07. Oktober 2020
Heute gilt Sachsen-Anhalt als konservativ und verschlafen. Doch zur Zeit der Novemberrevolution war die Industrieregion um Magdeburg und Halle-Merseburg ein Zentrum der revolutionären Arbeiterbewegung.
Proteste auf dem Marktplatz in Halle, 1918/19.
Als die Kieler Matrosen am 3. November 1918 mit der Revolte begannen, bahnte sich die Novemberrevolution nach und nach im ganzen Land ihren Weg. Eine Militärkontrolle am Magdeburger Hauptbahnhof brachte auch in der Elbstadt den Stein ins Rollen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Botschaft der Revolution als ein heimkehrender Matrose durch das Militär erschossen wurde, nachdem er sich der Kontrolle verweigert hatte. Am darauffolgenden Morgen des 9. Novembers zogen die Soldaten der Encke-Kaserne in Sudenburg sowie Arbeiterinnen und Arbeiter der Fabriken in Buckau durch die Stadt. Häftlinge wurden befreit, Offiziere entwaffnet und Gebäude besetzt. Die Gewerkschaften riefen zum Generalstreik auf.
Nahezu handlungsunfähig überließen die Magdeburger Behörden den revolutionären Massen das Ruder. Schon am Nachmittag versammelten sich auf Initiative der beiden Arbeiterparteien – der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) und den sogenannten »Mehrheitssozialdemokraten« (MSPD) – auf dem Domplatz bis zu 50.000 Demonstrierende und feierten den Sieg der »neuen Zeit«. Als Magdeburger Bevollmächtigter des Deutschen Metallverbandes sprach Alwin Brandes (USPD) als erster zu den Massen auf dem Domplatz: »Heute ist ein Feiertag für Magdeburg! Das alte Regiment ist gestürzt. Das Regiment, unter dem die Bevölkerung viel zu leiden hatte. An seine Stelle tritt ein neues Regime, das Befreiung von jeder Knechtschaft auf seine Fahne geschrieben hat.«
Die dominierende Arbeiterpartei in Magdeburg war ohne Zweifel die MSPD, die sich allerdings weniger euphorisch gab. Ernst Wittmaack (MSPD) rief auf dem Domplatz zur Ruhe auf und forderte die Sicherung des Eigentums sowie die Entwaffnung von Zivilisten. Angetrieben durch die revolutionäre Dynamik wurde gleichwohl, wie fast überall im Land, ein provisorischer Arbeiter- und Soldatenrat gegründet, in dem jedoch gemäßigte Kräfte die Mehrheit besaßen.
In Halle-Merseburg bot sich zu Beginn der Revolution ein ähnliches Bild. Es waren die Soldaten der Fliegerersatzabteilung, die am 7. November ihre Offiziere absetzten und entwaffneten und damit zur Revolution übergingen. Am selben Tag versammelten sich im Volkspark, dem traditionellen Versammlungsort der halleschen Sozialdemokratie, etwa 10.000 Menschen, die jedoch nicht alle in den Sälen des »Arbeiterpalastes« unterkamen und daher auch das Außengelände bevölkerten. Auf der Versammlung verabschiedeten die revolutionären Massen eine Resolution, in der sie sich zum internationalen Sozialismus bekannten, Wucher und Ausbeutung ablehnten und den Sturz des Kapitalismus forderten.
Am folgenden Tag gründeten sich ein provisorischer Arbeiter- und ein Soldatenrat. Gemeinsam bildeten sie einen Vollzugsrat, um fortan die Macht in Halle für sich zu beanspruchen. Das Verhältnis zwischen dem Arbeiterrat, der stark durch die Betriebsvertrauensleute der USPD, die sogenannten revolutionären Obleute, geprägt war, und dem eher gemäßigten Soldatenrat stellte sich im Fortgang der Revolution noch öfter als konfliktreich heraus.
