04. Januar 2022
Die Todesumstände des Rappers Biggie Smalls sind nie geklärt worden. Die leitenden Kriminalbeamten der Strafverfolgung in LA wissen möglicherweise mehr, als sie bislang zugegeben haben.
Craig Mack und Biggie Smalls a.k.a. the Notorious BIG in Philadelphia, 1994
Nur wenige Ereignisse geben Anlass zu derart intensiven Spekulationen wie die Ermordung des Rappers Christopher Wallace, auch bekannt als Biggie Smalls. Im Jahr 1997 wurde er beim Verlassen einer Afterparty in Los Angeles erschossen. Inszenierte das FBI den Mord, um die Kultur des Gangster Rap zu beseitigen, die die 1990er Jahre prägte? Wollte Sean »Diddy« Combs, Wallaces Freund und Produzent, die Verkaufszahlen von Biggies posthum erschienenem zweiten Album steigern? Oder ist Biggie am Ende gar nicht tot und genießt sein Leben auf einer exotischen Insel mit seinem Rivalen Tupac Shakur, der nur sechs Monate zuvor unter ähnlich mysteriösen Umständen erschossen wurde?
Wie so oft bei Verschwörungstheorien ist die Realität wahrscheinlich banaler und zugleich bedrohlicher als jede dieser Theorien. Zwar ist der Mord an Biggie Smalls offiziell immer noch nicht aufgeklärt, doch die Ergebnisse jahrzehntelanger Ermittlungsarbeit deuten darauf hin, dass der Tod des Rappers im Zusammenhang mit kriminellen Aktivitäten innerhalb der Strafverfolgungsbehörden steht.
Die nach wie vor naheliegendste Theorie zu Biggies Ermordung wurde vom ehemaligen LAPD-Detective Russell Poole aufgestellt und später in Randall Sullivans 2002 erschienenem Buch LAbyrinth verewigt. Der 2015 verstorbene Poole untersuchte ein Jahr lang den Mord für die Abteilung für Raub- und Morddelikte des Los Angeles Police Departments (LAPD). Doch er kündigte, da er sich in seinen Ermittlungen von der Führungsspitze behindert sah.
Poole deckte auf, dass es innerhalb des LAPD eine Gruppe krimineller Beamten gab, die mit den Gangs in Verbindung standen. Außerhalb ihrer Dienstzeit arbeiteten sie als Sicherheitsleute für Suge Knight, den CEO von Death Row Records, Tupac Shakurs ehemaligem Label und dem führenden Rivalen von Combs’ New Yorker Plattenfirma Bad Boy Records. Der Detective kam zu dem Schluss, dass der Mord an Biggie Smalls von Knight angeordnet und von zwei Polizisten, David Mack und Rafael Pérez, organisiert worden war, die wiederum Macks ehemaligen College-Kollegen und Mitglied der Nation of Islam, Amir Muhammad, beauftragt hatten, Biggie umzubringen.
Der Skandal des LAPD um Rodney King lag zu diesem Zeitpunkt erst wenige Jahre zurück. Die Führungsetage war deshalb bemüht, die Ermittlungen zu unterbinden, bevor die Abteilung weiter in Verruf geraten konnte. Zudem hatte der damalige LAPD-Chef Bernard Parks, der höhere politische Ambitionen verfolgte, Mack und Pérez zufällig persönlich angeworben. Der 30-jährige LAPD-Veteran Xavier Hermosillo bezeugte später, in den Akten ein Foto gesehen zu haben, auf dem Parks’ Tochter, die 1998 kurzzeitig wegen Drogenhandels angeklagt worden war, mit den beiden Polizisten posierte. Die Polizisten seien darauf in den Farben der Blood-Gang gekleidet gewesen. Das Foto, auf das Hermosillo sich bezog, soll nach seiner Aussage auf mysteriöse Weise verschwunden sein.
