26. September 2024
Rechte und Konservative geben sich gerne familienorientiert. Doch ihre Kürzungspolitik treibt immer mehr Kinder in die Armut.
Dinge, die als selbstverständlich gelten, etwa Geschenke zur Einschulung oder eine ausgewogene Ernährung, sind für viele nicht finanzierbar (Symbolbild).
Migration, Flucht, Mindestsicherung und Klimakrise – es ist nicht leicht, mit dem Thema Kinderarmut im österreichischen Wahlkampf durchzukommen. Zwar haben SPÖ und Grüne die Kindergrundsicherung zu einem zentralen Wahlversprechen gemacht, bestimmt wird die sozialpolitische Diskussion aber durch rassistische und klassistische Debatten im Boulevard rund um die Höhe der Mindestsicherung für eine syrische Familie mit sieben Kindern. Die reichweitenstärkste Zeitung des Landes macht insbesondere gegen Andreas Babler, den Vorsitzenden der SPÖ mobil – was nicht zuletzt an seiner Forderung nach Vermögens- und Erbschaftssteuern liegen könnte.
Dabei sind solche verteilungspolitischen Forderungen und der Ruf nach einer stärkeren Regulation im Bereich Wohnen, Energie und Lebensmittel aktuell sehr relevant. Österreich hat eine der höchsten Inflationen in Europa erlebt – besonders die Preise für Mieten, Lebensmittel und Energie sind stark gestiegen, was gerade Familien mit niedrigem Einkommen belastet. Denn das sind jene Bereiche, in denen Einsparungen schwer möglich sind. Die negativen Auswirkungen dieser Entwicklungen zeigen sich unter anderem in einer signifikanten Zunahme der absoluten Armut in Österreich, der eine sich immer weiter zuspitzende Vermögensungleichheit gegenübersteht. Österreich gehört mit Deutschland zu den Ländern mit der größten Vermögensungleichheit der Eurozone.
In Österreich lebte 2023 mehr als jedes fünfte Kind von Armut oder Ausgrenzung gefährdet. Das entspricht über 375.000 Kindern und Jugendlichen – 88.000 von ihnen leben unter den Bedingungen erheblicher materieller und sozialer Deprivation. Letztere Anzahl hat sich von 2022 auf 2023 verdoppelt. Das bedeutet, dass für sie viele Dinge, die für die meisten als »normal« gelten, nicht finanzierbar sind. Zu diesen gehören etwa eine ausgewogene Ernährung (jeden zweiten Tag Fisch, Fleisch oder eine vergleichbare vegetarische Alternative), Miete und andere Rechnungen sowie unerwartete Anschaffungen wie ein zweites Paar Schuhe. Im Falle von Kindern geht es aber auch darum, dass sie ihren Geburtstag feiern können, hin und wieder mit Kosten verbundenen Freizeitaktivitäten nachgehen oder zum kostenpflichtigen Schulausflug mitkommen können.
Ein Aufwachsen in Armut kann zu Ungleichheiten in allen Lebensbereichen führen. In Österreich sticht in diesem Zusammenhang vor allem die Vererbung von Bildungsabschlüssen und die geringe soziale Mobilität hervor. Das hängt neben der starken Involvierung der Eltern und der frühen Trennung in verschiedene Schulformen auch mit den Schulkosten zusammen: Eltern müssen pro Schulkind mit Kosten von rund 2.200 Euro pro Schuljahr rechnen, wie die Schulkosten-Studie der Arbeiterkammer zeigt. In Niederösterreich sind die Kosten besonders hoch, dort haben kürzlich ÖVP und FPÖ in der Landesregierung finanzielle Unterstützungen gekürzt.
»Medizinisches Personal erkennt schon bei Babys und Kleinkindern die gesundheitlichen Folgen von Armut.«
Wer dauerhaft in manifester Armut lebt, hat eine deutlich reduzierte Lebenserwartung: Das lässt sich etwa daran festmachen, dass die Wiener Bezirke noch immer beträchtliche Differenzen bei der Lebenserwartung aufweisen, wie das arbeitnehmerinnennahe Momentum Institut vorrechnet. Der Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Situation und Gesundheit betrifft nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche.