Diese kurzen Einblicke in den Ausbruch der Revolution zwischen Saale und Elbe zeigen, dass das heutige Sachsen-Anhalt damals keineswegs schläfrig war, sondern eine Hochburg der Arbeiterbewegung, wenngleich die Revolutionärinnen und Revolutionäre in den folgenden Wochen und Monaten recht unterschiedliche Richtungen einschlugen. Der Revolutionsforschung vermag es häufig nicht, ein umfassenderes Bild der deutschen Novemberrevolution zu zeichnen, weil ihr Blick auf wenige Zentren verengt ist. Der Osten spielt dabei meistens keine Rolle. Die regionale Revolutionsforschung mit Blick auf Sachsen-Anhalt, vor allem jenseits von Halle-Merseburg, ist bislang recht stiefmütterlich behandelt worden. Dabei lassen sich die gegenläufigen Entwicklungen und Widersprüche der Revolution sehr treffend am Lauf der Ereignisse veranschaulichen, die sich in den beiden großen Städten der damaligen preußischen Provinz Sachsen vollzogen.
Magdeburg etablierte sich schon in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg als Zentrum des reformorientierten Parteiflügels, während Halle-Merseburg in der SPD als linker Parteibezirk galt, dessen Reichstagsabgeordnete Adolf Albrecht und Fritz Kunert bereits in der fraktionsinternen Abstimmung gegen die Zustimmung zu den Kriegskrediten am 4. August 1914 votierten. Sie blieben dabei deutlich in der Minderheit.
Diese politische Prägung der Parteibezirke machte sich während des Krieges und auch der Novemberrevolution bemerkbar. In der Saalestadt versuchte die SPD-Führung um Wilhelm Koenen aktiv Streikbewegungen in den Betrieben aufzubauen, indem sie das Konzept der Betriebsvertrauensleute zu etablieren versuchten. In Magdeburg war diese Aufgabe oppositionellen Sozialdemokraten wie Alwin Brandes überlassen, der sich vor allem ab 1916 bemühte, die Arbeiterschaft in der Metall- und Rüstungsindustrie zu organisieren.
Unter den drückenden Verhältnissen des Weltkriegs, der bitteren Armut und des nagenden Hungers, kam es zu Ostern 1917 und im Januar 1918 zu größeren Streikaktionen der Magdeburger Industriearbeiterschaft, die die SPD- und Gewerkschaftsführung jedoch schnell wieder einhegte. Die Funktion der Magdeburger-SPD als »Stabilitätsfaktor« und Revolutionsbremserin wurde von den staatlichen Behörden durchaus wahrgenommen und entsprechend honoriert. So unterstützen die Behörden die Magdeburger-SPD bei der Gründung einer halleschen Ausgabe der Volksstimme, um den Einfluss des Volksblattes in Halle einzudämmen. Auch personell rückte die von vielen gemäßigten Sozialdemokraten gewünschte »Integration« in das Kaiserreich immer näher. August Müller, führender Redakteur der Volksstimme, arbeitete als erster Sozialdemokrat ab Mai 1916 in einer der obersten Reichsbehörden, dem Kriegsernährungsamt, und wurde im Laufe des Jahres 1917 zum Unterstaatssekretär ernannt.
Mit der Spaltung der SPD im April 1917 entwickelten sich die beiden Parteibezirke auch organisatorisch auseinander. In einem umfassenden Anschluss wechselten in Halle etwa 90 Prozent der ehemaligen SPD-Mitglieder zur USPD. Darüber hinaus übernahm die neue Arbeiterpartei fast die gesamte Parteiinfrastruktur, einschließlich der sozialdemokratischen Zeitschrift, der Gebäude und Gelder. Kurzum: Die Partei in Halle-Merseburg hatte sich im Grunde einfach umbenannt. In Magdeburg war die Entwicklung genau umgekehrt. Die im April 1917 durch Albert Vater gegründete USPD-Gruppe blieb eine relativ kleine Abspaltung, wobei diese durch Alwin Brandes einen gewissen Einfluss in der Magdeburger Industriearbeiterschaft entfalten konnte.
Diese Vorbedingungen beeinflussten das Revolutionsgeschehen erheblich. Die große Mehrheit der Magdeburger MSPD argumentierte für eine »Sicherung« der Revolution. Unter diesem Einfluss stimmte der Magdeburger Arbeiter- und Soldatenrat Anfang Dezember 1918 mit überwältigender Mehrheit für eine baldige Einberufung der Nationalversammlung und strebte eine parlamentarische Demokratie an. Aus dieser Perspektive betrachtet waren die Räte lediglich eine vorübergehende Erscheinung.
