08. November 2022
Der DEFA-Klassiker »Ich war neunzehn« erzählt in ungeschöntem Realismus und eindrucksvollen Bildern von den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs – ein Antikriegsfilm, der seiner Zeit voraus war.
Die erste Szene des Films zeigt eine Landschaft, in der grauer Himmel und schneebedeckte Erde miteinander verschmelzen. Vogelgezwitscher kündet vom nahenden Frühling. Geräusche eines Lastwagens, Männerstimmen, die einander auf Russisch etwas zurufen. Deutsche Untertitel. Der Motor ist heiß gelaufen, braucht Wasser. An dem Wagen ist ein Lautsprecher befestigt, aus dem eine Stimmt tönt: Sie ruft deutsche Soldaten auf, sich zu ergeben, um »weiteres Blutvergießen« zu verhindern. Dazu nah im Bild ein erhängter, junger Deutscher, der grausig auf einem Floß drapiert einen Fluss entlang treibt. Vor seiner Brust ein Schild: »Deserteur. Ich bin ein Russenknecht.«
Ein Datum wird eingeblendet: 16. April 1945. Der junge Soldat Gregor Hecker in sowjetischer Uniform, mit einem Käppi mit Hammer und Sichel auf dem Kopf und einer Papyrossa, der typischen russischen Zigarette, zwischen den Lippen. Zusammen mit zwei anderen Rotarmisten, Sascha und Tschingis, zieht er mit dem Agitationswagen über Land. Eine Off-Stimme erzählt: »Ich sehe Straßen mit deutschen Schildern. Das ist meine Heimat, sagt man. Ich war acht Jahre alt, als wir Deutschland verlassen mussten. Ich bin in Moskau aufgewachsen. Dort lebt meine Mutter.« Dann, plötzlich, Häuserkampf: Gregor ringt mit einem deutschen Soldaten, der vorgab, sich zu ergeben, und wird beinahe erschossen, als Sascha ihn rettet.
Ich war neunzehn ist ein autobiographischer Film – er stützt sich auf die persönliche Geschichte des Regisseurs Konrad Wolf, der als Sohn des kommunistischen Arztes und Schriftstellers Friedrich Wolf mit seiner Familie 1933 in die Sowjetunion emigrierte, als Leutnant der Roten Armee nach Deutschland zurückkehrte und die letzten Tage des Krieges im Umland von Berlin erlebte. Als deutscher Muttersprachler war er da vor allem als Agitator für die deutschen Soldaten und die Bevölkerung tätig. Aufgrund seiner doppelten Sozialisation hatte Konrad Wolf eine besondere Perspektive auf den Zusammenbruch Deutschlands und seine Befreiung.
Zusammen mit dem für seine Pointiertheit und seinen erfrischenden Realismus bekannten Filmautor Wolfgang Kohlhaase schrieb Wolf die Reise der Hauptfigur Gregor nach dem Prinzip der Stationen-Dramaturgie. Nach den ersten, ereignisreichen fünf Minuten des Films ist man sofort hineingezogen in jene Zeit. Differenziert die Kameraarbeit: Sie zeigt extensive Aufnahmen von Landschaften wie intensives Kammerspiel. So erscheint sowohl eine große Landstraße, auf der die Kolonne weiterzieht, aus der Luftperspektive als auch das Wageninnere durch eine kleine bewegte Handkamera, die dokumentarfilmartig immer neue Ausschnitte entdeckt. Mittendrin Gregor, der an der Schulter eines befreundeten Soldaten schläft.
Nächste Station: Eine kleine Stadt, deren Häuser voller weißer Tücher hängen – Kapitulation in Bernau. Hier war Konrad Wolf tatsächlich für einige Tage Interims-Kommandant. Mit großer Erzähllust wird ein vielfältiges Figurenensemble aufgeführt: ein Selbstmörder, ein junges deutsches Mädchen aus Pommern und der Bürgermeister, der um seinen Posten bangt und mit viel roter Farbe aus einer Hakenkreuzfahne eine Arbeiterfahne zu machen versuchte – erfolglos. Die Rotarmisten ziehen die Fahne wieder ein und werfen den Nazi-Bürgermeister raus. Ein alter Sozialdemokrat soll an seiner Stelle Bürgermeister werden.
Eine russische Mitstreiterin von Gregor schleudert ihren Zorn über deutsche Verbrechen dem pommerschen Mädchen entgegen: »Verbrannte Erde – nix verstehen?« Die Deutsche schreit zurück: »Was kann ich denn dafür? Und selbst wenn es so war – jetzt hilft mir kein Mensch!« In diesem kurzen Wortgefecht kristallisiert der Film meisterhaft den Konflikt zwischen Überlebenden des deutschen Vernichtungskriegs und unwissenden Deutschen, die weder Empathie mit den Opfern noch besonderes Interesse für die eigene kollektive Schuld aufbringen.
