10. August 2020
Seit über zwei Jahrzehnten wird der Vordenker des kurdischen Befreiungskampfes, Abdullah Öcalan, im türkischen Gefängnis auf der Insel İmralı festgehalten. In diesem Beitrag für Jacobin fordert er ein »Projekt einer demokratischen Nation«, das in der Lage ist, Menschen mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund und kulturellen Traditionen zu vereinen.
Kurdische Demonstrantin in Mailand (2017)
Die kapitalistische Moderne ist die tödlichste und kontinuierlichste Krise in der Geschichte der Zivilisation. Insbesondere die allgemeine Zerstörung der letzten 200 Jahre hat Tausende von evolutionären Bindegliedern der natürlichen Umwelt gekappt. Wir sind uns vermutlich immer noch nicht darüber im Klaren, welche Verwüstung dies in der Pflanzen- und Tierwelt verursacht hat. Klar ist jedoch, dass diese beiden Welten, genauso wie die Atmosphäre, ständig SOS-Signale aussenden.
Wie lange noch kann die Menschheit diese Moderne ertragen, die eine weitreichende Verwüstung der Umwelt angerichtet und die Auflösung der Gesellschaft verursacht hat? Wie soll die Menschheit den Schmerz und das Leid durch Kriege, Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut mildern?
Die Behauptung, dass der Nationalstaat die Gesellschaft schütze, ist eine riesige Illusion. Im Gegenteil: Die Gesellschaft wurde durch den Nationalstaat nach und nach militarisiert und in eine Art Kriegszustand versetzt. Ich nenne das »Soziozid«, der auf zwei Arten betrieben wird.
Erstens kontrollieren, unterdrücken und überwachen die Macht und der Staatsapparat die Gesellschaft.
Zweitens hat die Informationstechnologie (die Medienmonopole) der letzten 50 Jahre die wirkliche Gesellschaft durch die virtuelle ersetzt. Wie kann man die Gesellschaft gegen die Medien verteidigen, die sie mit ihren Nationalismus-, Religionismus-, Sexismus-, Szientismus- und Artismuskanonen (Sport, Serien usw.) 24 Stunden am Tag unter Beschuss nehmen?
Es ist mittlerweile klar geworden, dass der Nationaletatismus im Nahen Osten in Wirklichkeit eines der Herrschaftsinstrumente der kapitalistischen Moderne ist. Was der Versailler Vertrag für Europa war, das war das 1916 geschlossene Sykes-Picot-Abkommen zwischen Großbritannien und Frankreich für den Nahen Osten: ein »Frieden, der allen Frieden beendet«.
Die heutigen Nationalstaaten besitzen die gleiche Bedeutung in der Region, wie sie einst die Statthalter des Römischen Reiches innehatten, doch kollaborieren sie noch enger mit der kapitalistischen Moderne – und stehen den kulturellen Traditionen der Region noch ferner. Nach Innen liegen sie mit ihren eigenen Völkern und nach Außen miteinander im Krieg. Die Liquidierung der traditionellen Gesellschaft bedeutet Krieg gegen die Völker – und mit dem Lineal gezogene Grenzen sind eine Einladung für Kriege zwischen Staaten. Keiner von ihnen ist in der Lage, die sich verschärfende Krise zu überwinden; tatsächlich verschärft ihre Existenz die Krise weiter.
Meiner Meinung nach findet ein dritter Weltkrieg statt, dessen Schwerpunkt im Nahen Osten liegt. Diese Katastrophe übersteigt die beiden ersten Weltkriege sowohl in Bezug auf Dauer als auch im Umfang. Das Ergebnis ist Niedergang und Zerfall. Dieser Krieg kann nur mit der Bildung eines neuen regionalen oder globalen Kräftegleichgewichts enden. Ich behaupte, dass das Schicksal des Dritten Weltkrieges der kapitalistischen Moderne durch die Entwicklungen in Kurdistan entschieden wird. Dies belegen die Entwicklungen im Irak und in Syrien.
Die Existenz von Nationalstaaten ist eine Anomalie in der Geschichte des Nahen Ostens — und das Beharren auf ihnen führt in die Katastrophe. Der türkische Nationalstaat glaubt, dass er sich durch einen endgültigen Völkermord an den Kurden verewigen kann – ein Nationalstaat, der dann mit dem eigenen Land und der eigenen Nation integriert ist. Solange die Türkei dieses Paradigma nicht aufgibt, wird sie offensichtlich nichts weiter sein als ein Totengräber für die Völker und gesellschaftlichen Kulturen der Region – einschließlich des türkischen Volkes. In ähnlicher Weise bleibt die Zukunft des Iran für das Land selbst und die Region ungewiss.
Die Situation der Kurden dagegen – zerstückelt durch den Nationaletatismus im Mittleren Osten, der jedem der Teile verschiedene Formen von Vernichtung und Assimilation aufzwingt – ist eine komplette Katastrophe. Die Kurden sind quasi zu einer lang andauernden, tödlichen Agonie verdammt.