Brandes hingegen plädierte als Vertreter der Rätebewegung für eine »Vertiefung« der erreichten Erfolge und sprach sich für den Erhalt und Ausbau des Rätesystems aus, womit er in Magdeburg jedoch keine breite Unterstützung einfahren konnte. Trotz einiger Auseinandersetzungen in den folgenden Monaten, wie dem Magdeburger Flaggenstreik oder der Entführung des Justizministers Otto Landsberg durch revolutionäre USPD- und KPD-Anhänger versiegte die Dynamik der Revolution an der Elbstadt recht schnell. An den regionalen Generalstreiks, die Ende Februar an verschiedenen Orten einsetzten, beteiligte sich die Magdeburger Arbeiterschaft nur noch symbolisch.
Die USPD in Halle-Merseburg prägte mit ihren revolutionären Obleuten das Agieren des Arbeiterrats und vertrat eine deutlich radikalere Vorstellung von der Sozialisierung als weite Teile der Gesamtpartei sowie der Regierung. Dadurch standen sie sowohl mit dem Soldatenrat als auch dem Magistrat der Stadt immer wieder im Konflikt. Spätestens mit der Absetzung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn (USPD) und der gewaltsamen Niederschlagung des Berliner Januaraufstands brach der hallesche Arbeiterrat endgültig mit der Ebert-Scheidemann-Regierung und entwaffnete Truppentransporte auf dem Weg nach Berlin.
Die Differenzen zwischen dem Arbeiter- und Soldatenrat spitzten sich daraufhin weiter zu. Revolutionäre Soldaten verlangten drei MSPD-Mitglieder aus dem Soldatenrat auszuschließen, da diese in der Nacht versucht hatten, die Entwaffnung der Truppentransporte zu verhindern. Sie forderten außerdem, dass alle Soldaten ihre Rangabzeichen entfernen und weitere Truppenzüge nach Berlin und Oberschlesien entwaffnen. Die erste Forderung lehnte der Soldatenrat ab, stimmte den anderen beiden jedoch zu. Es sollte nicht die letzte Auseinandersetzung zwischen radikaleren und gemäßigten Kräften bleiben.
An den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 lassen sich die Kräfteverhältnisse eindrücklich ablesen. In Magdeburg erzielte die MSPD mit 58,6 Prozent ein gigantisches Ergebnis, die USPD erreichte gerade einmal 6 Prozent. In der Stadt Halle wiederum erhielt die USPD über 40 Prozent der Stimmen, die MSPD lediglich 15 Prozent. Die Sonderstellung beider Wahlkreise drückt sich im Gesamtwahlergebnis der preußischen Provinz Sachsen aus. Hier bekam die MSPD mit knapp 35 Prozent etwa 10 Prozentpunkte mehr als die USPD. Auch die bürgerlich-liberale Deutsche Demokratische Partei erlangte ein relativ starkes Ergebnis.
Nach der Wahl zur Nationalversammlung war der Ausgang der Revolution in Magdeburg schon weitgehend entschieden und die Weichen zu einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland gestellt – und doch erklärte der Arbeiterrat in Halle am 7. Februar öffentlich, »dass er sich nach wie vor mit allen seinen Kräften und mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln für die Bekämpfung der Regierung Ebert-Scheidemann-Noske und für die Aufrechterhaltung der Macht der Arbeiter- und Soldatenräte bis zur vollkommenen Sicherung der sozialistischen Republik einsetzen« werde. Vor allem die ausbleibende Sozialisierung führte zu einer Radikalisierung der lokalen Arbeiterschaft, die im Februar wieder verstärkt streikte, weshalb Wilhelm Koenen forderte, »aus der halben Revolution die ganze werden zu lassen«.
