05. Oktober 2022
Der kolumbianische Präsident Gustavo Petro forderte bei der UN-Vollversammlung soziale, wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit ein. Wir veröffentlichen eine Übersetzung seiner Rede.
Gustavo Petro bei seiner Rede von den Vereinten Nationen, New York, 20. September 2022.
IMAGO / XinhuaIch komme aus einem der drei schönsten Länder der Welt. Dort gibt es eine Explosion des Lebens. Tausende von bunten Arten in den Meeren, am Himmel und auf dem Land. Ich komme aus dem Land der gelben Schmetterlinge und der Magie. Dort, in den Bergen und Tälern des Grüns, fließen nicht nur reichliche Gewässer, sondern auch die Ströme des Blutes. Ich komme aus einem Land blutiger Schönheit.
Mein Land ist nicht nur schön, es ist auch ein Ort der Gewalt.
Wie kann Gewalt neben der Schönheit auftauchen? Wie kann die Artenvielfalt des Lebens mit den Tänzen des Todes und des Schreckens auftreten? Wer ist schuld daran, dass der Zauber durch Terror zerstört wird? Wer oder was ist dafür verantwortlich, dass das Leben in den täglichen Entscheidungen im Namen der Bereicherung und der Interessen ertrinkt? Wer führt uns als Nation und als Volk ins Verderben?
Mein Land ist schön, weil es den Amazonas-Regenwald, den Chocó-Regenwald, die Gewässer, die Anden und die Ozeane hat.
In diesen Wäldern wird planetarischer Sauerstoff erzeugt und atmosphärisches CO2 aufgefangen. Eine dieser CO2-aufnehmenden Pflanzen ist – unter Millionen von Arten – eine der am meisten verfolgten auf der Erde. Um jeden Preis wird ihre Vernichtung angestrebt: Es handelt sich um eine Pflanze aus dem Amazonasgebiet, die Koka-Pflanze, die heilige Pflanze der Inkas.
Wie an einer paradoxen Kreuzung: Der Regenwald, den man zu retten versucht, wird gleichzeitig zerstört. Um die Kokapflanze zu vernichten, werden Gifte eingesetzt, Glyphosat wird massenhaft ins Wasser gesprüht, Kokabauerinnen und Kokabauern werden verhaftet und eingesperrt. Für die Zerstörung oder den Besitz von Kokablättern werden eine Million Lateinamerikaner getötet und zwei Millionen Afroamerikaner in Nordamerika inhaftiert. »Vernichtet die Pflanze, die tötet!«, rufen sie aus dem Norden, »vernichtet sie!« Aber die Pflanze ist nur eine Pflanze, eine mehr unter den Millionen von Arten, die sterben, wenn das Feuer auf den Regenwald losgelassen wird.
Die Zerstörung des Regenwaldes, des Amazonas, ist zum Motto von Staaten und Geschäftsleuten geworden. Der Aufschrei der Wissenschaftler, die den Regenwald als eine der großen klimatischen Säulen bezeichnen, spielt keine Rolle. Für die Machtverhältnisse in der Welt sind der Regenwald und seine Bewohnerinnen selbst schuld an der Plage, die sie befällt. Die Machtverhältnisse werden heimgesucht von der Sucht nach Geld, um sich selbst zu verewigen, nach Öl, nach Kokain und nach den härteren Drogen, um sich weiter zu betäuben.
Nichts ist heuchlerischer als der Diskurs zur Rettung des Regenwaldes.
Der Regenwald brennt, meine Herren, während ihr Krieg führt und mit ihm spielt. Der Regenwald, die klimatische Säule der Welt, verschwindet mit seinem ganzen Leben. Der große Schwamm, der das CO2 des Planeten bindet, verschwindet. Der rettende Regenwald wird in meinem Land als Feind gesehen, der besiegt werden muss, als Unkraut, das ausgerottet werden muss. Der Raum der Koka und der Bauern, die sie anbauen, weil sie nichts anderes anbauen können, wird verteufelt. Ihr seid nur an meinem Land interessiert, um Gifte in die Regenwälder zu pumpen, die Männer ins Gefängnis zu werfen und die Frauen auszugrenzen. Ihr seid nicht an der Bildung der Kinder interessiert, sondern daran, die Regenwälder zu vernichten und Kohle und Öl aus den Eingeweiden des Landes zu gewinnen. Der Schwamm, der die Gifte aufsaugt, sei nutzlos, sie pumpen lieber noch mehr Gifte in die Atmosphäre.
