28. August 2023
Zwanzig Jahre nach der Invasion im Irak erklärt Noam Chomsky, wie der Krieg nachträglich in eine humanitäre Intervention umgedeutet wurde.
Noam Chomsky bei einer Pressekonferenz der Vereinten Nationen im Jahr 2014.
IMAGO / Future ImageEs sind jetzt zwanzig Jahre seit dem Beginn des Kriegs im Irak vergangen. Wie hat sich der Krieg auf die US-Öffentlichkeit und -Kultur ausgewirkt?
Der Irakkrieg wurde problemlos in das System einer mächtigen Doktrin absorbiert. Diese Entwicklung bestätigt, was George Orwell vor achtzig Jahren bemerkte, nämlich dass in freien Gesellschaften unbequeme Fakten auch ganz ohne Gewaltanwendung unterdrückt werden können. Zwanzig Jahre nach Kriegsbeginn hat man es schwer, im Mainstream auch nur einen Satz zu finden, der das Offensichtliche aussagt: Die Invasion des Iraks durch die USA und Großbritannien ist das schlimmste Verbrechen des laufenden Jahrhunderts – ein Verbrechen, für das Nazis in Nürnberg gehängt worden wären. Ja, man hört keinen einzigen Satz, der auch nur zugibt, dass der Krieg überhaupt ein Verbrechen war. Der Krieg wurde umgedeutet in einen wohlwollenden Versuch, das irakische Volk von einem schrecklichen Diktator zu befreien und ihm das Geschenk der Demokratie zu bringen; und dieser Versuch sei leider gescheitert.
Einige unbequeme Fakten, die sich leicht verdrängen lassen, werden einfach nicht erwähnt. Zum Beispiel, dass die USA zuvor Saddam Hussein unterstützen, als er seine schlimmsten Verbrechen verübte, sogar während des Giftgas-Massakers von Halabdscha im Jahr 1988. Diese Liebesbeziehung hielt bis in die erste Bush-Regierung hinein an, die sogar noch eine hochrangige Senatsdelegation entsandte, um Saddam die guten Wünsche des Präsidenten zu übermitteln und ihm mitzuteilen, dass er die Kritik der offensichtlich außer Kontrolle geratenen US-Presse ignorieren solle.
George H. W. Bush lud sogar irakische Nuklearingenieure in die USA ein, um sie in der Waffenproduktion weiterzubilden. Eine weitere unbequeme Tatsache ist, dass das Demokratie-Narrativ erst erfunden wurde, nachdem das, was man zuvor als »die einzige Frage« bezeichnete – nämlich ob der Irak seine Massenvernichtungswaffenprogramme aufgeben würde – die falsche Antwort gefunden wurde: Sie existierten überhaupt nicht.
Barack Obama nannte den Krieg »einen strategischen Fehler« und ahmte damit russische Generäle nach, die ihre Invasion in Afghanistan mit denselben Worten kommentiert hatten. Die Verbrechen sind offenbar so leicht zu akzeptieren, dass die Universität Harvard eine von [der ehemaligen Kriegsberichterstatterin und späteren UN-Botschafterin der USA] Samantha Power moderierte Debatte darüber abhalten konnte, ob der Irakkrieg als humanitäre Intervention zu werten sei. Das sei er, meinte zumindest der Diskussionsteilnehmer Michael Ignatieff, Ex-Chef des Harvard Center for Human Rights. Kenneth Roth, der ehemalige Direktor von Human Rights Watch, wurde dafür gelobt, dass er mutig die Ansicht vertrat, die Intervention habe diesen hohen Status nicht erreicht. Man male sich die Reaktion aus, wenn an der Moskauer Staatsuniversität in dieser Weise über die »Spezialoperation« in der Ukraine diskutiert würde.
Der Gipfel der Abscheulichkeit war wohl erreicht, als die US Navy eine der schlimmsten Gräueltaten des Krieges würdigte und ihr neuestes Angriffsschiff auf den Namen USS Fallujah taufte. Die Menschen im Irak waren not amused, aber ihre Meinung ist ohnehin eine weitere dieser unbequemen Tatsachen, die man leicht ignorieren kann.
