07. November 2020
Am 7. November 1917 übernahmen Lenin und die Bolschewiki die Macht. Was können wir von der Oktoberrevolution und ihrem tragischen Nachwirken lernen?
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Der fromme polnische Katholik Feliks Dserschinski wurde einmal gefragt, warum er sich sicher war, dass es einen Gott gibt. »Gott ist im Herzen«, antwortete der Jugendliche. »Sollte ich jemals zu der Schlussfolgerung kommen, dass es keinen Gott gibt, würde ich mir eine Kugel in den Kopf jagen.«
Ein paar Jahre später begriff er, wie allein die Menschheit war. Aber anstatt einer Kugel fand er einen neuen Glauben und gelobte, »bis zum letzten Atemzug gegen das Böse zu kämpfen« – als revolutionärer Sozialist. Im Alter von 40 Jahren war er in schwarzes Leder eingehüllt und entwarf einen blutigen Terror als Kopf der Geheimpolizei der jungen Sowjetunion.
Diese Geschichte voller Fanatismus passt zu dem verbreiteten Bild des Bolschewismus – eine konspirative Sekte für einen einzigen Zweck. Aufgrund ihrer Rücksichtslosigkeit ergriffen sie die Chance während der demokratischen Umwälzungen und pervertierten die ehrenwerte Februarrevolution in die blutigen Exzesse des Oktobers. Dass der Stalinismus aus dessen Schoß kroch, ist keine Überraschung – der Extremismus von Männern wie Dserschinski, die überzeugt davon waren, dass die Utopie, die sie aufbauten, jeden Preis wert war, machte es alles andere als sicher.
Das Narrativ ist schlüssig und scheinbar von der Geschichte bestätigt. Das System, das sich aus der Oktoberrevolution entwickelte, war eine moralische Katastrophe. Aber mehr als das, war es eine Tragödie – und Tragödien brauchen keine Bösewichte.
Wir sehen am Beispiel des Sozialismus von Dserschinski: Er war verwurzelt in der humanistischen Idee, dass »das gegenwärtige, höllische Leben mit seiner gefräßigen Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt« einem System weichen könnte, dass »auf Harmonie, eine das ganze Leben umarmende Gesamtgesellschaft basiert«. Der künftige Henker litt für seine Überzeugungen – elf von zwanzig Jahren im Untergrund verbrachte er im Gefängnis oder im Exil – »in den Qualen der Einsamkeit, sich sehnend nach der Welt und dem Leben«.
Arm, gefoltert, eingesperrt und gepeinigt, schienen die Revolutionärinnen und Revolutionäre Russlands das gleiche Schicksal zu erleiden wie Radikale anderswo in Europa. Nur, das haben sie nicht. Nach einem halben Jahrzehnt in Isolationshaft, in der er Schläge erduldete, die seinen Kiefer dauerhaft entstellten, war Dserschinskis letzter Brief aus dem Gefängnis entschlossen: »Gerade döse ich wie ein Bär in seiner Winterhöhle; alles was bleibt, ist der Gedanke, dass der Frühling kommen wird und ich werde aufhören, an meiner Pranke zu saugen und all die Kraft, die in meinem Körper und meiner Seele geblieben ist, wird sich ausdrücken. Leben werde ich!«
Hier zeigt sich was passiert, wenn entschlossene Menschen gewinnen – und sich in einer Situation wiederfinden, in der sie nicht gewinnen können.
Im Kalten Krieg stellten beide Lager Lenin und seine Partei als etwas Besonderes dar – einzigartig in ihrer Brutalität oder ihrem Vorbild für die Revolution. Aber obwohl sie eine Untergrundbewegung waren, fällt auf, wie gewöhnlich sie eigentlich waren. Lenin betrachtete sich selbst als orthodoxen Marxisten, der den Plan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands auf ein größtenteils ländliches und bäuerliches Land mit einer schwachen Zivilgesellschaft und Massenanalphabetismus anzupassen versuchte.