Wir dienen dazu, die Leere und Einsamkeit ihrer eigenen Gesellschaft zu rechtfertigen, die sie dazu bringt, in einer Blase von Drogen zu leben. Wir kaschieren ihre Probleme, weil sie sich Veränderungen verweigern; es ist besser, dem Regenwald, seinen Pflanzen und seinen Menschen den Krieg zu erklären.
Während sie die Regenwälder verbrennen lassen, während Heuchler die Pflanzen mit Giften jagen, um die Katastrophen in ihren eigenen Gesellschaft zu verbergen, verlangen sie von uns immer mehr Kohle, immer mehr Öl, um die andere Sucht zu befriedigen: die nach Konsum, nach Macht, nach Geld.
Was ist giftiger für den Menschen: Kokain, Kohle oder Öl? Das Diktat der Macht hat angeordnet, dass Kokain Gift ist und verfolgt werden muss, auch wenn es nur wenige Todesfälle durch Überdosierung verursacht, und mehr durch die Mischungen, die in der erzwungenen Heimlichkeit hergestellt werden. Gleichzeitig müssen aber Kohle und Öl geschützt werden, auch wenn ihr Einsatz die gesamte Menschheit auslöschen könnte. Das sind Dinge der globalen Macht, Dinge der Ungerechtigkeit, Dinge der Irrationalität, denn die globale Macht ist irrational geworden.
Sie sehen in der Üppigkeit des Regenwaldes, in seiner Lebenskraft, das Lustvolle, das Sündige; den schuldigen Ursprung der Traurigkeit ihrer Gesellschaften, durchdrungen von dem tiefen, unbegrenzten Zwang zu besitzen, zu haben und zu konsumieren. Wie kann man die Einsamkeit des Herzens verbergen, seine Trockenheit inmitten von lieblosen Gesellschaften, die so konkurrenzfähig sind, dass sie die Seele in der Einsamkeit gefangen halten? Nur dadurch, dass man die Schuld auf die Pflanze, den Menschen, der sie anbaut, und die Geheimnisse der Freiheit des Regenwaldes schiebt. Nach Meinung der irrationalen globalen Macht ist es nicht die Schuld des Marktes, der die Existenz einschränkt, sondern die des Regenwaldes und der Menschen, die ihn bewohnen.
Die Bankkonten sind grenzenlos geworden, das angehäufte Geld der Mächtigsten der Welt kann nicht einmal mehr in der Zeitspanne von Jahrhunderten ausgegeben werden. Die Traurigkeit des Daseins, die durch diesen künstlichen Ruf nach Wettbewerb erzeugt wird, ist von Lärm und Drogen erfüllt. Die Sucht nach Geld und Besitz hat noch ein anderes Gesicht: die Sucht nach Drogen bei Menschen, die den Wettbewerb, den künstlichen Wettlauf, in den die Menschheit verwandelt wurde, verlieren. Die Krankheit der Einsamkeit wird nicht durch Glyphosat im Regenwald geheilt. Nicht der Regenwald ist daran schuld. Schuld ist die Gesellschaft, die im endlosen Konsum erzogen wurde, in der dummen Verwechslung von Konsum mit Glück, die es erlaubt, die Taschen der Macht mit Geld zu füllen.
Der Schuldige an der Drogensucht ist nicht der Regenwald, sondern die Irrationalität ihrer globalen Macht. Gebt der Macht einen Hauch von Licht, von Vernunft. Schaltet die Lichter des Jahrhunderts wieder ein.
Der Krieg gegen die Drogen dauert schon 40 Jahre. Wenn wir unsere Richtung nicht ändern und er noch weitere 40 Jahre andauert, werden in den Vereinigten Staaten 2.800.000 junge Menschen an einer Überdosis Fentanyl sterben, das nicht in unserem Lateinamerika hergestellt wird. Millionen von Afroamerikanern und Afroamerikanerinnen werden in privaten Gefängnissen inhaftiert werden. Afro-Gefangene werden zum Geschäft der Gefängnisunternehmen werden, noch eine Million Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikaner werden ermordet werden, unsere Gewässer und unsere grünen Felder werden mit Blut gefüllt sein, der Traum von Demokratie wird sterben, sowohl in meinem Amerika als auch im angelsächsischen Amerika. Die Demokratie wird dort sterben, wo sie geboren wurde, im großen westeuropäischen Athen.