Ein Land, das Stück für Stück erobert wird und wo die politischen Machtverhältnisse schnell wechseln, birgt auch eine Menge Situationskomik. So finden im bereits eroberten Bernau Gregor und Sascha ein voll funktionierendes Büro der Wehrmacht vor. Schreibmaschinen klappern, staunende Blicke. Ein Offizier packt seine Aktentasche und will sich ordnungsgemäß am Telefon in die Gefangenschaft abmelden. Am anderen Ende der Leitung schreit der Vorgesetzte: »Seid ihr alle besoffen? Hier sitzt uns der Iwan im Nacken und ihr lasst euch da volllaufen.« Erst eine telefonisch durchgegebene Schimpftirade auf Russisch räumt – deutsch untertitelt – jede Unklarheit aus.
Ein anderes, eher tragischen Missverständnis erzählt eine Szene mitten auf einer Landstraße – ein zurückgelassener Soldat der Wehrmacht mit zerschossenen Augen hält den Rotarmisten Hecker für einen Deutschen der Wehrmacht und spricht mit ihm wie mit einem Kumpel. Aufflackernde Gefechte, naher Frieden und Tod in letzter Minute liegen dicht beieinander in diesen Tagen. Eben noch machen die Rotarmisten Rast auf einer Wiese, scherzen und waschen sich – im nächsten Moment wird einer von ihnen von Deutschen erschossen. Das fängt der Film in Zeitlupe ein – es erinnert ein bisschen an das berühmte Foto vom »Sterbenden Loyalisten« in Spanien 1936 von Robert Capa.
Zwei weitere Aspekte sind Wolf wichtig: der Durchhalte-Modus von Wehrmacht und SS, die zum Ziel hat, auch in aussichtsloser Lage und zum Preis des Lebens der eigenen Leute weiter zu kämpfen - und die Verbrechen in den deutschen Konzentrationslagern. Dafür inszenierte er zwei lange und intensive Episoden: eine in der Zitadelle Spandau (nachgebaut, denn nach Westberlin kam man vom Osten aus nicht mehr), in die Parlamentäre der Roten Armee geschickt werden, um Offiziere von Wehrmacht und SS zum Aufgeben zu bewegen, und eine im KZ Sachsenhausen. In beiden Episoden setzte Wolf auf historische Faktentreue.
Die KZ-Episode besteht aus mehreren Teilen. Einmal zeigt sie den Konflikt unter den Rotarmisten selbst, ob man mutmaßliche Täter aus den Wachmannschaften einfach erschießen oder erst die Untersuchungen abwarten soll. Dann wird ein Stück echter Dokumentarfilm einmontiert, der die Filmhandlung regelrecht unterbricht. Es sind die Aussagen eines Wachhabenden des KZ Sachsenhausen, der vor der Kamera detailliert beschreibt, wie Gefangene in den Gaskammern und per Genickschuss ermordet wurden. Wolf wechselt wieder zum Spielfilm, indem er Gregor in einer Dusche zeigt, aus der – glücklicher Weise – Wasser kommt. Dazu gehört noch eine Spielsequenz, in der ein schöngeistiger Intellektueller befragt wird, der nahe der Stätte des Massenmordes gewohnt hat und den Typ des sich neutral haltenden Intelligenzlers verkörpern soll. Diese Sequenz ist als einzige im Film etwas belehrend geraten.
Vom Dokument zur Fiktion und wieder zurück zu wechseln war für Konrad Wolf nicht untypisch. Schon in Der geteilte Himmel, dem Klassiker über das geteilte Berlin aus Sicht des Ostens, montierte er in bewegender Weise eine Zugfahrt mit der Nachricht, dass Juri Gagarin gerade als erster Mensch im Weltall ist – und mit dessen berühmten Worten über das Aussehen der Erde aus dem All.
Die Sequenz in der Zitadelle Spandau war dem Regisseur aus persönlichen Gründen besonders wichtig. Wadim Gaiman, ehemaliger Student der deutschen Sprache und jetzt Dolmetscher in der Roten Armee, wird zusammen mit Gregor als Parlamentär zu Übergabeverhandlungen mit Wehrmacht und SS in die Zitadelle entsandt. Es gelingt ihnen, die Deutschen zur Aufgabe zu bewegen und so den Tod von Hunderten dort verschanzten Zivilistinnen und Zivilisten zu verhindern.
Wadim Gaiman hieß in Wirklichkeit Wladimir Gall und war ein enger Freund und Kampfgefährte von Konrad Wolf. Mit dieser Sequenz setzte der Regisseur ihm ein Denkmal. So viele Menschen wie möglich aus der Zitadelle zu retten, war Galls Leistung. Das wird sinnlich konkret in einer kurzen, aber sehr aufwendigen Szene: Als deutsche Offiziere durch die Zitadelle gehen, sieht man Frauen, Kinder, alte Menschen und auch abgerissene Soldaten zusammengepfercht und hilflos im langen feuchten Tunnel sitzen, ausgeliefert den Entscheidungen der Militärs.