»5 Prozent der Irakerinnen und Iraker meinen, die USA seien einmarschiert, um dem Irak zu helfen. Die übrigen 95 Prozent haben sich wohl umgeschaut und etwas anderes gesehen, nämlich Zerstörung.«
George W. Bush, der sich selbst zum Macher, zum »Decider« ernannt hat, wurde zwanzig Jahre nach Beginn seines »Krieges gegen den Terror« von der Washington Post interviewt – in der Rubrik »Style«. Er wurde als liebenswerter, »alberner Opa« dargestellt, der fröhlich mit seinen Enkeln spielt und dem ihn anbetenden Reporter die selbstgemalten Porträts von berühmten Menschen zeigt, die er getroffen hat. Es gab viele Reaktionen, zum Beispiel von Michelle Obama, die sagte: »Ich liebe ihn einfach. Er ist ein wunderbarer Mensch. Er ist ein lustiger Mann.«
Das alles sollte niemanden überraschen, der mit der Geschichte und Kultur der USA – oder mit der Geschichte ihrer historischen imperialen Vorgänger – vertraut ist.
In Deinem Buch Manufacturing Consent schreibst Du, dass Massenmedien – unter dem Druck des Marktes – faktisch als Propagandamaschine funktionieren. Wie zeigte sich das während des Irakkriegs?
Kurz vor Beginn des Krieges glaubten die meisten Menschen in den USA, Saddam Hussein sei irgendwie in die Anschläge vom 11. September verwickelt. Das war nicht nur falsch, sondern absurd: Hussein und Osama bin Laden waren erbitterte Feinde. Angesichts des Propaganda-Trommelfeuers ist diese Ansicht jedoch nachvollziehbar.
Die Propaganda brauchte es auch: Die USA standen mit ihrer Zustimmung zum Krieg fast alleine da. Die Reporter, die mit der Invasionsarmee vorrückten, berichteten mit größter Euphorie über die schnell geführte Shock-and-Awe-Kampagne im Irak. Norman Solomons Der unsichtbar gemachte Krieg gibt eine wirklich beschämende Kostprobe des Ganzen. Nachdem die Frage nach Massenvernichtungswaffen die falsche Antwort zutage gefördert hatte, hielt Bush eine leidenschaftliche Rede darüber, dass es von Anfang an sein Ziel gewesen sei, dem Irak die Demokratie zu bringen. Die Medienkommentare überschlugen sich wie üblich. Den Höhepunkt erreichte Thomas Friedman von der New York Times, als er vom »wichtigsten liberalen, revolutionären US-Projekt zum Aufbau der Demokratie seit dem Marshall-Plan« und »einem der edelsten Dinge, die dieses Land je im Ausland geleistet hat«, schwärmte.
Eine Gallup-Umfrage im Irak selbst zeigte, dass einige Menschen diese Ansichten der politischen Klasse und der Medien in den USA teilten: Ganze 5 Prozent der befragten Irakerinnen und Iraker meinten, die USA seien einmarschiert, um dem Irak zu helfen. Die übrigen 95 Prozent haben sich wohl umgeschaut und etwas anderes gesehen, nämlich Zerstörung, wie in Falludscha.
Welche Folgen hat der Irakkrieg für die heutige US-Außenpolitik?
Es wurden Lehren gezogen, die unterstützen, was man schon aus der US-Aggression in Indochina gelernt hatte. Auch das letztgenannte Verbrechen wurde trotz seines unglaublichen Ausmaßes leicht in die gängige Doktrin absorbiert. Am linken Ende des zulässigen Meinungsspektrums wurde der Vietnamkrieg in eine »fehlerbehaftete Bemühung, etwas Gutes zu tun« oder in ein Missverständnis über die »kulturellen und politischen Kräfte, die tatsächlich in der Region wirken« umgedeutet.
In den späten 1960er Jahren fiel die US-Invasionsarmee auseinander. Man muss das fast schon loben. Die Soldaten verweigerten Befehle und erschossen sogar Offiziere. Die USA lernten eine Lektion, die ihren imperialen Vorgängern vertraut war: Man kann nicht erwarten, dass eine Freiwilligenarmee einen Kolonialkrieg führt, in dem es täglich zu grausamen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung kommt. Was man dafür braucht, sind professionelle Killer, wie die französische Fremdenlegion. Im Irak verließen sich die USA daher auf »Contractors«, also Auftragnehmer, oder besser ausgedrückt: Söldner. Selbst das ging aber noch nicht weit genug. Neue Technologie bot eine bessere Lösung, nämlich das Töten durch Drohnen. Dies ging über den Irak und Afghanistan hinaus: Eine globale, ferngesteuerte Mordkampagne, die jeden, den das Oval Office für eine potenzielle Bedrohung der Sicherheit der USA hielt, ins Visier nahm – und natürlich auch die Unglücklichen, die sich zufällig in der Nähe befanden. Der Vorteil war klar: Man musste keine Soldaten vor Ort haben.
Eine andere Auswirkung ist, dass wir weiterhin in unserer Allmacht und unserer Herrlichkeit schwelgen. Auch das kennt man zur Genüge.
Du hast in der Vergangenheit immer wieder betont, die USA seien ein terroristischer Staat. Wie hat sich die Art dieses Staatsterrorismus verändert, seit Du das erste Mal in den 1980ern, vor Ende des Kalten Krieges, darüber schriebst?
Ich begann in den frühen 1980er Jahren, über Terrorismus zu schreiben, als die Reagan-Regierung den Krieg gegen den Terror zum Kernstück ihrer Außenpolitik erklärte. Dies war der erste globale Krieg gegen den Terror, den George W. Bush zwanzig Jahre später unter großem Beifall aufs Neue erklärte. Wie zu erwarten war, entwickelte dieser sich schnell zu einem großen globalen Krieg der USA gegen den Terrorismus, von Mittelamerika über den Nahen Osten bis nach Afrika. Das führte sogar zu einer Rüge des Internationalen Gerichtshofs gegen den US-Staatsterrorismus. Diese Einschätzung wurde natürlich vom selbsternannten Regelsetzer der »regelbasierten internationalen Ordnung« mit Verachtung zurückgewiesen. Unter dem Beifall der Medien, die das Gericht als »feindliches« und damit irrelevantes Gremium abtaten, ließen die USA den Terror weiter eskalieren.
Staatsterrorismus gehört seit der Gründung der Republik zum guten Ton. Damit folgte man dem von den ersten englischen Kolonisten eingeschlagenen Weg. Kurz nach der Unabhängigkeitserklärung nahm sich George Washington beispielsweise eine Auszeit vom Krieg gegen England, um die Irokesen »auszurotten«, als die sein großzügiges Angebot, ihr eigenes Land zu kaufen, ablehnten. Den Rest der Geschichte kennt man. Wie Ex-Präsident Jimmy Carter kürzlich bemerkte, gab es kaum einen Tag, an dem sich die USA nicht im Krieg befanden – und das war fast immer ein Angriffs- oder terroristischer Krieg.
»Wir sollen das vergossene Blut am Ergebnis messen – dem Ergebnis ›Demokratie‹, wie Ideologen es nennen. Diese Analyse obliegt natürlich ausschließlich uns, dem gütigen Wohltäter der Welt.«
Es gab »Spitzenzeiten«, wie in den 1980er Jahren, als in Ronald Reagans Terrorkrieg in Mittelamerika mehrere hunderttausend Menschen abgeschlachtet wurden, unter Einsatz aller erdenklichen Formen von Folter und anderen Gräueln. Das war Terrorismus ohne sonderlich viele US-Soldaten vor Ort. Die USA bildeten lediglich die jeweiligen staatlichen terroristischen Kräfte aus und bewaffneten sie, oder sie setzten umfangreiche Überwachungs- und Hochtechnologie ein, um es beispielsweise der terroristischen Contra-Armee zu ermöglichen, »weiche Ziele« in Nicaragua anzugreifen. Dabei konnte die nicaraguanische Armee, die die Bevölkerung verteidigte, umgangen werden, da die Terror-Armee den Anweisungen des US Southern Command folgte. Als diese terroristischen Gräueltaten von Menschenrechtsorganisationen verurteilt wurden, wurde dies in der liberalen US-Presse als über-emotional abgetan. Wir müssten eine Kosten-Nutzen-Analyse durchführen, mahnte der Herausgeber der New Republic, Michael Kinsley. Anders gesagt: Wir sollen das vergossene Blut am Ergebnis messen – dem Ergebnis »Demokratie«, wie Ideologen es nennen. Diese Analyse obliegt natürlich ausschließlich uns, dem gütigen Wohltäter der Welt.
Es gab Veränderungen – beispielsweise die angesprochene globale Tötungskampagne mit Drohnen, die von Barack Obama perfektioniert und von Donald Trump weiter ausgebaut wurde. Der grundsätzliche Tenor bleibt aber. Als Weltpatron hat Washington das Recht, auf Gewalt und andere Formen der Bestrafung inakzeptablen Verhaltens zurückzugreifen. Dazu gehört beispielsweise auch die Sünde der »erfolgreichen Missachtung« der US-Politik seit der Monroe-Doktrin – Kubas »schweres Verbrechen« seit 60 Jahren.