Die Bergarbeiter aus den Gruben um Halle erkämpften eine erstaunliche Verhandlungsmacht. So verhandelten die aus Berlin nach Weimar geflohenen Vertreter der Regierung am 13. und 14. Februar 1919 mit Delegationen aus Halle und dem Ruhrgebiet über die zukünftige Rolle der Betriebsräte in den Bergbaubetrieben. Die Regierung war zwar bereit, die Einsetzung von Betriebsräten zu akzeptieren, solange diese lediglich mit geringen Kompetenzen ausgestattet seien. Koenen hingegen, der als Kommissar des übergeordneten Bezirksarbeiterrats von Halle-Merseburg eine zentrale Stellung in der mitteldeutschen Rätebewegung einnahm, forderte in der von ihm verfassten »Vorläufige[n] Dienstanweisung für den Betriebsrat« umfassende Kontrollrechte, die den Betriebsräten auch Entscheidungsbefugnisse über wirtschaftliche Angelegenheiten, sowie Gehalts- und Personalfragen einräumen sollten. Die Verhandlungen scheiterten.
Jetzt war es für die Rätebewegung an der Zeit, gemeinsam zuzuschlagen, um die Revolution durch einen Generalstreik zu vollenden. Schon auf dem ersten Reichsrätekongress in Berlin Mitte im Dezember 1918 versuchten einige der führenden deutschen Räteaktivisten, sich enger zu vernetzen. »Wir stellten eine enge Verbindung zu den Arbeiter- und Soldatenräten von Rheinland-Westfalen und Berlin her, die dann zwischen Otto Braß, [Bernhard] Düwell, [Curt] Geyer, [August] Merges und mir in Weimar noch lebhafter wurden«, berichtete Koenen.
Doch trotz aller Versuche, eine stärkere Macht zu entfalten, ging der Plan nicht ganz auf. Die Rätebewegung im Ruhrgebiet begann schon am 17. Februar mit dem Generalstreik, da sollte es noch eine Woche dauern, bis die Arbeiterschaft in den Regionen Anhalt, Thüringen und Sachsen die Arbeit niederlegten: Sämtliche Gruben in den Braunkohlebezirken Bitterfeld, Halle, Oberröblingen, Geiseltal und Weißenfels traten in den Generalstreik, wie auch Betriebe der Metallindustrie und der chemischen Industrie, einschließlich der Leunawerke, die Dekaden später zum größten Chemiewerk der DDR werden sollten.
Bis zur Anerkennung der Betriebsräte und Sicherung der Arbeiter- und Soldatenräte weigerten sich die Streikenden, die Arbeit in der Region wieder aufzunehmen. Die Revolutionäre betonten, dass die Lebensmittel- und Wasserversorgung aufrechterhalten werde und jede Gewalttätigkeit zu unterbinden sei. Der hallesche Arbeiterrat forderte daraufhin die gesamte Arbeiterschaft der Stadt dazu auf, »sich unverzüglich der Bewegung anzuschließen, damit die kapitalistischen Widerstände gebrochen und die Forderungen zum Siege geführt werden, wenn es sein muß, durch die Beseitigung der gegenwärtigen Regierung, die das Vertrauen der mitteldeutschen Arbeiter ohnehin nicht besitzt«. Der Streik weitete sich aus. Der Eisenbahnverkehr kam in der gesamten Stadt und Umgebung zum Erliegen. Damit wurde auch die Verbindung zwischen der Nationalversammlung in Weimar und der Hauptstadt Berlin unterbrochen. Drei Viertel der mitteldeutschen Betriebe befanden sich Ende Februar im Ausstand und auf dem Marktplatz demonstrierten am 25. Februar bis zu 50.000 Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Regierung. Die Revolution lebte.
Jetzt griff auch das Bürgertum, das sich angesichts der mobilisierten Massen um die kapitalistische Eigentumsordnung sorgte, in die Revolution ein. Der Aktionsausschuss bürgerlicher Vereine in Halle rief zu einem »Generalstreik des gesamten Bürgertums« auf, der die Arbeiterschaft zur Wiederaufnahme der Arbeit zwingen und vor allen Dingen die Revolution beenden sollte. In einem Telegramm an die Regierung forderte der bürgerliche Aktionsausschuss zugleich »schnellste Hilfsmaßnahmen«. Während die Arbeiterschaft die Versorgungsbetriebe vom Generalstreik ausnahm, ging es dem Bürgertum darum, die Grundversorgung der halleschen Bevölkerung kollabieren zu lassen.