In Ich war neunzehn ist wenig Musik zu hören, nur die Lieder von den kratzigen alten Schallplatten des Plattenspielers auf dem LKW. Aber eine Musik-Szene gehört zu den Höhepunkten des Films: Ein Ex-Häftling, den sie zurücklassen müssen, wünscht sich, dass sie ihm, während der Abfahrt, über Lautsprecher »nochmal das eine Lied« aus dem Spanischen Bürgerkrieg spielen. Das hätte leicht kitschig werden können. Nicht aber in diesem Film. Konrad Wolf macht daraus eine weitere hochdynamische Szene mit rumpelnd fahrendem Lastwagen, innerhalb der Einstellung wechselnden Bildausschnitten und dem Lied der »Jaramafront«, gesungen von Ernst Busch. Das Lied schmettert, die einsame Gestalt wird immer kleiner; das ist revolutionäres Pathos, das unter die Haut geht. Und es bleibt das einzige in diesem eher nüchternen Film.
Der Filmemacher und der Funktionär
Konrad Wolf hatte aufgrund seiner Biographie eine privilegierte Stellung in der DDR, stand der Partei- und Staatsführung nah und war auch persönlich vertraut mit Erich Honecker. Dies ermöglichte ihm Tabubrüche in Ich war neunzehn, wie den Hinweis auf Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten – wenn auch nur durch einen kleinen Satz des Mädchens aus Pommern (»Lieber mit einem als mit jedem.«) oder den Streit der Rotarmisten untereinander über den Umgang mit Rache und Selbstjustiz. Lebendiger Realismus voller Widersprüche und ohne Rücksicht auf ideologische Tabus, witzig und tragisch, berührend und rau – das macht diesen Film aus.
Wolf und Kohlhaase ging es darum, Geschichte anders zu erzählen – ohne falsches Heldentum, mit den Elementen von Alltag, der auch im Krieg stattfindet. Sie wollten mit dem Publikum in Austausch treten über das, was gewesen war, und darüber, wofür es sich in der Gegenwart von 1968 zu kämpfen lohnt. Dass man die deutsche Bevölkerung »mitnehmen« müsse, auch in den Sozialismus, und nicht einfach nur unterweisen, ist eine der Kernbotschaften von Ich war neunzehn.
Unvergesslich der Gefühlsausbruch des gerade befreiten KZ-Häftlings auf der Feier mit Anführern der Roten Armee, die schon ein wenig das Gravitätische späterer Machtrituale vorwegnimmt. Man müsse »alles, was Uniform trägt«, mit »Stumpf und Stiel« ausrotten, schreit der Mann, »sonst fängt das in zwanzig Jahren wieder an«, und bekommt von dem sowjetischen General im Raum eine kritische Antwort. »Er versteht Ihre Gefühle« übermittelt der Dolmetscher, »aber Rache ist ein schlechter Ratgeber«.
Als überzeugter Sozialist war Wolf doch auch zunehmend verzweifelt über den realen Sozialismus, der ihn umgab. Der Kalte Krieg führte zur Vernachlässigung jener Probleme, die der Sozialismus zu lösen hatte. Außerdem erlebte der Stalinismus zur Drehzeit des Films, 1967, auch in der DDR eine neue Blüte. Das 11. Plenum des ZK der SED, auch als »Kahlschlag-Plenum« bekannt, lag erst zwei Jahre zurück. Dort wurden Filme, Bücher und Stücke angeprangert. Große Regisseure wie Frank Beyer und Kurt Maetzig, Autoren wie Stefan Heym und Heiner Müller gehörten zu den Angeklagten. Ein Wortführer war Erich Honecker, der sich schon als Anwärter für das höchste Amt im Staat empfahl.
Wolf war gefangen in einem Dilemma zwischen Stalinismus-Kritik und Honecker-Nähe, zwischen seiner Forderung nach Kunstfreiheit – die er als Regisseur mehrfach direkt thematisierte – und seiner eigenen hohen Funktionärsstellung als Präsident der Akademie der Künste, die er von 1965 bis zu seinem Tod 1982 innehatte. In dieser Eigenschaft unterstützte er später die Ausbürgerung Wolf Biermanns, die ein Fanal für den Exodus vieler Spitzenkräfte der DDR-Kunstszene wurde.
Als Filmemacher dagegen war Konrad Wolf kritisch und unbestechlich. Entsprechend ist Ich war neunzehn nicht nur filmisch einer der besten DDR-Klassiker, sondern darüber hinaus Ausdruck der Sehnsucht seiner Macher, die Demokratie im Sozialismus möge sich durchsetzen – und das Wissen um die deutsche Schuld im Zweiten Weltkrieg möge Antrieb sein, an einer besseren Welt zu bauen.