Der angeblich protototalitäre, entscheidende Beweis, Lenins Pamphlet »Was tun?« von 1902, weist ungewöhnliche Momente auf. Lenin fordert professionelle Organizerinnen und Organizer, die imstande sein sollten, sich der Polizei zu entziehen, und stellt insbesondere die Rolle der gedruckten Propaganda in den Vordergrund. Aber es war keine Blaupause für eine radikal andere Partei; eher waren es notwendige Taktiken für eine Bewegung, die, im Gegensatz zu ihren Pendants andernorts, von der legalen Organisierung und der parlamentarischen Arbeit ausgeschlossen war. Sobald der Zarismus gestürzt war, könnte sich das rückständige Russland und seine kleine Arbeiterklasse entlang des westlichen Kurses entwickeln und den Kampf weiter vorantreiben.
Auf der Seite von Karl Kautsky stehend, nahm Lenin Eduard Bernstein und andere auf dem rechten Flügel der SPD ins Visier, die versucht hatten, »eine Partei der sozialen Revolution in eine demokratische Partei der sozialen Reformen« zu verwandeln. Revolutionär zu sein bedeutete für Lenin, den kapitalistischen Staat zu zerschlagen – es war eine Politik des Bruches. Aber in seinem Projekt, anders als die »Blanquisten«, die er gleichsam ablehnte, ging es darum, die Arbeiterbewegung zusammenzubringen und diese ins Zentrum des politischen Kampfes zu stellen, nicht darum, einen abgehärteten Kern von Putschisten zu schaffen. Für Lenin war das Problem nicht, dass die Arbeiter nicht zur Avantgardepartei strömten, sondern, dass die Sozialisten die Arbeiter unterschätzten. Dem deutschen Vorbild folgend, war sein Ziel der Zusammenschluss der beiden Strömungen – eine kämpferische sozialistische Arbeiterbewegung.
Damals waren die Bolschewiki, wenn auch nicht geplant, durch die Repression gezwungen, eine militärähnliche Struktur zu übernehmen, die sie an die Macht befördern würde. Diese Behauptung ist ebenfalls zweifelhaft. Bolschewistische Organe arbeiteten sogar mit einer Transparenz und einem Pluralismus, die nur wenigen Organisationen unter weitaus besseren Bedingungen heutzutage ebenbürtig sind.
Als Beispiel dafür können die »Ökonomisten« gesehen werden, die Gruppierung, die Lenin so gründlich in »Was tun?« kritisierte. Er glaubte, dass sie es wie alle anderen Fraktionen verdient hätten, »die Möglichkeit einzufordern, ihre Meinung auszudrücken und zu verteidigen«. Lenin war schwerlich ein angenehmer Gesprächspartner – wie Marx war er ein Freund persönlicher Schmähungen. Dennoch musste er sich als Anführer damit abfinden, seinen Willen nicht durchzusetzen. Zwischen 1912 und 1914 wurden 47 seiner Artikel für die Parteizeitung Prawda abgelehnt.
Meinungsverschiedenheiten zogen sich quer durch die russische Sozialdemokratie; Marschbefehle wurden nie ohne Debatten befolgt. Es gab nicht nur Bolschewiki, Menschewiki und Sozialrevolutionäre (SR), sondern dutzende Schattierungen an Meinungen, selbst unter den Bolschewiki.
In wichtigen politischen Fragen standen sich die Hauptflügel der russischen Sozialdemokratie dennoch nahe. Als sich die Menschewiki und die Bolschewiki 1903 spalteten, ging es um geringfügige Unterschiede der Schwerpunktsetzung, nicht um Lenins vermeintliche Forderung nach einer professionellen Avantgardepartei. Als 1905 die Revolution kam, kämpften alle Teile der Bewegung Seite an Seite. Die meisten Menschewiki wie auch die meisten Bolschewiki, lehnten den Weltkrieg ab; eine Klarheit, die nur von wenigen anderen Sozialistinnen und Sozialisten in Europa vertreten wurde. Im Vorfeld zum Februar 1917 hatten sie unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie die liberale Bourgeoisie zu betrachten sei, aber stimmten darin überein, dass es die unmittelbare Aufgabe der russischen Sozialdemokratie war, die Autokratie zu stürzen, nicht die sozialistische Revolution. Erst in dieser Periode wurde offensichtlich, was die Bolschewiki unterschied.
