08. Dezember 2022
In Chile sollte eine neue Verfassung das Erbe Pinochets brechen. Doch Millionen von Menschen, die durch sie ermächtigt werden sollten, lehnten den Entwurf ab.
Als sich Fake News verbreiteten, steigerte sie ihr Moralisieren in eine frenetische Zurückweisung »postfaktischer Politik«.
Chile hat seine seltene Gelegenheit für einen grundlegenden Wandel verpasst. Nachdem ein Massenaufstand die Politik gezwungen hatte, auf die Forderung nach einem Verfassungskonvent einzugehen und eine neue Linke die Präsidentschaft errang, stimmten die Chileninnen und Chilenen am 4. September 2022 entschieden gegen die neue Verfassung, die als die progressivste der Welt galt. Das Referendum fiel auf denselben Kalendertag, an dem das Land einst für Salvador Allendes Weg zum Sozialismus gestimmt hatte.
Bis vor kurzem schien es noch so, als habe sich die chilenische Bevölkerung einem radikalen Reformkurs zugewandt. Nachdem sie gegen den Neoliberalismus rebelliert hatte, forderte sie in einem Plebiszit im Oktober 2020 mit überwältigender Mehrheit, dass eine völlig neu gewählte Versammlung ihre Verfassung neu schreiben sollte. Ein trotziger Optimismus hielt noch Monate später an, als die neu gegründete Wahlkoalition Apruebo Dignidad von Gabriel Boric, der bald darauf Präsident werden sollte, bei den Wahlen zum Verfassungskonvent fast ein Fünftel der Stimmen erhielt und eine Gruppe von Autonomen, die an vorderster Front des Aufstands Berühmtheit erlangt hatten, sechs weitere Sitze gewann.
»Stimmen aus dem Establishment behaupten, die Ablehnung beweise, dass die Chileninnen und Chilenen ein politisch gemäßigtes Volk seien und zum seit 1990 herrschenden progressiven Neoliberalismus zurückkehren wollten.«
Seitdem ist die gute Stimmung abgeflaut. Zwar trug Boric bei der Stichwahl einen klaren Sieg davon, jedoch war er im ersten Wahlgang mit nur 25 Prozent auf Platz zwei gelandet. Da seine Zustimmungswerte kurz nach seinem Amtsantritt als Präsident einbrachen, galt die neue Verfassung als entscheidend für sein Reformprogramm. Wie kommt es, dass Chiles politische Revolution auf einmal in Gefahr ist?
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René Rojas ist Soziologe, Professor an der State University of New York Binghamton und Redakteur bei »Catalyst«.