Mehr noch: eine Befragung der Volkshilfe Österreich und der Ärztekammer zeigt: Medizinisches Personal erkennt schon bei Babys und Kleinkindern die gesundheitlichen Folgen von Armut. Eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für einen schlechteren Gesundheitszustand macht armutsbetroffene Kinder damit auch vulnerabler für die gesundheitlichen Folgen der Klimakrise. Österreichweit fehlen zahlreiche Kinderärztinnen und Kinderärzte mit Kassenvertrag, monatelange Wartezeiten auf einen Therapieplatz sind neue Realität.
In einem zweijährigen Forschungsprojekt der Volkshilfe haben wir uns der Frage gewidmet, wie Kinder und Jugendliche ihre Situation erleben. Wir konnten zeigen, dass sie ganz stark existenzorientiert sind – also Wohnen und Essen eine besonders hohe Priorität gegenüber kindspezifischen Wünschen geben: »Dacht mir jetzt, okay, wenn's jetzt nicht in Erfüllung geht, meine Mutter braucht das Geld, damit wir Essen ham und so.«
Zum Teil wird Mangel als permanente Bedrohung erlebt. Kinder sehen, dass ihre Eltern damit kämpfen, alle – auch die überlebensnotwendigen – Kosten zu decken. Kinder wissen schon im Grundschulalter sehr genau um die finanzielle Situation ihrer Familie. Sie fühlen sich mitverantwortlich für ihr Durchkommen. Sie denken Preise mit, kennen die Kosten für Wohnen und Energie oder auch für ihre Geburtstagsgeschenke.
»Kinderarmut in einem der reichsten Länder der Welt ist kein Zufall, sondern ein Produkt politischer Entscheidungen.«
Armutsbetroffene werden in unserer Gesellschaft abgewertet, diskriminiert und beschämt. Die Kinder in unserem Forschungsprojekt erlebten Abwertung nicht nur mit, sondern beziehen sie zum Teil auch auf sich. Sie erleben auch Mobbing, wie eine von vielen Erzählungen der Kinder zu Projektbeginn zeigt: »[Heute] in der Schui, hams mi gefragt: Hast as Geld mit? Und i hab dann gsagt, ah na mei Mama bringt's ma noch, weil wir ham ka Göd daham ghobt, dann homs olle zum lochen angfongan.« (»Heute in der Schule bin ich gefragt worden: ›Hast Du das Geld mit?‹ Und ich habe dann gesagt, nein, meine Mama bringt es mir noch, weil haben heute kein Geld zu Hause gehabt. Dann haben alle angefangen zu lachen.«)
Kinderarmut in einem der reichsten Länder der Welt ist kein Zufall, sondern ein Produkt politischer Entscheidungen. Deutlich sichtbar wird dies anhand der neoliberalen Entwicklungen seit den 1990er Jahren, die zum Abbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme führten und damit die Expansion des Sozialstaates behinderten. Die Finanz- und Wirtschaftskrise befeuerte zusätzlich die Kürzungslogik bei Sozialausgaben und Investitionen in kommunale, öffentliche Infrastruktur. Dies führte unter anderem zu einer Krise kindspezifischer Infrastruktur, deren negative Effekte beispielsweise während der Pandemie sichtbar wurden.
Gerade hinsichtlich der Chancengleichheit von Kindern sind sozialpolitische Investitionen essenziell. Nach wie vor fehlt es an wichtigen Angeboten für Kinder, die seit langem gefordert und deren positive Wirkung unbestritten sind, etwa ein kostenloses Schulessen. Dabei ist Österreich, wie alle europäischen Mitgliedstaaten auch, dazu angehalten, im Rahmen der europäischen Garantie für Kinder eine kostenfreie, gesundheitsfördernde Mahlzeit pro Schultag für alle Schülerinnen und Schüler sicherzustellen.