Inzwischen sind viele Menschen in den USA der Ansicht, der Irakkrieg sei nicht gerechtfertigt gewesen. Wer hat diesen Sinneswandel bewirkt: die Friedensbewegung, der irakische Widerstand gegen die Besatzung, oder etwas ganz anderes?
Ich würde das etwas anders sehen. Denn die öffentliche Meinung, beispielsweise in den Medien, bleibt bei der orthodoxen Doktrin: Der Krieg war ein »schlecht gelaufener Versuch, Gutes zu tun«. Der irakische Widerstand wurde und wird als Terrorismus angesehen. Deswegen sind wir eben manchmal gezwungen, mit »Terror gegen Terror« zu reagieren.
Es ist wichtig, noch einmal daran zu erinnern, dass die USA einem altbekannten Muster von Imperien folgen, das auf Zeiten lange vor ihrer Gründung zurückgeht. Der berühmte »amerikanische Exzeptionalismus« ist alles andere als exzeptionell.
Welche Lehren kann und sollte die Linke aus dem Irakkrieg ziehen, auch mit Blick auf aktuelle und zukünftig drohende gewalttätige Konflikte?
Wie gesagt: Eine Erkenntnis ist Orwells Botschaft, dass unbequeme Fakten in freien Gesellschaften ohne Gewaltanwendung vergessen gemacht werden können, solange Staat und Konzerne, die eng miteinander verbunden sind, auf eine gehorsame intellektuelle Community zählen können. Ein anderer Punkt ist hingegen, dass eine informierte und organisierte Öffentlichkeit sich von diesen Täuschungen der Machtsysteme lösen und etwas bewirken kann. Der Irakkrieg war schrecklich genug; aber es hätte noch schlimmer werden können, wie die ländliche Bevölkerung Südvietnams – das Hauptziel des US-amerikanischen Krieges – bezeugen können. Wir erinnern uns vielleicht daran, dass 1967 der angesehenste Vietnam-Historiker Bernard Fall davor warnte, dass sich angesichts des gewaltigsten militärischen Angriffs, der jemals gegen ein Gebiet dieser Größe geführt wurde, die kulturelle und historische Einheit der US-Gesellschaft möglicherweise auflösen könnte. Zu diesem Zeitpunkt, viel zu spät, entwickelte sich bereits die populäre Antikriegsbewegung. Daniel Ellsberg hat überzeugend dargelegt, dass diese Massenmobilisierung das Verbrecherduo Kissinger-Nixon sehr wahrscheinlich davon abgehalten hat, in Vietnam auf Atomwaffen zurückzugreifen.
Die Proteste gegen den Vietnamkrieg hätten jedoch schon viel früher beginnen müssen. Spätestens als John F. Kennedy 1961/62 den Krieg drastisch eskalierte, indem er die US-Luftwaffe (unter südvietnamesischer Flagge) zum Angriff auf Südvietnam schickte, Chemiewaffen zur Vernichtung von Ernte und Viehbestand einsetzen ließ, den Gebrauch von Napalm genehmigte und ein umfangreiches Programm zur Vertreibung von Bäuerinnen und Bauern in »strategische Viertel« startete, wo sie angeblich vor dem einheimischen Widerstand »geschützt« werden konnten. Dabei wussten die US-Geheimdienste natürlich, dass die Bevölkerung diesen Widerstand in Wirklichkeit unterstützte. Die Antikriegsbewegung hätte sogar schon ein Jahrzehnt früher entstehen müssen, als die USA die Entscheidung trafen, zur Unterstützung des französischen Imperialismus direkt zu intervenieren, und damit den Boden für die folgenden Gräueltaten bereiteten.
Der Einmarsch in den Irak war der erste imperiale Krieg, gegen den schon vor seinem offiziellen Beginn massiv protestiert wurde. Es ist gut möglich, dass dieser Widerstand der Bevölkerung der Gewalt der Aggressoren Grenzen gesetzt hat. Doch wie beim Vietnamkrieg hätte sich die Bewegung schon früher entwickeln müssen: Die USA quälen den Irak schon seit vierzig Jahren, ohne Unterbrechung.
Noam Chomsky ist emeritierter Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und zählt zu den bedeutendsten öffentlichen Intellektuellen der Gegenwart.