19. April 2022
Unsere moralische Empörung über Russlands brutalen Angriffskrieg sollte uns nicht dazu verleiten, die Augen vor offensichtlichen Tatsachen zu verschließen: Nur ein Deal mit Putin könnte den Krieg beenden.
Noam Chomsky zählt zu den bedeutendsten öffentlichen Intellektuellen der Gegenwart. In der Zeitschrift »Current Affairs« sprach er kürzlich über die Verhinderung eines Dritten Weltkrieges.
Eine Welle der Empörung ist über Noam Chomsky hereingebrochen, seit er in einem Interview mit Current Affairs eine Selbstverständlichkeit laut ausgesprochen hat: Ein Ende des Krieges in der Ukraine, welches die vollständige Zerstörung des Landes vermeidet, kann nur am Verhandlungstisch erzielt werden. »Wenn es um die militärischen Aktivitäten der USA geht, ist er ein Moralapostel, der vor Antiimperialismus trieft. In anderen Fällen ist er ein beinharter Realist, der den Opfern erklärt, wie die Welt nun mal funktioniert«, twitterte etwa der EU-Abgeordnete Reinhard Bütikofer von den Grünen.
Laut Chomsky gibt es nur eine plausible Alternative zu einem jahrelangen Krieg: Ein »hässlicher« Deal mit Putin, der einen militärisch neutralen Status des Landes sowie Autonomie- und Minderheitenrechte für den Donbass und eine internationale Anerkennung der Krim als russisches Territorium umfasst. Gerecht wäre das nicht, schließlich würde dadurch eine völkerrechtswidrige Annexion im Nachgang legalisiert und ein mörderischer Angriffskrieg durch einen Teilerfolg belohnt. Dies zu akzeptieren, wäre bitter. Doch die Hoffnung, es gäbe eine bessere Lösung für die Ukraine, ist eine gefährliche Illusion.
Die allermeisten seriösen Militarstrateginnen und Militärstrategen sind sich einig, dass weder die Ukraine noch Russland in absehbarer Zeit ihre maximalistischen Kriegsziele werden erreichen können: Die Ukraine wird weder den Donbass noch die Krim zurückerobern, und Russland wird es nicht gelingen, einen Regimewechsel in Kiew zu erzwingen oder große Teile des Landes zu besetzen. Selbst wenn Putin dabei wider Erwarten doch Erfolg haben sollte, würde ein langjähriger Guerillakrieg bevorstehen.
Aus dieser Einsicht folgt notwendigerweise, dass ein baldiger Frieden nur über einen für die Ukraine schmerzhaften Kompromiss erreicht werden kann. Unklar ist, ob Russland dazu gegenwärtig überhaupt bereit wäre. Aber gerade deshalb sollten sich Drittstaaten – und insbesondere NATO-Mitglieder – darauf fokussieren, beide Konfliktparteien für eine vertragliche Lösung zu gewinnen.
Über die Details eines möglichen Abkommens und über den Weg dorthin soll und muss gestritten werden – auch innerhalb der Linken. Es gibt zum Beispiel stichhaltige Argumente, die dafür sprechen, dass weitere Waffenlieferungen die Verhandlungsposition der Ukraine stärken könnten, gleichzeitig besteht aber auch das Risiko, dass sie den Konflikt verlängern. Fragen wie diese müssen auf Basis einer Gesamtschau der militärischen und diplomatischen Lage entschieden werden, welche selbstredend sehr unübersichtlich ist. Fehleinschätzungen sind dabei alles andere als unwahrscheinlich.
Ökonominnen und Ökonomen stehen vor einer komplexen Aufgabe, wenn sie nun Sanktionspakete zusammenstellen sollen, welche der Kriegswirtschaft und der Oligarchie maximal und der unbeteiligten Zivilbevölkerung minimal schaden – auf eine Handvoll Faustregeln lässt sich dies nicht herunterbrechen. Robuste Sicherheitsgarantien durch Drittstaaten sowie echte demokratische Souveränität und die Möglichkeit einer ungehinderten wirtschaftlichen Entwicklung – inklusive der europäische Integration, sollte sie gewünscht sein – wären Voraussetzung für eine friedliche Entwicklung der Ukraine. Die russische Regierung wird dies nur unter Schmerzen akzeptieren.
Wie Chomsky aber richtigerweise betont, haben westliche Regierungen – allen voran die der USA – eine solche diplomatische Lösung in den letzten Monaten nicht nachdrücklich verfolgt. Kritiker wie der frühere Botschafter Chas Freeman werfen der Biden-Regierung vor, den Krieg »bis zum letzten Ukrainer« weiterführen zu wollen. Die ehemalige US-Außenministerin Hillary Clinton spekulierte gar darüber, die Ukraine zu einem zweiten Afghanistan für Russland zu machen, um Putins Regime zu destabilisieren.
Eine solche Ukraine-Strategie des Westens wäre fatal, nicht zuletzt auch für die europäische Sicherheit, und Äußerungen wie diese sind moralisch ebenso verwerflich wie der hasserfüllte Revanchismus der Putin-Anhänger innerhalb und außerhalb Russlands. Die ukrainische Gesellschaft wird nur überleben, wenn ein jahrelanger Stellvertreterkrieg verhindert wird. Einfach wird das nicht, denn auf russischer Seite ist bislang kein Umdenken zu erkennen. Doch der Westen ist in der Pflicht, dieses Ziel dennoch zu verfolgen. Um dies einzusehen, muss man kein vor Moralismus triefender Antiimperialist sein.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.