Diese bewusste Zuspitzung der sozialen Lage war vom bürgerlichen Aktionsausschuss strategisch wohl überlegt. Durch die gezielte Eskalation wollten die bürgerlichen Vertreter der Regierung den letzten Anstoß geben, um auch in Halle-Merseburg militärisch zu intervenieren, wie sie es schon in Erfurt und Gotha getan hatte. Der Plan ging auf, wobei die bürgerliche Eskalationstaktik nicht zu überbewerten ist. Denn an »Gründen« für eine Intervention in Halle fehlte es der Regierung nicht. Die Revolution musste endlich ein Ende haben.
Auf dem Höhepunkt der mitteldeutschen Streikbewegung erteilte Gustav Noske (MSPD) dem General Georg Maercker am 27. Februar den Befehl, mit seinen Landjägerkorps in Halle einzurücken – in Magdeburg sollte sich dies etwa einen Monat später wiederholen. In den ersten Märztagen wurden 29 Personen in den Kämpfen getötet und 67 verwundet. Die Regierung begründete das militärische Eingreifen damit, wieder Ruhe und Ordnung herstellen zu müssen.
Die Lage in Halle-Merseburg war zu dieser Zeit jedoch weitgehend ruhig. Die Stadt war wie elektrisiert und der revolutionäre Traum von einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung schien zum Greifen nah. Für die Regierung war das ein Albtraum. Sie fürchtete einen Bürgerkrieg wie in Russland, den sie doch gleichzeitig mit ihrem Agieren provozierte. In diesem Sinne schreibt General Maercker in seinen Memoiren ganz offen, dass die Regierung durch die Intervention die politische Machtfrage endlich entscheiden wollte, was sie sich aber aufgrund ihrer Schwäche nicht zu sagen traute. Die militärische Übermacht der Freikorpsverbände erzwang die weitgehende Entmachtung der Rätestruktur. Nach und nach fielen die Bastionen der deutschen Rätebewegung, obwohl sich die revolutionären Auseinandersetzungen noch bis zu den mitteldeutschen Märzkämpfen von 1921 hinzogen. Die reale Utopie rückte wieder in unerreichbare Ferne.
Die Revolution wurde nicht allein in Berlin entschieden, sondern ereignete sich in unterschiedlicher Intensität an verschiedenen Orten im ganzen Land. Die Geschichte der Arbeiterbewegung in Sachsen-Anhalt gleicht einem Brennglas, unter dem sichtbar wird, was in diesem kurzen Abschnitt der deutschen Geschichte alles im Bereich des Möglichen lag. Die Antwort dazu lautet nicht einfach parlamentarische Demokratie oder Rätesystem. In den revolutionären Zwischenräumen des Frühjahrs 1919 wäre Vieles möglich gewesen.
In diesem Sinne ist es mehr als ernüchternd, wie wenig trotz der zeitweiligen Mehrheit der Arbeiterparteien tatsächlich erreicht wurde. Vor allem das Ausbleiben der Sozialisierung, die noch Mitte November 1918 vom Rat der Volksbeauftragten für die »reifen« Schlüsselindustrien beschlossen wurde, verhinderte jegliche Ansätze einer Demokratisierung der Wirtschaft. Schlimmer noch: Der weitgehende Fortbestand und Rückgriff auf den alten Beamten- und Verwaltungsapparat stellte sich rückblickend als fataler Fehler heraus, der den Aufstieg des deutschen Faschismus schlussendlich begünstigen sollte.
Vincent Streichhahn ist Politikwissenschaftler und promoviert gegenwärtig zur Theorie und Praxis der »Frauenfrage« in der Sozialdemokratie des deutschen Kaiserreichs. Er ist der Herausgeber einer kürzlich erschienenen Broschüre über die Geschichte der Arbeiterbewegung im heutigen Sachsen-Anhalt.
Vincent Streichhahn ist Politikwissenschaftler und promoviert gegenwärtig zur Theorie und Praxis der »Frauenfrage« in der Sozialdemokratie des deutschen Kaiserreichs.