Doch mittlerweile sind die Bedingungen gereift – und die Kurdinnen und Kurden können durch ihren Kampf dem Klammergriff des Völkermords entrinnen. Dies ist nur möglich durch das Projekt einer demokratischen Nation – basierend auf dem solidarischen Zusammenleben von freien und gleichen Bürgerinnen und Bürgern, unter Einschluss jeglicher kultureller und religiöser Identitäten. So ist dieses Projekt darauf angelegt, mit den anderen Völkern der Region gemeinsam geschmiedet zu werden. Die Methode, um dieses Ziel zu erreichen, entwickelt sich gerade Schritt für Schritt.
Rojava und ganz Nord- und Ostsyrien – geführt von einer multiethnischen, multireligiösen Selbstverwaltung, die auf der Freiheit der Frau fußt – erhebt sich wie ein Leuchtturm der Freiheit. Dies präsentiert eine Modelllösung sowohl für die Völker des Nahen Ostens als auch für die Nationalstaaten. Das Modell schlägt nicht die Leugnung von Nationalstaaten vor, sondern dass sie an eine demokratische Verfassungslösung gebunden werden. Das wird die Existenz und Autonomie sowohl der »Staatsnation« – der durch den Staat konstruierten Nation – als auch der demokratischen Nation garantieren.
Das reiche Erbe der ethnischen, religiösen und konfessionellen Entitäten und ihrer Kulturen in dieser Region lässt sich nur durch diese Mentalität der demokratischen Nation zusammenhalten – eine, die Frieden, Gleichheit, Freiheit und Demokratie fördert. Einerseits konstituiert sich jede Kultur als eine demokratische nationale Gruppe. Diese können dann andererseits auf einer höheren Ebene als demokratische nationale Einheit mit anderen Kulturen koexistieren, mit denen sie bereits zusammenleben.
Die Lösung der demokratischen Nation, welche die Kurdinnen und Kurden vorschlagen, hat es ihnen ermöglicht, den IS – das Ergebnis des religiösen Monismus – im Namen der gesamten Menschheit unschädlich zu machen. Dies ist ohne Zweifel das Ergebnis unseres Paradigmas, das auf der Freiheit der Frau fußt und so weltweit zum Vorbild wurde.
Die Entwicklungen in Nord- und Ostsyrien sind an einem wichtigen Punkt angelangt. Die verfassungsmäßige Anerkennung der Administration von Nord- und Ostsyrien und der lokalen Demokratie, welche das arabische, kurdische, armenische, assyrische und andere Völker repräsentieren, wird ein äußerst bedeutender Fortschritt sowohl für Syrien als auch für den weiteren Nahen Osten darstellen. Sobald eine Demokratische Verfassung Syriens verabschiedet ist, werden wir die Menschen aufrufen können, aus Europa, der Türkei und anderswo zurückzukehren.
Unser Blick auf den kurdisch-türkischen Konflikt, der fast ein Jahrhundert zurückreicht, ist eindeutig. Wir haben uns seit 1993 darum bemüht, eine demokratische Lösung der kurdischen Frage zu entwickeln. Unsere Haltung — wie 2013 in den Gesprächen auf der Insel İmralı mit dem türkischen Nationalstaat — die in der Newroz-Deklaration zum Ausdruck kam, als wir den Dialogprozess begonnen, ist heute wichtiger als je zuvor. Wir haben diese Haltung 2019 in unsrer Sieben-Punkte-Erklärung bekräftigt. Wir bestehen auf der Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Versöhnung und demokratischer Verhandlungen, um die Kultur der Polarisierung und des Konflikts zu überwinden.
Heutzutage lassen sich Probleme nicht mit den Instrumenten physischer Gewalt, sondern mit »Soft Power« lösen. Wenn geeignete Bedingungen geschaffen werden, kann ich die Hebel in Bewegung setzen, um den Konflikt innerhalb einer Woche zu entschärfen und zu lösen. Was den türkischen Staat angeht, so steht er an einer Wegscheide. Er kann entweder seinen Weg fortsetzen, bis er wie die anderen Nationalstaaten in der Region auseinanderfällt, oder zu einem würdigen Frieden und einer sinnvollen demokratischen Lösung kommen.
Letztlich wird alles durch den Kampf zwischen den beteiligten Seiten entschieden. Der Erfolg des Kampfes der Kurdinnen und Kurden auf dem Weg der Friedenspolitik und der demokratischen Politik wird für den Ausgang entscheidend sein. Und die Freiheit wird siegen.
Abdullah Öcalan ist Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und gilt als einer der wichtigsten politischen Repräsentanten der Kurdinnen und Kurden. Seit seiner Verschleppung aus Kenia 1999 und dem folgenden Schauprozess und der Verurteilung zum Tode – umgewandelt in lebenslange Haft ohne Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung – wird er in Totalisolation auf der Insel Imrali gehalten. Fast elf Jahre lang war er der einzige Gefangene dort.
Öcalan hat ausgiebig über Geschichte, Philosophie und Politik geschrieben und gilt als Schlüsselfigur für eine politische Lösung der kurdischen Frage. Da der Autor unter Kontaktsperre steht und viele Jahre lang weder seine Anwältinnen und Anwälte konsultieren noch Familienbesuch empfangen konnte, wurde dieser Gastbeitrag aus seinen Gefängnisschriften und aktuellen Erklärungen zusammengestellt. Zuletzt erschienen »Soziologie der Freiheit« (2020) und »Das freie Leben aufbauen – Dialoge mit Abdullah Öcalan« (2019).
Abdullah Öcalan ist Gründer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK).