17. November 2023
Nach den vorerst gescheiterten Lohnverhandlungen der Metaller kommt es in Österreich zu Streiks. Das ist ungewöhnlich – und könnte Arbeitskämpfe im Land langfristig verändern.
Teilnehmer der Aktion der ÖGB »Hand in Hand gegen die Teuerung« mit einer Menschenkette rund um die Bann-Meile des Parlaments in Wien, 20. September 2023.
Über das kleine Österreich bestehen viele Klischees, eines davon hat sich in der Vergangenheit jedoch immer wieder bewahrheitet: Herr und Frau Österreich sind eher phlegmatisch, sie jammern und beschweren sich viel, lassen Verschlechterungen jedoch eher über sich ergehen, als sich auf ihre Hinterfüße zu stellen. Doch im streikfaulen Alpenland werden gerade Lohnkämpfe ausgetragen, die mit den üblichen Traditionen brechen könnten.
Um verstehen zu können, was die aktuellen Streiks der Beschäftigten in der österreichischen Metallindustrie bedeuten, braucht es zunächst eine kurze Klärung der Ausgangslage. Denn im Gegensatz zu anderen Ländern, gibt es in Österreich keinen gesetzlichen Mindestlohn, sondern nur die Mindestlöhne, die in den Tarifverträgen der einzelnen Branchen festgelegt sind. Umso wichtiger sind die Tarifverhandlungen, in denen die Arbeitgeberseite auch diese Woche, nach bereits sechs Verhandlungsrunden, nur ein beschämendes Angebot offeriert hat, das massive Einkommensverluste nach sich ziehen würde.
Anders als beispielsweise in Deutschland, hat sich dieses System der alles entscheidenden Tariflohnverhandlungen bis heute gehalten, weil die Abdeckung der Geltungsbereiche durch die Tarifverträge im internationalen Vergleich sehr hoch ist. Rund 98 Prozent der Branchen unterliegen einem Tarifvertrag und somit auch dem darin festgelegten Mindestlohn. Im Vergleich dazu liegt die Abdeckung durch Tarifverträge am deutschen Arbeitsmarkt nur bei rund der Hälfte aller Branchen; in Spanien, wo von Gewerkschaften nur auf Unternehmensebene verhandelt werden darf, gar nur bei rund 15 Prozent. Keinem Tarifvertrag unterliegen in Österreich tendenziell junge Berufsbilder und neue Branchen. Dazu zählen etwa das Privatfernsehen, Modell- und Eventagenturen, Tanzschulen, Fitnesscenter, Solarien, Sportbetriebe, sogenannte Tagesmütter, werdende Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, oder Vergnügungsbetriebe wie Buchmacher, Wettbüros und Glücksspiellokale.
»Nach sechs erfolglosen Verhandlungsrunden, in denen sich die Wirtschaftskammer nur minimal bewegte, wurde diese Woche zum Streik aufgerufen.«
Nun könnte man meinen, dass dieser Umstand den Gewerkschaften in Österreich hilft, allerdings ist das nur bedingt der Fall, denn die Gewerkschaften verhandeln die Kollektivverträge nicht nur für ihre Mitglieder wie in Deutschland, sondern für alle Beschäftigten in der jeweiligen Branche. Heute ist nur noch weniger als ein Drittel der Beschäftigten Mitglied in einer Gewerkschaft, während es in den 1980er Jahren noch rund 60 Prozent waren. Wie stark der Einfluss der Politik auf die Mitgliederstärke von Gewerkschaften wirkt, zeigen die nordischen Länder Europas Finnland, Schweden und Dänemark. Dort sind rund 70 Prozent der Beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder, weil der Gesetzgeber die Mitgliedschaft aktiv fördert. Zum Beispiel, indem nur für Mitglieder der Gewerkschaft ein Anspruch auf Rente oder arbeitsrechtliche Vergünstigungen besteht. In Österreich gibt es zusätzlich nur in rund einem Drittel aller Unternehmen einen Betriebsrat, was die Mobilisierungskraft der Gewerkschaften, die immer stark auf ihre Betriebsräte setzen, natürlich einschränkt.
Zusätzlich werden Lohnerhöhungen von den Sozialpartnern immer erst nachträglich verhandelt. Das bedeutet Preissteigerungen, wie die zuletzt explodierenden Energie- und Lebensmittelpreise werden bei den Lohnerhöhungen nur bis Beginn der Verhandlungen berücksichtigt. Auch wenn absehbar ist, dass die Preise danach weiter steigen werden. Das erschwert die Verhandlungsposition der Gewerkschaften gerade dieses Jahr massiv, da die Inflation im letzten Jahr historisch hoch bei durchschnittlich 9,6 Prozent lag und die Gewerkschaft zumindest eine Lohnerhöhung im gleichen Ausmaß erreichen muss, damit es zu keinen Reallohnverlusten bei den Beschäftigten kommt.
Die aktuelle Wirtschaftslage erschwert die Bedingungen für die Gewerkschaft massiv, denn natürlich warnt die Arbeitgeberseite wie immer vor Geschäftseinbußen im kommenden Jahr – nur dieses Mal wird sie damit sogar recht behalten. Ein weiterer Umstand ist, dass die Kaufkraft der tariflichen Mindestlöhne seit 2016 bereits um durchschnittlich 4,6 Prozent gesunken ist. So sind die Preise seither im Schnitt um rund 31 Prozent gestiegen, die Löhne durchschnittlich aber nur um 24,7 Prozent angehoben worden. Die arbeitende Bevölkerung konnte sich also schon zuvor, unabhängig von den massiven Teuerungen im letzten Jahr, weniger mit ihrem Lohn kaufen als noch vor sechs Jahren. Eine Schätzung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) ergibt sogar, dass in kaum einem anderen Land der Europäischen Union das Lohnwachstum derartig schwach ausgefallen ist wie in Österreich. Wird zusätzlich noch die Inflation in die Rechnung miteinbezogen, landet Österreich sogar auf dem vorletzten Platz aller Mitgliedsstaaten.
Erschwerend hinzu kommt, dass die Löhne in Österreich sehr ungleich verteilt sind. Gerade im unteren Einkommensdrittel sind die Löhne spürbar gesunken. Der allgemeine Wohlstandsverlust der letzten Jahre trifft dieses Bevölkerungsdrittel so stark, dass es einem Wocheneinkauf im Supermarkt oder der nächsten Quartalsabrechnung für Strom oder Gas nicht mehr sorglos entgegensehen kann. Die Erwartungshaltungen an die Gewerkschaften und die kommenden Lohnabschlüsse sind entsprechend hoch und gerade bei den Abschlüssen der Metaller wird der Trend für die gesamte Herbstrunde vorgegeben. Das sind harte Voraussetzungen, die die Gewerkschaften zu einer moderaten Einstiegsforderung von 11,6 Prozent veranlasst haben. Die Arbeitgeberseite reagiert allerdings alles andere als moderat, sondern radikal: Absurde 2,5 Prozent Lohnerhöhung plus einer für die Beschäftigten teuren Einmalzahlung oder einem zweijährigen Abschluss wurden ihrerseits auf den Tisch gelegt. Wohl wissend, dass dieses Angebot nur zur empörten Ablehnung durch die Belegschaften führen kann.
»Bisher gibt es in Österreich keine Streikkultur, nun werden wir sie erlernen müssen.«
Übersetzt bedeutet das, die Arbeitgeber haben den Fehdehandschuh ausgepackt und wollen es wissen. Denn würde man sich auf diesen Abschluss einigen, blieben die Beschäftigten in der Metallindustrie auf einem dauerhaften Brutto-Reallohnverlust von minus 3,3 Prozent sitzen, der bis zum Ende ihres Erwerbslebens nachwirken würde. Im Schnitt würde dieses Minus nach nur zehn Jahren bereits über 20.000 Euro weniger Lohn bedeuten. Aber die Wirtschaftskammer weiß, dass Herr und Frau Österreich nicht gerne streiken. Das zeigt sich gerade im europäischen Vergleich. In den letzten zehn Jahren gab es durchschnittlich 96 Streiktage pro Jahr je 1.000 Beschäftigte in Belgien und 92 in Frankreich, während in unserer kleinen Alpenrepublik im Durchschnitt nur an einem Tag gestreikt wurde. Die wirklich großen Arbeitskämpfe in Österreichs Geschichte der Zweiten Republik lassen sich an einer Hand abzählen. Der größte Streik im Jahr 2003, an dem sich rund 800.000 Beschäftigte beteiligten, schaffte es nicht, die Pensionsreform der ÖVP-FPÖ Regierung zu verhindern. Aufgrund dieser Reform leiden heute insbesondere Frauen unter Altersarmut.
Dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) blieb keine Wahl. Nach sechs erfolglosen Verhandlungsrunden, in denen sich die Wirtschaftskammer nur minimal bewegte, wurde diese Woche zum Streik aufgerufen. Bis zum 17. November wird es in rund 200 Betrieben der Metalltechnischen Industrie eintägige Arbeitsniederlegungen geben. Und auch in einer weiteren, noch viel größeren Branche, dem Handel, wo für rund 430.000 Beschäftigte verhandelt wird, zeichnet sich ein größerer Konflikt ab. Denn dort bleibt die Arbeitgeberseite selbst nach der zweiten Verhandlungsrunde gleich jegliches Angebot schuldig. Die Zeiten der langjährigen und selbstverständlichen Großkoalitionäre und Sozialpartnerschaftlicher Einigkeit sind offensichtlich vorbei. Es läuft auf ein Kräftemessen hinaus, dem sich die Gewerkschaften nicht mehr gesichtswahrend entziehen und das die arbeitende Bevölkerung nicht mehr schadlos hinnehmen kann.
Bisher gibt es in Österreich keine Streikkultur, nun werden wir sie erlernen müssen. Es steht viel auf dem Spiel, denn nicht nur der allgemeine Wohlstand nimmt inzwischen ab, sondern auch das gesamtgesellschaftliche Klima wird rauer. Die zunehmende Radikalisierung breiter Bevölkerungsteile hat bereits in den letzten Jahren begonnen, das beste Rezept dagegen wäre eine Politik, die ein Gefühl der Sicherheit schafft. Eine starke soziale Absicherung wirkt gegen Demagogie und gegen Armut. Wenn sich die Fehler, die uns die österreichische Geschichte gelehrt hat, nicht wiederholen sollen, dann müssen wir jetzt lernen, Konflikte richtig zu führen. Das bedeutet auch den Mut für einen harten Arbeitskampf aufzubringen.
Veronika Bohrn Mena war zehn Jahre lang in der Gewerkschaft für prekäre Beschäftigung zuständig, ist Sachbuchautorin und hat 2021 die gemeinnützige Bundesstiftung COMÚN gegründet.