Lenin verließ nicht die Sozialdemokratie, sie verließ ihn. Als er die ersten Nachrichten erhielt, dass die SPD am 4. August 1914 für die Kriegskredite stimmte, dachte er, dass es sich um kapitalistische Propaganda handelte.
Doch er täuschte sich. Nur 14 von 92 deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten widersetzten sich der Entscheidung. Den parlamentarischen Normen folgend, stimmten sie mit der Mehrheit in einem Block ab. Ein Antikriegspolitiker, Hugo Haase, musste die den Krieg befürwortende Erklärung der Partei im Reichstag verlesen. Die Sozialisten in der französischen Abgeordnetenkammer zogen am gleichen Tag nach.
Kautsky war kein Parlamentarier, aber er war bei der Diskussion anwesend. Er sprach sich für eine Enthaltung aus, aber stimmte darin überein, dass Deutschland einen Verteidigungskampf gegen eine östliche Bedrohung führen würde. Innerhalb eines Jahres schlug er einen anderen Ton an und verurteilte die den Krieg unterstützende Führung der SPD und den deutschen Staat, aber der Schaden war angerichtet. Die traditionsreiche sozialdemokratische Idee, die von der Zweiten Internationale von Kongress zu Kongress immer wieder bestätigt wurde, war, dass die zunehmende Macht der Arbeiterklasse den Frieden durch »entschlossenes Eingreifen« aufrechterhalten würde. Wenn der Kriegsfall eingetreten wäre, hätten die Parteien ihn nicht nur abgelehnt, sie hätten »die Krise zur Aufrüttelung des Volkes« genutzt und »dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft« beschleunigt.
Das war die Theorie – in der Realität stimmte das Flaggschiff der Sozialdemokratie nicht nur für den Krieg, sondern propagierte die »Burgfriedenspolitik«, eine Politik des Klassenfriedens, um diesem nachzuhelfen. 16 Millionen Menschen starben in dem Konflikt.
Seit mehr als einem Jahrhundert war das leninistische Narrativ, dass Kautsky bis kurz vor dem Ausbruch des Weltkrieges ein vollkommener Marxist gewesen wäre. Es sei seine Haltung zum Krieg 1914 und seine Opposition zur Oktoberrevolution 1917 gewesen, die ihn vom »Papst des Marxismus« zum »großen Renegaten« verwandelte. In seinem Nachruf für den deutschen Sozialisten 1938 klingt Trotzki wie ein betrogener Liebhaber: »Wir gedenken Kautskys als unseres alten Lehrers, dem wir seinerzeit viel zu verdanken hatten, der sich aber von der proletarischen Revolution lossagte und von dem wir uns folglich lossagen mussten.«
Kautskys Position zum Krieg war in der Tat schockierend. Innerhalb der Sozialdemokratie hatte sich eine rechte Strömung von Gewerkschaftsführern und Parlamentariern entwickelt, die nicht nur ihre eigene Macht, sondern die der Klasse, die sie repräsentierten, mehr mit der Stabilität und dem Wohlstand ihrer jeweiligen Nationen als mit den vagen Vorstellungen des proletarischen Internationalismus verbunden sahen. Aber das waren Feinde, gegen die Kautsky jahrelang einen intellektuellen und politischen Kampf geführt hatte.
»Die moderne Gesellschaft ist reif für eine Revolution; und die Bourgeoisie ist nicht in der Position, irgendeinen Aufstand zu überleben«. Eine solche Revolution würde durch eine »disziplinierte Minderheit, energisch und zielstrebig«, gewonnen werden. Hört sich wie Lenin an, war aber in Wahrheit Kautsky.
Dennoch gab es eine wachsende Kluft zwischen Kautskys Ideen und jenen seiner russischen Verehrer. Er hatte ein Konzept der »Diktatur des Proletariats« entwickelt, das sich von denen Lenins und Trotzkis unterschied. Kautsky benutzte in den 1880er Jahren vielleicht eine ähnliche Sprache wie sie, gerade einmal ein Jahrzehnt nach der Pariser Kommune und mit einer SPD im Untergrund. Aber seine Gedanken entwickelten sich in der Folge weiter. Er nahm an, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter die Macht durch freie Wahlen erobern würden, durch erweiterte politische und zivile Rechte, durch radikale Reformierung, nicht Zerschlagung, des existierenden Staates.
Kautsky war skeptisch, ob eine direkte Demokratie im großen Maßstab funktionieren könnte. Auch wenn er niemals Verstaatlichung mit Sozialismus gleichsetzte, trat er auch nicht für eine auf Räten basierende »Sowjetdemokratie« ein. Er betrachtete die Überwindung des Kapitalismus als einen Kampf, der eine politische Demokratie und ein langes Ringen um die Unterstützung der Bevölkerung erforderte. Schon lange vor der Veröffentlichung von »Der Weg zur Macht« und anderen, von den Bolschewiki gelobten Werken, entwickelte er Ideen, die sich sowohl von der reformistischen Rechten, der Sozialdemokratie als auch von ihrer revolutionären Linken abgrenzten.
Lenin aber blickte weiterhin auf die Pariser Kommune 1871 und die großen Revolutionen von 1848 und 1789. Dies war der Geist, der die kommunistische Bewegung hervorbrachte.
Die Revolution von 1905 zeigte, dass Lenin sich im Gleichschritt mit seiner Epoche befand. Die »große Generalprobe« war nah dran, den Zarismus zu stürzen, und brachte die Sowjets hervor.
Das damalige Russland pulsierte bereits vor Veränderung. Ein rasches Wirtschaftswachstum und sozialer Fortschritt hatten im Reich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Einzug gehalten. Die industrielle Produktion verdoppelte sich allein in den 1890er Jahren. Pferde und Wagen und staubige Wege machten weitläufigen Eisenbahnstrecken Platz und für eine gewisse Zeit führte Russland sogar die weltweite Ölproduktion an.
Aber die Entwicklung war höchst ungleich. Die modernen Fabriken von St. Petersburg zeigten nur einen Teil vom Leben in einem Reich, wo sogar in seinen europäischen Gebieten nur jeder neunte Mensch in einer Stadt lebte. Trotz des ganzen Fortschritts Russlands in absoluten Zahlen fiel es immer weiter hinter Westeuropa zurück.
Auf dem Land entwickelte sich die Agrarwirtschaft in einem noch schleppenderen Tempo, das mit dem steigenden Bevölkerungswachstum nicht mithalten konnte. Landhungrige Bäuerinnen und Bauern drangen westwärts von ihren traditionellen Gemeinden in die Steppen. Die Armut auf dem Land war immer noch vorherrschend. Mit der wirtschaftlichen Stagnation und der wachsenden, aber ungleichmäßigen, kapitalistischen Industrie in ein paar wenigen Städten, ging die allgemeine Knappheit mit einer kleinen, aber hochpolitisierten Arbeiterklasse einher.
Der Januar 1905 überraschte die Bolschewiki. Der Zeitpunkt und die Form der Revolte waren nicht so, wie sie es erwartet hatten. Im Oktober schufen Arbeiter in St. Petersburg ein Organ, um ihre Aktionen zu koordinieren. Fabrikdelegierte bildeten einen Sowjet (Rat) in der Stadt. Das Gremium wurde bald eine Art Arbeiterparlament mit Vertretungen verschiedener Gewerkschaften und Komitees. Im Grunde war es eine funktionierende, lokale Regierung.
Trotzki, und nicht Lenin, schien am hellsten. Weder Menschewik noch Bolschewik, jedoch in beiden Lagern respektiert, erfasste er sofort die Bedeutung der Revolution. Innerhalb des kurzen Lebens des Sowjets von St. Petersburg trat der 26-jährige Delegierte als einzigartiger Redner und Denker hervor. Ende November wurde er sogar zum Vorsitzenden gewählt.
Die Situation war zu diesem Zeitpunkt unhaltbar. Wie befürchtet, zerschlug Nikolaus bald die Revolution und nahm die Konzessionen zurück, die er den liberalen Kräften versprochen hatte. Bis zum April 1906 waren 14.000 Menschen hingerichtet und weitere 75.000 inhaftiert worden.