Auf sein wichtigstes Beweisstück stieß Poole bei Macks Verhaftung. Dieser hatte bei einem bewaffneten Raubüberfall auf eine Bank im südlichen Los Angeles mehr als 700.000 Dollar gestohlen. Bei der Durchsuchung seines Hauses fand Poole nicht nur die gleiche seltene, in Deutschland hergestellte Munition, mit der Biggie getötet worden war, sondern auch den schwarzen Chevy Impala mit Chromfelgen, aus dem in der Tatnacht sechs Schüsse mit 9mm-Munition auf den Rapper abgefeuert worden waren. Doch seine Vorgesetzten ließen Poole keine forensischen oder ballistischen Untersuchungen durchführen, um eine mögliche Verbindung zu dem Mord von 1997 zu beweisen.
In den darauffolgenden Jahren verliehen neue Enthüllungen Pooles Theorie zusätzliches Gewicht. Eine spätere FBI-Untersuchung kam zu denselben Ergebnissen und Schlussfolgerungen wie er. Der ehemalige Agent Phil Carson erklärte, er sei »von der LAPD und den Staatsanwälten der Stadt Los Angeles zum Schweigen gebracht worden« und beschrieb dieses Vorgehen als »den größten Justizfehler in meiner 20-jährigen Karriere beim FBI«. In dem 20-teiligen Podcast The Dossier aus dem Jahr 2020, der zum Teil auf Poole und Carsons Arbeit basiert, veröffentlichte der Journalist Don Sikorski unter anderem einen internen Report des LAPD aus dem Jahr 2001. Dieser belegt die Verbindungen zwischen den städtischen Polizisten und Death Row Records. Er enthält zudem die Aussagen von Gefängnisinformanten, die die Beteiligung von Knight, Mack und Pérez an dem Mord bestätigen. Die Informanten sagten darüber hinaus aus, dass Mack mit dem Geld, das er beim Banküberfall gestohlen hatte, Muhammad habe bezahlen wollen. Diesen hätte Knight um sein Geld betrogen, weil er das zweite geplante Ziel in der Tatnacht, Combs, nicht getötet hatte.
Während die Führungsriege des LAPD den Fall erfolgreich unter Verschluss hielt, entwickelte er sich zu einem immer größeren Skandal. Pérez wurde beim Diebstahl von Kokain aus einem Polizeidepot erwischt, das er auf der Straße verkaufen wollte. Seine Zeugenaussagen gipfelten im Rampart-Skandal, einem der größten Polizeiskandale in der Geschichte von Los Angeles. Dabei stellte sich heraus, dass Dutzende von Beamten der Einheit – darunter Mack und andere Death Row verbundene Polizisten – innerhalb des LAPD wie eine Straßengang arbeiteten: Sie stahlen und verkauften Drogen, platzierten und vertuschten Beweise, verübten brutale Misshandlungen und Vergeltung an Personen. Infolge der Ermittlungen dazu wurden 100 Verurteilungen aufgehoben, 140 Zivilklagen erhoben und Vergleiche im Gesamtwert von 125 Millionen Dollar geschlossen, neun Beamte strafrechtlich verfolgt und fast zwei Dutzend suspendiert oder entlassen.
Solche Polizeibanden gibt es nicht nur in Los Angeles. Die Reporterin Cerise Castle hat ausführlich berichtet, wie das Los Angeles County Sherriff’s Department (LASD), das für die nicht inkorporierten Gebiete des Bezirks und andere Städte, darunter auch Compton, zuständig ist, seit Jahrzehnten im Stillen von »Deputy Gangs« wie den Vikings, den Banditos und den Executioners dominiert wird. Die Mitglieder behaupten zwar, es handele sich lediglich um »gesellige Zusammenkünfte« und »Trinkergruppen«, diese Darstellung wird jedoch durch ihr bandenähnliches Verhalten entkräftet. Dieses äußert sich nicht nur in einem bestimmten Kleidungsstil, Tätowierungen, Handzeichen und Initiationsritualen, sondern umfasst auch kriminelle Aktivitäten wie Erpressung, Mord und die Bedrohung von Feinden, zu denen oft auch unbescholtene Polizisten und Whistleblower zählen.