»Eine Koalition zwischen ÖVP und FPÖ hat schon mehrfach bewiesen, dass Kinder darin keine Lobby haben.«
Eine Parteienbefragung der Volkshilfe zeigt, dass es durchaus Zuspruch für diese Investitionen gibt, ihnen jedoch von konservativen und rechtspopulistischen Parteien keine Priorität gegeben oder sie gar abgelehnt werden. Schulessen ist auch vor dem Hintergrund relevant, als dass 2023 knapp 12 Prozent der Menschen in Österreich von moderater oder schwerer Ernährungsarmut betroffen waren.
Die volkswirtschaftlichen Kosten einer Politik, die zu wenig gegen Kinderarmut unternimmt, wurden von der OECD für Österreich mit 17,2 Milliarden Euro jährlich beziffert. Das entspricht 3,6 Prozent des österreichischen BIP. Doch Armut hat eine gesellschaftliche Funktion in unserer gegenwärtigen Gesellschaftsformation – die der Abschreckung und Disziplinierung zur Erwerbsarbeit. In der politischen Debatte wird Armut kleingeredet, rassistisch und klassistisch gewendet und mit dem fehlenden Willen zur Lohnarbeit legitimiert – deutlich wird dies besonders in den Reaktionen auf das Wahlprogramm des sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Andreas Babler, der den Kampf gegen Kinderarmut ins Zentrum seines Wahlkampfes gestellt hat. Auch die jüngst ausgebrochene Debatte um die Mindestsicherung zeigt deutlich, wie Armut und prekäre Lebenssituationen auf fehlenden Arbeits- und Leistungswillen zurückgeführt und die Entstehung von Armut individualisiert wird.
Ähnlich wie in Deutschland versuchen konservative und liberale Think-Tanks oder Forschende das Konzept der relativen Armut als Messinstrument (und in weiterer Folge die Unterstützung für armutsgefährdete Haushalte und Familien) in Frage zu stellen. So werden jene von absoluter Armut betroffenen 88.000 Kinder und Jugendliche, gegen jene ausgespielt, deren Eltern zwar zu wenig für einen angemessenen Lebensstil verdienen, aber genug, um einige Grundbedürfnisse zu decken. In der politischen Debatte werden die Messinstrumente, die das familienpolitische Versagen nach knapp fünfzehn Jahren ÖVP-Ressortzuständigkeit belegen, kritisiert. Besser wäre es, an anderen Schrauben der Sozialstatistik zu drehen: So gibt es bis heute keine effektive Reichtumsmessung – weder in Österreich noch in Deutschland.
Statt Armut mit Maßnahmen zur Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu bekämpfen, werden die Armen beschämt. Statt über die Übersetzung unseres Bildungssystems vom 19. ins 21. Jahrhundert zu diskutieren, werden Debatten über das fehlende Nikolaus-Fest oder die St. Martins-Feiern in Wiener Kindergärten geführt. Es ist kein Zufall, dass gerade die Wiener Kindergärten so oft Thema des Boulevards von FPÖ und ÖVP sind. Hier treffen Adultismus, die Feindschaft gegenüber fortschrittlicher Frauen- und Familienpolitik, Klassismus, Rassismus, Kulturkampf und der ausgeprägte Hass auf die Stadt aufeinander.
Der Weg Österreichs zur Republik der Kinderrechte ist noch weit: Eine Koalition zwischen ÖVP und FPÖ hat schon mehrfach bewiesen, dass Kinder darin keine Lobby haben – denkt man etwa an die Kürzungen bei den Kinderzuschlägen in der Mindestsicherung oder die massiven Angriffe auf die Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen. Die multiplen Krisen unserer Zeit bringen Kinder und Jugendliche unter Druck – es wird sich am Wahltag zeigen, ob sich Mehrheiten abseits von ÖVP und FPÖ ergeben, die Kinder ins Zentrum ihrer Politik stellen und Österreich durch die Einführung einer echten Kindergrundsicherung zum ersten Land machen, das Kinderarmut abschafft.