Aber die Revolutionäre hatten jetzt einen Vorgeschmack auf wirkliche Macht erhalten. Die Transformation der russischen Sozialdemokratie war atemberaubend. Unmittelbar vor der Revolution von 1905 hatten die Bolschewiki nur 8.400 Mitglieder. Im darauffolgenden Frühling zählten sie 34.000 Mitglieder. Die Menschewiki versammelten ebenfalls Tausende in ihren Reihen.
Die revolutionäre Bewegung hatte jetzt endlich etwas, wonach Lenin jahrelang strebte – eine Massenbasis unter den Arbeitern. Versuche, die Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki aufzuheben, wären gescheitert, aber alle hatten ein Gefühl, in einer neuen Epoche zu sein und dass der Zar bald gestürzt werden würde.
»Unter der Diktatur des Proletariats und seinen Verbündeten würde im Gegenteil eine große Mehrheit eine kleine Minderheit unterdrücken. Es würde etwas Gewalt geben, aber im Vergleich wäre sie minimal«
Aber niemand kam dem so nahe, zu erraten, was als nächstes passieren würde, wie Trotzki. Die Implikationen von 1905 erfassend, präzisierte Trotzki eine neuartige Theorie der »permanenten Revolution«. Die Marxistinnen hatten üblicherweise gedacht, dass die Revolution in Etappen ablaufen würde. Die erste würde eine »bürgerlich-demokratische« sein; ökonomisch würde diese Phase einer kleinbäuerlichen Landreform und einer weitergehenden Industrialisierung den Weg ebnen; politisch würde sie eine kapitalistische Republik mit Rede- und Versammlungsfreiheit hervorbringen. Das würde dann den Sozialdemokraten erlauben, sich in Ruhe für eine zweite, eine sozialistische Revolution vorzubereiten. Die Bolschewiki und die Menschewiki stimmten hierin überein – sie stritten sich lediglich über die Rolle, welche die liberalen Kapitalisten einnehmen würden. Die Menschewiki meinten, sie würden im Zentrum einer bürgerlich-demokratischen Revolution stehen, während Lenin annahm, dass die Arbeiter ihre Interessen mit den Kleinbauern in Einklang bringen und den Prozess selbst antreiben könnten.
Trotzki sah ein andersartiges Szenario vorher. Anstatt einer bürgerlich-demokratischen Revolution würden die Bauern den Adel auf dem Land besiegen und die Arbeiter würden die Kapitalisten in den Städten bezwingen. Diese »proletarisch-sozialistische« Revolution würde demokratische und sozialistische Aufgaben in sich vereinigen. Im unterentwickelten Russland jedoch würde dies eine Situation einer fließenden Bewegung hervorbringen, in der die ausbeutenden Klassen besiegt sein würden, aber es keine materielle Basis für einen großangelegten sozialistischen Aufbau gebe. Daher müsste der Ablauf durch einen »internationalen revolutionären Prozess gestützt« werden.
Das Jahr 1917 sah Trotzkis Vision bestätigt – mit einer wesentlichen Ausnahme: die internationale Revolution blieb aus.
Nach zwei Jahren Weltkrieg waren drei Millionen Russinnen und Russen tot, die Wirtschaft des Reiches lag in Trümmern, und dennoch trieb die Armee vergeblich neue Offensiven voran. Im Februar 1917 wurde der Stillstand im Inneren durchbrochen.
Wie 1905 führte St. Petersburg (damals Petrograd) und seine Arbeiterklasse den Aufstand an. Am Internationalen Frauentag, dem 23. Februar, traten Textilarbeiterinnen in einen Streik, der sich über die ganze Stadt ausbreitete. Am Ende des Tages waren 90.000 Arbeiterinnen beteiligt; am nächsten Tag 200.000. Eine ähnliche Situation entstand in Moskau, wo Arbeiterinnen gegen die sprunghaft ansteigende Inflation und den Brotmangel protestierten. Nikolaus II. lehnte Zugeständnisse ab, bis er gezwungen war, am 1. März abzudanken. Die Dynastie der Romanows, die über drei Jahrhunderte bestand, wurde innerhalb einer Woche weggefegt.