Weil sie die Wahrheit leugnen, werden sie den Regenwald und die Demokratien sterben sehen.
Der Krieg gegen die Drogen ist gescheitert. Der Kampf gegen die Klimakrise ist gescheitert. Der tödliche Konsum weicher Drogen hat zugenommen, es wurde zu härteren Drogen übergegangen. Auf meinem Kontinent und in meinem Land hat ein Völkermord stattgefunden, Millionen von Menschen sind zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Um ihre eigene soziale Schuld zu verbergen, haben sie die Schuld auf den Regenwald und seine Pflanzen geschoben. Sie haben Reden und Politik mit Unsinn gefüllt.
Ich fordere von hier, von meinem verwundeten Lateinamerika, ein Ende des irrationalen Krieges gegen die Drogen. Um den Drogenkonsum zu senken, braucht es keine Kriege oder Waffen, sondern wir alle müssen eine bessere Gesellschaft aufbauen: eine Gesellschaft mit mehr Solidarität, mehr Zuneigung, in der die Intensität des Lebens uns vor Süchten und neuen Formen der Sklaverei bewahrt. Ihr wollt weniger Drogen? Denkt weniger an Profit und mehr an Liebe. Denkt über eine rationale Art und Weise der Machtausübung nach.
Berührt nicht mit euren Giften die Schönheit meines Heimatlandes. Helft uns, ohne Heuchelei, den Amazonas-Regenwald zu retten, um das Leben der Menschheit auf dem Planeten zu retten.
Ihr habt die Wissenschaftler versammelt, und sie sprachen mit Vernunft, mit Mathematik und klimatologischen Modellen, sie sagten, dass das Ende der menschlichen Spezies nahe sei, dass ihre Zeit nicht mehr Jahrtausende, nicht einmal Jahrhunderte betrage. Die Wissenschaft hat die Alarmglocken läuten lassen und wir haben aufgehört, ihr zuzuhören. Der Krieg dient als Vorwand, um die notwendigen Maßnahmen nicht zu ergreifen.
Als es am nötigsten war zu handeln, als Reden nichts mehr nützten, als es unumgänglich war, Geld in Fonds zu stecken, um die Menschheit zu retten, als es notwendig war, so schnell wie möglich von Kohle und Öl wegzukommen, haben sie einen Krieg nach dem anderen erfunden. Sie sind in die Ukraine, aber auch in den Irak, Libyen und Syrien eingefallen. Im Namen von Öl und Gas sind sie eingefallen.
Im 21. Jahrhundert haben sie die schlimmste ihrer Süchte entdeckt: die Sucht nach Geld und Öl.
Die Kriege haben ihnen einen Vorwand geliefert, um nicht gegen die Klimakrise vorzugehen. Die Kriege haben ihnen gezeigt, wie abhängig sie von dem sind, was die menschliche Spezies töten wird.
Wenn ihr seht, dass Menschen verhungern und verdursten und Millionen in den Norden ziehen, dorthin, wo es Wasser gibt, dann sperrt ihr sie ein, baut Mauern, setzt Maschinengewehre ein und schießt auf sie. Ihr vertreibt sie, als ob sie keine Menschen wären, ihr reproduziert fünfmal die Mentalität derer, die politisch die Gaskammern und die Konzentrationslager geschaffen haben, ihr reproduziert auf planetarischer Ebene das Jahr 1933; den Tag des großen Sieges des Angriffs auf die Vernunft.
Seht ihr nicht, dass die Lösung für den großen Exodus, der über eure Länder im Norden hereingebrochen ist, darin besteht, die Flüsse wieder mit Wasser und die Felder mit Nährstoffen zu füllen?
Die Klimakatastrophe überschwemmt uns mit Viren, aber ihr macht Geschäfte mit Medikamenten und verwandelt Impfstoffe in Waren. Ihr schlägt vor, dass der Markt uns vor dem retten soll, was der Markt selbst geschaffen hat. Das ist der Frankenstein der Menschheit: Den Markt und die Gier ohne Planung handeln zu lassen, den Verstand und die Vernunft aufzugeben und die menschliche Vernunft der Gier unterzuordnen.