Beamte beteuern zwar, die Abteilung habe sich nach dem Rampart-Skandal rehabilitiert, doch innerhalb des LAPD existieren solche Probleme weiterhin. Im vergangenen Jahr reichte ein ehemaliger Sergeant des Sondereinsatzkommandos der LAPD Metropolitan Division eine Klage ein. Er behauptete, innerhalb der Einheit existiere eine »SWAT-Mafia«, deren Mitglieder »die Anwendung tödlicher Gewalt verherrlichen und die Beförderung von Beamten steuern, die dieselben Werte teilen, und … den Ruf von Beamten [schädigen], die dies nicht tun«. Die größere Metro-Division hatte bereits mit willkürlichen polizeilichen Kontrollen und Durchsuchungen von Autos, dem sogenannten »Stop-and-frisk«, für einen Skandal gesorgt und Beschwerden über übermäßige Gewaltanwendung erhalten. Seither wurden zehn ihrer Beamten angeklagt, weil sie Autofahrende zu Unrecht als Bandenmitglieder in die staatlichen Bandendatenbank eingetragen hatten.
Auch ohne Tätowierungen und Gangnamen gibt es in den gesamten USA Polizeidienststellen, die bandenähnliche Tendenzen aufweisen, wenn sie sich beispielsweise zum Schutz ihrer Kollegen zusammenschließen, egal wie kriminell sie sind. Ob in Baltimore, Spokane oder Weirton: Beamte, die sich über problematisches Verhalten beschwerten oder weigerten, sich daran zu beteiligen, wurden innerhalb ihrer Dienststellen geächtet und mussten mit Vergeltung rechnen. Shannon Spalding, eine Drogenfahnderin aus Chicago, die dazu beigetragen hat, einen Erpresserring innerhalb der Chicagoer Polizeibehörde aufzudecken, und die Stadt gezwungen hat, den informellen Schweigekodex innerhalb der Behörde zu brechen, wurde von ihren Kollegen erst bestochen und dann bedroht, damit sie den Mund hält.
Mit dieser Mentalität sah sich auch Poole vor all den Jahren konfrontiert, als seine Ermittlungen zum Mord an Biggie Smalls immer mehr Beweise für kriminelles Verhalten innerhalb des LAPD zu Tage förderten. Poole wurde von seinen Vorgesetzten sind nur in seiner Arbeit behindert, er erntete auch bald »Blicke [und] hochgezogene Augenbrauen« von anderen Ermittlern, und wurde »ein Aussätziger«, wie er gegenüber Sullivan berichtete. Pooles Vater, selbst ein LASD-Veteran, schilderte seinem Sohn, dass er einmal fast von einer Gruppe verprügelt worden war, weil er gegen einen anderen Polizisten ausgesagt hatte, der einem Verdächtigen, den er getötet hatte, eine Waffe untergeschoben hatte. Er schlussfolgerte: Die Polizeiarbeit schuf eine Wir-gegen-die-Mentalität, die verlangte, dass Polizisten Personen aus den eigenen Reihen immer schützten.
Ein Gesetzentwurf zum Verbot von Polizeibanden liegt derzeit auf dem Tisch des kalifornischen Gouverneurs Gavin Newsom. Aber selbst wenn er dieses Gesetz unterschreibt, werden die Missstände in der US-Polizeiarbeit nicht ohne viele weitere Maßnahmen behoben werden, angefangen bei wirksamem Schutz für Whistleblower bis hin zu rechtlichen Konsequenzen für auffällige Beamte.
Auch mehr als zwei Jahrzehnte später ist der Mord an Biggie Smalls ein Symbol für die dramatischen Auswirkungen von Bandenkriminalität. Und er erinnert uns daran, dass einige der schlimmsten Gangmitglieder Uniformen tragen.
Branko Marcetic ist Redakteur bei JACOBIN und Autor des Buchs »Yesterday’s Man: The Case Against Joe Biden«. Er lebt in Chicago, Illinois.
Branko Marcetic ist Redakteur bei JACOBIN und Autor des Buchs »Yesterday’s Man: The Case Against Joe Biden«. Er lebt in Chicago, Illinois.