Ihr Fall wurde fast überall gefeiert. Was als nächstes passieren sollte, war weniger klar. Der Grundsatzstreit der Bolschewiki mit den Menschewiki, wie man sich zur liberalen Bourgeoisie verhalten solle, würde sich an dieser Stelle als wichtig erweisen. Obwohl die Bolschewiki darin zustimmten, dass die Zeit für den Sozialismus noch nicht reif sei, wollten sie, dass die Arbeiter und Bäuern die Macht übernehmen und die demokratischen Aufgaben der Revolution erfüllen. Aber die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter wurden stattdessen von dem Aufruf der Menschewiki angezogen, die Sowjets einfach wiederzubeleben; diese würden die Interessen der Unterdrückten durchsetzen, aber nicht selbst die Staatsmacht erobern.
Die Liberalen bildeten das Provisorische Komitee, um die Lücke auszufüllen, aber es fehlte ihnen die soziale Basis. Am 1. März, dem Tag, als der Zar floh, einigten sich der Sowjet und die liberalen Führer: eine neue Provisorische Regierung würde sich bilden und weitreichenden Reformen zustimmen. Russland würde volle bürgerliche Freiheiten haben, politische Gefangene entlassen und die Polizei und den Staatsapparat transformieren.
Die wichtigen Fragen zum Krieg, einer Landreform und den Wahlen blieben ungelöst, aber die Februarrevolution war eine der umfassendsten Revolutionen, die die Welt jemals gesehen hatte.
Jedoch entstand bald eine Spannungssituation der »Doppelmacht«. Die staatliche Gewalt konnte nun von den Arbeiter- und Soldatenräten und von der Provisorischen Regierung beansprucht werden. Die gemäßigten Sozialisten hatten Mühe, den Graben zu überbrücken, und glaubten, die »fortschrittliche Bourgeoisie« innerhalb des Konsenses vom Februar halten zu müssen.
Sie hatten recht. Materiell war Russland nicht reif für den Sozialismus. Aber jene, die endlich von der Tyrannei erlöst wurden, würden nicht geduldig darauf warten, dass ein marxistisches Schema greifen würde. Befreit von Generationen der Unterdrückung, übernahmen Arbeiterinnen und Arbeiter die Fabriken und Bäuerinnen und Bauern teilten den Landbesitz auf. Volkskomitees entstanden im ganzen Land: Soldatenkomitees widersetzten sich ihren Offizieren und Bauernorganisationen überwachten nicht genehmigte Landenteignungen. Die Autorität in all ihren Formen wurde hinterfragt: die Aristokratie war gegangen, aber für eine vermeintlich »bürgerliche Revolution« taumelte das Bürgertum.
Die Radikalen trieben die Veränderungen nicht an, obwohl sie von ihnen profitierten. Im Februar gab es 24.000 Bolschewiki; innerhalb eines Monats wuchsen sie zu einer Massenorganisation mit der zehnfachen Größe.
Vorerst wurden die demokratisch gewählten Sowjets jedoch von Kräften der Menschewiki und der SR dominiert. Währenddessen wurde die Dynamik zwischen diesen Organen und der Provisorischen Regierung durch die fehlende Legitimität der Regierung zunichte gemacht. Es ist nicht schwierig zu verstehen, warum – Fürst Georgi Lwow, ein Bindeglied zum alten Regime, war nominell Staatsoberhaupt und die Kadetten und Oktobristen, welche die Regierung stellten, waren durch die Revolution, welche sie an die Macht brachte, verängstigt. Die Liberalen konnten Dekrete erlassen, versuchen, die Ordnung wiederherzustellen, und die Kriegsanstrengungen fortsetzen, aber ihre Wünsche wurden einfach nicht ausgeführt.
Am 1. März veröffentlichte der Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten seinen berühmten Befehl Nr. 1. Er erklärte, dass die militärischen Befehle der Provisorischen Regierung »nur in den Fällen auszuführen« seien, »wenn sie zu den Befehlen und Beschlüssen des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendelegierten nicht in Widerspruch stehen.« Mit dem Befehl Nr. 1 beanspruchte der Sowjet einen zentralen Anteil an der staatlichen Macht, aber er lehnte es ab, sich selbst als die funktionierende Autorität im Land zu erheben.
