23. Januar 2025
Der Dokumentarfilm »No Other Land« des palästinensisch-israelischen Filmemacherduos Basel Adra und Yuval Abraham ist für den Oscar nominiert. Zu Recht – denn der Film gibt der Realität der Besetzung des Westjordanlands ein Gesicht.
Wenn der Konvoi in der Ferne auftaucht, gibt es Stress für die Bewohner der Ortsgemeinschaften von Masafer Yatta. Bulldozer, PKWs, Militärfahrzeuge. Sie gehören zum Fuhrpark der israelischen Armee, die hier im Gouvernement Hebron, das zum sogenannten De-facto-Staat Palästina gehört, seit zwanzig Jahren einen illegalen Vernichtungsfeldzug gegen die palästinensische Gemeinde führt. Illegal hin oder her – alles wird sich erlaubt: Zerstörung intakter bewohnter Häuser, körperliche Drangsalierung, schwerste Körperverletzung und Mord. Nichts davon, was in Masafer Yatta geschah, wurde je vor einem Gericht angeklagt, geschweige denn bestraft.
Aber einer von ihnen hat es gefilmt. Der heute etwa 25-jährige Basel Adra, Palästinenser, Jurist, Aktivist. Basels Familie lebte in Masafer Yatta, in der weitläufigen Landschaft der Hebronhügel, seit den 1830er Jahren. Hier ist Basel aufgewachsen. Es war keine friedliche Kindheit. Im Gegenteil: Sie war geprägt von der Gewalt der israelischen Besatzung.
»Ich bin fünf«, erzählt er zu Beginn des Films No Other Land, dazu körnige Aufnahmen von vor zwanzig Jahren, verwaschene Farben, ein kleiner Junge mit großen runden Augen, Basels Augen. Seine allererste Kindheitserinnerung ist ein grelles Licht, das ihn aufweckte. Das Kind schaut auf die israelischen Soldaten, die damals leichter gekleidet waren als heute, aber nicht weniger hart. Heute, das sehen wir in den Aufnahmen der 2020er Jahre, tragen die Israelis gepanzerte Uniformen, Helme und sind bis an die Zähne bewaffnet.
Was macht so eine Kindheit unter ständiger Gewalt und Bedrohung mit einem Menschen? Basel ist Aktivist geworden. Schon sein Vater war einer. Basel wird in dem Film als jemand gezeigt, der keine Angst hat. Angst ist etwas, das er sich nicht leisten kann. Er filmt die Soldatinnen und Siedler offen, wenn sie kommen. Er weiß, dass sie seinen Namen kennen. Irgendwann suchen sie ihn, um ihn zu verhaften. Aber Basel kann nicht anders, als zu filmen und die Filme in die sozialen Netzwerke zu stellen.
»Die Gewalt macht die Herzen hart, sagt Yuval einmal im Interview. Nur eine Politik des Austauschs könne die Spirale stoppen.«
Es gibt auch Momente der Entspannung in der Gemeinde. Gespräche, Essen und Trinken am offenen Feuer, am Abend. Dann sitzen Männer und Frauen neben der Tankstelle von Basels Vater, lachen, reden, die Kinder mittendrin. Im Schutz der Dunkelheit spürt die Gruppe ihre Stärke, ihren Zusammenhalt und wieder das, was sie als Dorf ausmacht.
Dann wieder das Tageslicht, der Lärm, die Angst, wenn die israelischen Bulldozer kommen. Wenn die palästinensischen Kinder sich hinter den Körpern der Erwachsenen verstecken und die Frauen schreien und die Männer in ihrer leichten Kleidung ganz dicht an die schwer bewaffneten Soldaten herantreten. In der Ferne sieht man, wie israelische Reihenhäuser sich immer weiter in die Landschaft fressen, sogenannte Siedlungen, illegaler Landraub, von niemandem aufgehalten, flankiert vom Militär.
Einmal im Film traut sich ein palästinensischer Bauernjunge, noch halb Kind, und stellt sich vor die Soldaten, schreit sie an. Einen Mann hätten die Soldaten einfach umgeworfen und getreten, bei dem Jugendlichen entscheidet sich einer für eine andere Methode. Er nimmt den Jungen bei den Schultern, drückt ihn eisenhart nieder, bis er sitzt und sagt zu ihm, fast väterlich: »Du rührst dich hier nicht weg, verstanden?« Der Junge sagt nichts mehr, schluckt den Zorn hinunter. Er weiß, er soll wissen: Noch eine Bewegung und wir verletzen dich, töten dich, wenn nötig. Also bleib ruhig. Ein anderes Mal tritt eine Frau vor die Schwerbewaffneten und fragt sie, wohin sie denn bitte gehen sollen? »Wir haben kein anderes Land«, sagt sie und gibt dem Film seinen Titel.
Diese taghellen, gefährlichen Situationen erzählt der Film hautnah, wir sind als Zuschauende im Sog der Ereignisse, mit Basels Digitalkamera, mit seinem Smartphone. Oft wird Basel gerufen, wenn Soldaten sich einem Anwesen nähern. Dann kommt er, schon filmend, angefahren, angerannt, erklettert die Hügel, wir hören Basels Atem, sein Keuchen, seine zornigen Kommentare, seine Zeitnot: nur möglichst viel dokumentieren, viel aufnehmen, als Beweis – wenn schon nicht für ein Gericht, dann wenigstens für die Welt.
Jedes Mal kann Basel oder jemand von den Dorfbewohnern verhaftet, verletzt, getötet werden. Irgendwann nehmen sie wieder Basels Vater mit. Das ist Psychoterror, sie zeigen ihre Macht, wir sollen Angst haben, kommentiert Basel. Immer wieder kommen sie, immer wieder schreckt das Publikum im Kino mit hoch, wird Zeuge der Gewalt. Wieder wird ein Haus niedergerissen – zuvor korrekt, beinahe höflich geräumt – wieder Ställe zerstört und einmal ein Mann, Harun, der sich das nicht gefallen lassen will, so schwer angeschossen, dass er querschnittsgelähmt bleibt, seither ohne medizinische Behandlung und verzweifelt gepflegt von seiner Mutter. Harun wird noch vor dem Ende des Films sterben.
»Diesem Film ist es zu verdanken, dass der Name Masafer Yatta heute ein Begriff in der Welt ist.«
Einmal sitzen Kinder beim Unterricht in einer kleinen Schule. Die Schule wurde einst von den Eltern für ihre Kinder gebaut, auch Basel hat dort gelernt, wie alte Aufnahmen zeigen. Aufmerksam hören die Kinder auf die Lehrerin. Plötzlich Schreie von draußen, durch das Fenster sieht man heranrückende israelische Soldaten. Das Erschrecken der Kinder, hastig werden bunte Bälle zusammengesammelt, Schulmaterial, Bänke und Stühle nach draußen geschafft. Wieder, mit gespenstischer Ruhe, »bitten« die Soldaten um das Verlassen des Gebäudes. Dann vor den Augen der Kinder und Lehrenden der Abriss. Ein halbwüchsiges Mädchen flüstert fassungslos, will schreien, jemand hält sie fest. Es ist einer der bewegendsten, der schmerzlichsten Momente des Films.
Der Film macht die Strategie der Besatzer sichtbar. Im Kern geht es um die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung von ihrem angestammten Grund und Boden, von ihrem Lebensunterhalt mittels Viehzucht und Feldanbau. Es geht darum, sie in die überfüllten Städte, in die Niedriglohnsektoren zu verfrachten, es geht um Landnahme, Geopolitik, Profit. Aber die Gemeinde von Masafer Yatta geht nicht so leicht, flüchtet mit ihrer restlichen Habe vorerst in die alten Höhlen, nimmt Kälte, Enge, Dunkelheit in Kauf. Hauptsache hierbleiben, im Land der Vorfahren, in der Natur, unter dem eigenen Himmel.
No Other Land ist auch die Geschichte einer Freundschaft, die eigentlich unmöglich ist, weil die Lebensbedingungen der beiden Beteiligten nicht gleichberechtigt sind. Basel Adra trifft den jüdischen Israeli Yuval Abraham – einen von der anderen Seite, von jenseits der Mauer. Yuval ist Journalist, der die Vorgänge selbst vor Ort sehen und darüber für die israelische Presse berichten will. Und der sich dem Kampf der Bevölkerung gegen ihre Vertreibung anschließt.
Vor laufender Kamera wird Yuval von einem Landsmann mit rosa Sonnenbrille, so einer Art Prokurist der Zerstörung, bedroht. »Du bist Jude, und du hilfst denen?«, fragt dieser drohend und fügt hinzu: »Wir wissen, wer du bist. Wir wissen, wo du wohnst.« Aber wie Basel kann auch Yuval nicht anders. Die Gewalt macht die Herzen hart, sagt Yuval einmal im Interview. Nur eine Politik des Austauschs könne die Spirale stoppen.
Die Freundschaft von Basel und Yuval ist allein schon eine Art Widerstand, ist ein Trotzdem gegen widrige Umstände, eine reale Utopie. Basels und Yuvals optische Ähnlichkeit mit Kurzbart, dunklen Haaren, großen Augen, jungenhafter Schlaksigkeit lässt an ein Brüderpaar denken. Zwei Brüder aus zwei Welten. Ihre ungleichen Lebenssituationen sind immer wieder Thema zwischen ihnen. Abends, in den seltenen ruhigen Momenten, rauchend, Basel seine Shisha und Yuval seine Zigarette, sprechen sie darüber. »Stell dir vor, wenn du mich eines Tages besuchst so wie ich dich jetzt«, sagt Yuval zu Basel. Der lächelt, müde. Ja, wenn die Besatzung nicht wäre und nicht die Mauer, nicht die Checkpoints, durch die nur israelische Nummernschilder kommen, nicht die ständigen Belästigungen der Militärs, nicht die Drohungen, die Bulldozer, die Waffen. Dann wäre Basel frei wie Yuval. Nachtträume, die jeden Tag wieder zerstört werden.
Der Schluss des Films wurde erst nach der Ermordung und der Geiselnahme israelischer Zivilistinnen und Armeeangehörigen durch die Hamas am 7. Oktober 2023 gedreht. Die Aggressivität der Besatzerinnen und Siedler hat zugenommen, eskaliert noch schneller. Vor der laufenden Kamera des atemlosen Basel wird sein Cousin von einem Siedler erschossen. Der Soldat daneben: untätig.
Die Förderung für das Filmprojekt kam vom kalifornischen Sundance Institute und aus Norwegen. Buch und Regie bewerkstelligte ein real-utopisches Kollektiv: Die beiden Palästinenser Basel Adra und Hamdan Ballal und die beiden Israelis Yuval Abraham und Rachel Szor schufen diesen erschütternden, aufrüttelnden, hautnahen Film. Diesem Film ist es zu verdanken, dass der Name Masafer Yatta heute ein Begriff in der Welt ist, dass die Vernichtung palästinensischer Lebensräume ein Gesicht bekommen hat.
An Auszeichnungen gab es den Preis für den besten Dokumentarfilm auf der Berlinale 2024 und den European Award für die beste Dokumentation 2024. Der Film lief in vollen Sälen. Der Eklat auf der Berlinale um den angeblichen »Antisemitismus« des Filmkollektivs war eine Inszenierung namhafter Vertreterinnen und Vertreter deutscher Politik und Medien, die sich dann wenigstens nicht mehr mit dem Inhalt des Films beschäftigen mussten. Auch Erschütterung kann man verlernen.
Angelika Nguyen Autorin, Kuratorin und Filmjournalistin.