Welchen Sinn haben Kriege, wenn es darum geht, die menschliche Spezies zu retten? Welchen Sinn haben die NATO und Imperien, wenn das Ende der Intelligenz bevorsteht?
Die Klimakatastrophe wird Hunderte von Millionen von Menschen töten, und hört gut zu, sie wird nicht vom Planeten verursacht, sondern vom Kapital. Die Ursache für die Klimakatastrophe ist das Kapital. Die Logik der gegenseitigen Beziehungen, um immer mehr zu konsumieren, immer mehr zu produzieren und für einige wenige immer mehr zu verdienen, bringt die Klimakatastrophe hervor. Ihr habt euch der Logik der sich ausdehnenden Kapitalakkumulation gefügt, der Energiemotoren von Kohle und Öl und den Orkan entfesselt: die zunehmende und tödlichere chemische Veränderung der Atmosphäre. Jetzt in einer Parallelwelt ist die zunehmende Akkumulation des Kapitals eine zunehmende Akkumulation des Todes.
Aus den Ländern des Regenwalds und der Schönheit. Dort, wo ihr beschlossen habt, eine Pflanze des Amazonas zum Feind zu erklären, ihre Anbauer auszuliefern und zu inhaftieren, lade ich euch ein, den Krieg zu beenden und die Klimakatastrophe zu stoppen.
Hier, in diesem Amazonas-Regenwald, findet ein Versagen der Menschheit statt. Hinter den Feuern, die ihn verbrennen, hinter seiner Vergiftung verbirgt sich ein ganzheitliches, zivilisatorisches Versagen der Menschheit.
Hinter der Sucht nach Kokain und Drogen, hinter der Sucht nach Öl und Kohle verbirgt sich die eigentliche Sucht dieser Phase der Menschheitsgeschichte: die Sucht nach irrationaler Macht, nach Profit und Geld. Das ist die riesige Todesmaschine, die die Menschheit auslöschen kann.
Ich schlage als Präsident eines der schönsten – und eines der blutigsten und gewalttätigsten – Länder der Welt vor, den Krieg gegen Drogen und alle Kriege zu beenden und unserem Volk ein Leben in Frieden zu ermöglichen.
Deshalb fordere ich ganz Lateinamerika auf. Ich fordere, dass sich die Stimme Lateinamerikas vereint, um das Irrationale zu besiegen, das unsere Körper peinigt.
Ich fordere euch dazu auf, den ganzen Amazonas mit den Ressourcen, die weltweit für das Leben bereitgestellt werden können, zu retten. Wenn ihr nicht in der Lage seid, den Fonds für die Wiederbelebung der Regenwälder zu finanzieren, wenn Geld für Waffen wichtiger ist als für das Leben, dann reduziert die Auslandsschulden, um für uns Haushaltsspielräume zu schaffen und damit die Aufgabe zu erfüllen, die Menschheit und das Leben auf dem Planeten zu retten. Wir können es selbst tun, wenn ihr im Norden nicht wollt. Ihr müsst bloß Schulden gegen das Leben tauschen, bloß Schulden gegen die Natur tauschen.
Ich schlage euch vor und fordere euch in Lateinamerika auf, einen Dialog zu führen, um den Krieg zu beenden. Setzt uns nicht unter Druck, uns auf den Feldern des Krieges zu versammeln. Es ist Zeit für FRIEDEN. Lasst die slawischen Völker miteinander reden, lasst die Völker der Welt miteinander reden. Der Krieg ist nur eine Falle, die das Ende der Zeit in der großen Orgie der Unvernunft näher bringt.
Von Lateinamerika aus rufen wir die Ukraine und Russland auf, Frieden zu schließen.
Nur in Frieden können wir das Leben auf dieser, unserer gemeinsamen Erde retten. Es gibt keinen totalen Frieden ohne soziale, wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit.
Wir befinden uns auch im Krieg mit unserem Planeten. Ohne Frieden mit dem Planeten wird es auch keinen Frieden zwischen den Nationen geben.
Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen sozialen Frieden.
Diese Rede ist ursprünglich im Syndikat der Progressiven Internationale erschienen.