichen Wahrnehmung und im kommerziellen Sinne rasch von New Wave überholt.
Bands wie die Talking Heads, The Cars und Devo sowie die englischen Künstler Elvis Costello und The Police hatten schon Mitte der 70er Jahre die Bühne im CBGB mit Old-School-NYC-Punkbands geteilt. New Wave hatte aber wenig gemein mit dem rough-aggressiven und schepperndem Punk – und praktisch gar keine Verwurzelung in Downtown New York. Anders als Jazz, Funk, Disco, Rap, Salsa oder Punk wurde die New Wave-Szene hauptsächlich von weißen Musikern der Mittel- und Oberschicht aus den Vorstädten und aus Europa geprägt. Diese waren nach New York City gekommen, nachdem sie ihren Abschluss an privaten Kunsthochschulen gemacht hatten; sie waren bestens auf die Erwerbsarbeit in der Kulturindustrie vorbereitet. Viele New Wave-Musiker feierten mit großen Plattenfirmen im Rücken internationale Erfolge in Ausmaßen, die die meisten der antisozial auftretenden, drogensüchtigen Punkbands aus der Arbeiterklasse niemals erreichen konnten.
»Mit dem Ende der klassischen Arbeiterviertel hat die Musikkultur in New York City ihre Wurzeln auf den harten Straßen und in den lokalen Communities verloren.«
Musik stiftet in vielen Städten Identität. 50 Jahre nach ihrem Aufkommen auf den Straßen New York Citys stehen Salsa, Hip-Hop und Punk für viele Menschen in der Welt nach wie vor für diese Stadt. Das schlägt inzwischen auch im offiziell-kommunalpolitischen Bereich durch: Die Bowery an der 2nd Street wurde zum Joey Ramone Place, die 205th Street in Queens zum Run DMC JMJ Way, die East 110th Street und die 5th Avenue zum Tito Puente Way; und vor kurzem wurde die Kreuzung Ludlow/Rivington Street zum Beastie Boys Square umbenannt.
Leider sind dies nicht mehr als weitgehend bedeutungslose Hinweise auf ein kulturelles Erbe und die Geschichte einer Arbeiterklasse, die fast vollständig durch Immobilienspekulation und Gentrifizierung verdrängt wurde.
Mit dem Ende der klassischen Arbeiterviertel hat die Musikkultur in New York City ihre Wurzeln auf den harten Straßen und in den lokalen Communities verloren. Diese hatten von Anfang an als Inspiration für die Rhythmen, die Texte, die Attitude und die Durchschlagskraft der Musik gedient. Die großflächige Verdrängung von jüdischen, lateinamerikanischen und afroamerikanischen Menschen aus der Arbeiterklasse – also den Einwanderern und Minderheiten, die im späten 20. Jahrhundert am meisten zur künstlerischen und musikalischen Identität New Yorks beigetragen haben – war ein schwerer Schlag für das kulturelle Gefüge der Stadt.
Heute müssen sich Musikerinnen und Musiker aus der Stadt auf dem freien Markt behaupten; sie müssen global funktionierende »Produkte« auf den Streaming-Plattformen anbieten. So ist eine zunehmend seelenlose, in gewisser Weise »stadtlose« Welt entstanden, in der Hits so schnell kommen und gehen, dass sie kaum noch zu einem neuen Genre zusammenwachsen können – geschweige denn zu einer eng geknüpften, auf der lokalen Community aufbauenden und in ihr florierenden DIY-Musikkultur.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus In the Belly of Two Beasts, eine bisher unveröffentlichte Sammlung autobiografischer Essays zu den Städten New York und Mexico City.
Kurt Hollander ist Autor und Fotograf aus New York City. Von 1983 bis 1991 war er Redakteur beim Kunst- und Kulturmagazin The Portable Lower East Side. Er lebt derzeit in Cali, Kolumbien.