Die gemäßigten Sozialisten blickten noch immer auf die Provisorische Regierung, welche sich aus linkeren Kräften rekonstituierte, darunter Alexander Kerenski, selbst ein SR. Die Hoffnung bestand darin, dass dieses Bündnis das Land beruhigen und einige Rahmenbedingungen schaffen würde, in denen die Sozialisten demokratischen Forderungen Nachdruck verleihen und einen Weg finden könnten, den Krieg zu beenden. Im Augenblick würden die Kämpfe weiter gehen, aber sie sollten grundsätzlich »defensiv und ohne Annexionen« geführt werden.
Die Bolschewiki selber waren in der Frage gespalten, wie man mit der Regierung umgehen sollte. Lew Kamenew und Josef Stalin, die im März aus dem sibirischen Exil zurückkehrten, erwarteten, dass die neue Republik Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, überdauern würde, und orientierten die Bolschewiki auf diesen Zeithorizont.
Lenin, immer noch im Exil, war von der Selbstzufriedenheit seiner Partei schockiert. Am Tag nach seiner Ankunft am Finnischen Bahnhof legte er seine Aprilthesen vor, in der er erneut eine kompromisslose Antikriegshaltung bestätigte und im Wesentlichen Trotzkis Theorie der permanenten Revolution übernahm. Lenin dachte wie Trotzki, dass die Sozialisten die Revolution vorantreiben und »eine Republik der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputierten« aufbauen sollten. Dies war kein leeres Gerede: die Sowjets hatten bereits eine größere Legitimität durch das Volk als die Provisorische Regierung.
Der zahmeren Position von Kamenew und Stalin entgegnete Lenin: »Keinerlei Unterstützung der Provisorischen Regierung, Aufdeckung der ganzen Verlogenheit aller ihrer Versprechungen.« Die Würfel waren gefallen – es würde 1917 eine weitere Revolution geben.
Trotzki befand sich ebenfalls im Exil, als die Februarrevolution ausbrach und rüttelte die »Arbeiterinnen und Bauern der Bronx« auf dem amerikanischen Kontinent auf. Nach einer gefahrvollen Rückkehr nach Hause waren die Bedingungen für ihn und seine Anhängerinnen und Anhänger geschaffen, sich den Bolschewiki anzuschließen, und eine entscheidende Rolle in den kommenden Ereignissen zu spielen.
»Ihr seid klägliche Bankrotteure, eure Rolle ist ausgespielt; geht wohin, wo ihr gehört; auf den Kehrichthaufen der Geschichte!«
Die Reaktion auf Lenins Aprilthesen war unter vielen Bolschewiki zunächst unterkühlt, aber sie fanden eine gewisse Unterstützung auf seiten der Bevölkerung. Auch hatte Lenin mit dem jungen Nikolai Bucharin einen Verbündeten, der damals auf der Linken in der Partei war. Lenins Rückkehr und seine radikale Linie hoben seinen Status.
Die Partei war in diesem Zeitraum noch immer gespalten: es gab die, wie Lenin und Bucharin, die auf einen Aufstand schauten, und jene mit einer gemäßigten Perspektive – wie Kamenew, Alexei Rykow, Wiktor Nogin (der lange Zeit sich mit den Menschewiki wiedervereinigen wollte) und Grigori Sinowjew. Dieser wollte die Provisorische Regierung ablösen, aber nur mit einer breiten Koalition der sozialistischen Parteien.
Lenin wollte auch keinen verfrühten Aufstand, der die Bolschewiki isoliert und wie die Pariser Kommunardinnen unfähig die Macht zu halten zurückgelassen hätte. Noch im Juni betonte er, dass »allein in den beiden Hauptstädten, von den anderen gerade nicht zu reden, sind wir eine unbedeutende Minderheit … die Mehrheit der Massen schwanken, aber glauben immer noch an die SR und Menschewiki.«
Aber die radikalen Appelle der Partei griffen – zehntausende Arbeiter und Soldaten schlossen sich ihr an. Manche, inspiriert von Slogans wie »Alle Macht den Räten«, starteten spontane, bewaffnete Demonstrationen in Petrograd im Juli gegen die Provisorische Regierung. Es folgte ein Durchgreifen – Trotzki wurde eine Zeitlang inhaftiert, Lenin floh, Publikationen wurden verboten und die Todesstrafe für Soldaten wurde wieder eingeführt. Mit dem Segen der Mehrheit von Menschewiki und SR beanspruchte Kerenskis Provisorische Regierung mehr Macht für sich.
