18. September 2025
Nach den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen wird die einstige Herzkammer der Sozialdemokratie zum Ort der Entscheidung: Will die SPD der CDU beim Sozialabbau helfen oder mit der Linken an einer Alternative zum AfD-Narrativ arbeiten?
Duisburgs SPD-Oberbürgermeister Sören Link hat keine Lust mehr »verarscht und beschissen zu werden«, meint damit aber Sozialbetrug und nicht Kürzungspolitik.
Am vergangenen Wochenende konnten 13,7 Millionen Menschen in Nordrhein-Westfalen ihre Kommunalparlamente, Oberbürgermeister und Landräte bestimmen. Schon im Vorfeld der Wahl war das Narrativ gesetzt: Die AfD würde stark zulegen und der SPD den Rang als »Arbeiterpartei« ablaufen.
Am Ende verdreifachte sich die AfD landesweit zwar von 5,1 Prozent im Jahr 2020 auf nun 14,5 Prozent, blieb damit aber hinter ihren noch höheren Erwartungen zurück. Schließlich hatte sie bei ihrem Mobilisierungserfolg zur vergangenen Bundestagswahl in NRW 16,8 Prozent geholt. Dennoch: Mit den 552 Vertreterinnen und Vertretern, die zur kontinuierlichen Arbeit in allen Sachgebieten »vor Kohle stehen«, kann die AfD ihre Kaderbildung und -auswahl nun kräftig vorantreiben (von den öffentlichen Zuwendungen an die Fraktionen mal ganz abgesehen).
»Die SPD mag den Status als Arbeiterpartei verloren haben, aber deshalb hat die AfD ihn noch lange nicht gewonnen.«
Die Erosion der SPD setzt sich vom 2020 schlechtesten Wahlergebnis von 24,3 Prozent auf jetzt 22,1 Prozent fort. Zur Erinnerung: In den 1960er und 70er Jahren schaffte es die Sozialdemokratie, der Aufbau-Partei CDU das Heft aus der Hand zu nehmen und mit der Modernisierung (insbesondere dem Hochschulbau), dem sozialem Wohnungsbau und der Gestaltung des Strukturwandels (weg von Kohle und Stahl) NRW zu ihrer Herzkammer zu machen. Damals rangierte sie bei rund 50 Prozent. Heute pumpt dieses Herz zwar noch, aber faktisch ist die SPD hirntot. Es fehle an Ideen, fällt der stellvertretenden Landesvorsitzenden am Wahlabend im TV nur noch ein.
Die SPD mag den Status als Arbeiterpartei verloren haben, aber deshalb hat die AfD ihn noch lange nicht gewonnen. Denn es geht der AfD eben nicht um die materiellen Lebensbedingungen, sondern um die Ressentiments, mit denen sie diese miesen Verhältnisse deuten kann.
Auf den ersten Blick ging es bei den Wahlen wieder um das scheinbar alles beherrschende Thema der Migration, das vor allem von rechter Seite unmittelbar mit dem Thema der inneren Sicherheit verknüpft wird. Die Demoskopie zeigt jedoch, dass die Unzufriedenheit auf vielen anderen Politikfeldern teils sehr viel größer ausfällt.
Diese Zufriedenheitswerte fallen in den verschiedenen Regionen und Siedlungsstrukturen (Groß- oder Kleinstädte) durchaus unterschiedlich aus. Dennoch ist zentral, dass teure Mieten, fehlender Wohnraum und verfallende Verkehrsinfrastruktur für drei Viertel der Befragten Grund zur Unzufriedenheit geben. Diese Themen führen die Liste an – und nicht der Sicherheits- und Migrationskomplex.
Genau diesen sicherheitspolitischen Diskurs will nun aber vor allem die CDU immer weiter in den Fokus ihrer Statements und damit der medialen Berichterstattung rücken. So erweitert sie den Diskursraum für die Narrative der AfD, in dem sich Ressentiments und illiberale Argumente breitmachen. Dabei verknüpft man die Unzufriedenheit über den Zustand der materiellen Lebensvoraussetzungen mit unterschwelligen Schuldzuweisungen.
Das ungleich größere Projekt für Merz, Linnemann, Spahn & Co. ist aber die neuerliche strukturelle Verkleinerung des Sozialstaats. Ein Vorgeschmack gab der Ministerpräsident Hendrik Wüst schon am Wahlabend, als er auf »Fehlanreize unserer Sozialsysteme« hinwies, die vor allem in den »prekären Immobilien« zur Organisation von Sozialbetrug und zu unhaltbaren Zuständen »vor allem im Ruhrgebiet« geführt hätten, die seit zwanzig Jahren bekannt seien aber »weggenuschelt« worden wären.
Aber verlor die SPD etwa nochmals 2,2 Prozent, weil sie nicht lautstark reaktionäre Vorurteile aussprach oder nicht rigoros Schwarzarbeit, Kindergeld- und Bürgergeldbetrug unterband? Duisburgs SPD-Oberbürgermeister Sören Link scheint dies zu glauben. Sein eigenes gutes Abschneiden (46 Prozent im ersten Wahlgang) führt er auf seinen harten Kurs gegen Sozialbetrug zurück: »Ich bin Mitglied der Partei der Arbeit geworden, bin für soziale Gerechtigkeit«, erklärte Link. »Ich habe keine Lust, verarscht und beschissen zu werden. Das ist aber genau das, was da passiert.«
»Die Methode, Großimmobilien aus früherem genossenschaftlichen und öffentlichen Bestand, die stufenweise privatisiert wurden, buchstäblich wegzusprengen, um Armutsmigration zu beseitigen, wurde in SPD-geführten Städten wie Duisburg vorgemacht.«
Die klassischen SPD-Wähler seien »die, die hart arbeiten und morgens früh aufstehen«, so der Oberbürgermeister. Sein Kurs sei deshalb »absolut notwendig und richtig«. So hatte es im vergangenen Oktober eine Razzia gegen Sozialbetrug im berüchtigten Duisburger Hochhaus Weißer Riese gegeben, dessen dritter Block kurz vor der Wahl geräumt und gesprengt wurde.
Die Methode, Großimmobilien aus früherem genossenschaftlichen und öffentlichen Bestand, die stufenweise parzelliert und privatisiert zu Profitobjekten wurden, buchstäblich wegzusprengen, um Armutsmigration aus südosteuropäischen EU-Staaten zu beseitigen, wurde in SPD-geführten Städten wie Duisburg vorgemacht. Damit entsprach man der Vorstellungswelt der AfD, mit der man nun dort in die Stichwahl zum Oberbürgermeisteramt gehen muss. Ein attraktives Angebot ist das aber weder für verunsicherte ThyssenKrupp-Beschäftigte noch für die alleinerziehende Teilzeitkraft bei Rossmann noch für die Ausgegrenzten ohne festen Job.
Die Linke konnte ihr Ergebnis von landesweit 3,8 Prozent im Jahr 2020 auf nun 5,6 Prozent verbessern. Die Erfolge erreichen noch nicht die Rekorde in der Zeit der Finanz- und Währungskrise 2010/11, stabilisieren aber den bundesweiten Aufwuchs nach der Abspaltung des linkskonservativen Flügels um Sahra Wagenknecht.
Die Erfolge in Köln – 10,8 Prozent und zwei Direktmandate bei der Ratswahl – verdanken sich einer Schwerpunktsetzung der Kampagne auf die Themen Mieten und Wohnraum. In Köln erreicht die Zufriedenheit beim Thema Wohnen und Mieten nur noch 18 Prozent und damit den landesweiten Tiefststand, während die Zufriedenheit in den Regionen Ruhr, Ostwestfalen-Lippe und Duisburg relativ hoch ist, wo es einerseits eine hohe Eigentumsquote und andererseits immer noch große öffentliche Bestände gibt.
Auch der vorbildliche Kölner Wahlpakt spielte gewiss eine Rolle. Die Massenmedien geißelten, diese »bizarre Wahlkampf-Einigung« zwinge die Parteien, »nur positiv über Migration zu sprechen«. Im Kern verpflichteten sich die Parteien darauf, »nicht auf Kosten von unter uns lebenden Menschen Wahlkampf zu betreiben und inhaltlich fair zu bleiben«, sowie »keine Vorurteile gegen hier lebende Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge zu schüren oder in den eigenen Reihen zu dulden«. »Probleme durch Migration sollen in Köln nicht stattfinden – zumindest nicht im Wahlkampf«, hieß es etwa in einem Kommentar des NRW-Regionalfensters des TV-Senders RTL.
Doch so ein Pakt bleibt eine blutleere Willensbekundung, wenn ihm nicht konkrete Projekte zur Stabilisierung von Lebensverhältnissen und Lebenshaltungskosten zugrunde gelegt werden können.
Die Erfolge der Linken, ihre gestiegenen Kompetenzwerte, der Bedeutungszuwachs der Wirtschaftspolitik im Bewusstsein der Bevölkerung, punktuelle erfolgreiche Kooperationen auf kommunaler Ebene und der Schwung der Jugend eröffnen neue Perspektiven für die Entwicklung von linken Mehrheiten.
»Mit ihrer Selbstdemontage verhindert die Sozialdemokratie progressive Gestaltungsmehrheiten – und damit auch eine antifaschistische Wirtschaftspolitik.«
Die Grünen sackten von ihrem Allzeithoch von 20 Prozent, das sie 2020 mit dem Schwung von Fridays for Future erzielt hatten, auf nun 13,5 Prozent ab. Man traut offenbar der Partei, die neben der CDU das Land regiert, kaum Lösungskompetenzen zu. Sie verlor ihre Oberbürgermeister-Posten (Uwe Schneidewind in Wuppertal) oder muss zumindest in die Stichwahlen (in Köln, Bonn und Aachen). Das grün-schwarze Erfolgsmodell der Zukunft entpuppte sich als Kopfgeburt, weil ihm ein sozial- und finanzpolitischer Unterbau fehlt.
Ein solcher Unterbau fehlt jedoch auch einem hypothetischen Linksbündnis, solange die SPD die soziale Spaltung ausblendet. Mit ihrer Selbstdemontage verhindert die Sozialdemokratie progressive Gestaltungsmehrheiten – und damit auch eine »antifaschistische Wirtschaftspolitik«. Einen AfD-Oberbürgermeister zu verhindern (auch mit der CDU) ist notwendig, ersetzt aber nicht die Erarbeitung gemeinsamer Inhalte in den Räten, mit denen die AfD zum Offenbarungseid gezwungen werden kann.
Im Herbst werden wir eine neue Agenda-2030-Diskussion bekommen. Um vom Systemumbau abzulenken, wird die CDU sozial- und wirtschaftspolitische Debatten mithilfe migrantenfeindlicher Ressentiments austragen – von hier geht die Gefahr aus. Gleichzeitig drängt sie die SPD dazu, den Umbaukurs mitzugehen, mit dem Argument, Sozialbetrug vonseiten illegaler Migranten zu unterbinden und den Abstand zu den hart Arbeitenden wiederherzustellen.
Die andere Option für die SPD wäre, auf den Druck der Linken und ihre populären Angebote einzugehen oder eigene vorzulegen. Die Wohnungsfrage ist ein Ort für solche Programmatik und Kampagnen, bildet aber nur einen Teil der materiellen Lebensbedingungen ab, unter denen die Lohnabhängigen ihre Arbeitskraft reproduzieren wollen.
Die AfD wird nur da konstruktiv im Rat mitarbeiten, wo sie CDU-Inhalte als eigene ausstellen kann. Sie setzt darauf, dass die formale Brandmauer bei Posten gerade noch stabil ist, aber inhaltlich nicht über eine Ratsperiode belastbar ist. Die Uhr tickt.
Bernhard Sander wirkte fünfzehn Jahre für Die Linke im Stadtrat von Wuppertal.