Während der zwei Monate im finnischen Versteck beendete Lenin »Staat und Revolution«. Seine Auseinandersetzung mit den Reformisten lief auf eine einfache Formel hinaus: »Die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen.« Wie Marx und Engels betrachtete er den Staat als ein Instrument der Klassenunterdrückung. Eine kleine Minderheit benutzte diesen, um über eine große Mehrheit zu herrschen. Der Staat war – wenig überraschend – blutig und repressiv. Unter der Diktatur des Proletariats und seinen Verbündeten würde im Gegenteil eine große Mehrheit eine kleine Minderheit unterdrücken. Es würde etwas Gewalt geben, aber im Vergleich wäre sie minimal.
»Wir sind keine Utopisten«, schrieb Lenin: »Wir träumen nicht davon, wie man unvermittelt ohne jede Verwaltung, ohne jede Unterordnung auskommen könnte.« Aber wenn der Sozialismus triumphiere, würde sich die Notwendigkeit eines Repressionsapparats auflösen und der Staat würde absterben. Viele haben »Staat und Revolution« als eine libertär-sozialistische Schrift des Vaters des sozialistischen Autoritarismus beschrieben. Aber es scheint ein wirklicher Gradmesser seiner Weltanschauung gewesen zu sein. Es war die Einfachheit in Lenins Darstellung, die aufzeigte, mit welchen Probleme die Bolschewiki konfrontiert sein würden, sobald sie an der Macht waren.
Im August war die Rechte mit ihrem Aufstand dran. General Kornilow, der die Instabilität der Provisorischen Regierung spürte, versuchte die Ordnung über einen Putsch wiederherzustellen. Mit niemanden, den er sonst um Hilfe bitten konnte, wandte sich Kerenski an den Petrograder Sowjet. Dieser schlug Kornilow mühelos zurück, wobei die Bolschewiki eine entscheidende Rolle spielten. Das Prestige der Partei erreichte ein Hoch und Kerenski sah sich gezwungen, ihre gefangenen Führer freizulassen. Im späten September wurde Trotzki wieder Vorsitzender des Petrograder Sowjets, jetzt unter der Kontrolle einer bolschewistischen Mehrheit. Was vor kurzem noch eine kleine, radikale Partei war, genoss jetzt breite Legitimität. Die Weichen für die Oktoberrevolution waren gestellt.
Doch bevor diese beginnen würde, hatten die Menschewiki und die SR noch eine letzte Chance. Die Stimmung im Land war noch weiter nach links geschwenkt. Es war klar, dass die Provisorische Regierung keine unabhängigen Verteidigungsmittel in einem Land hatte, das jetzt 600 radikalisierte Sowjets hatte. Unter den Menschewiki, die zunehmend Unterstützung an die Bolschewiki verloren, erstarkte ein linker Flügel unter Julius Martow. Martow war konsequent gegen den Krieg und für weitreichendere Reformen, als die Provisorische Regierung bieten konnte. Seine Position war kaum zu unterscheiden von der der gemäßigten Bolschewiki.
Die Menschewiki und die SR hätten sich einschalten und die Macht als Teil einer breiten Front der sozialistischen Parteien übernehmen können, um eine konstituierende Versammlung und einen Rahmen für Reformen zu schaffen. Die Bolschewiki hätten eine loyale Opposition zu einer solchen Regierung bilden, oder sich sogar direkt an ihr beteiligen können, wie es Kamenew und Sinowjew wollten. Es war ein Streitpunkt – die Menschewiki und die SR klammerten sich an die sinkenden Regierung, und wenn sie es nicht getan hätten, waren die Parteien wegen des Krieges gespalten. Lenin und Trotzkis Aufstand erschienen als der einzige Ausweg.
Mit dem Petrograder Sowjet, jetzt unter ihrer Kontrolle, überzeugte Lenin endlich das Zentralkomitee der Bolschewiki von diesem Kurs. Das »größte Ereignis der Menschheitsgeschichte«, wie Sozialistinnen und Sozialisten es über Jahrzehnte bezeichneten, war enttäuschend. Am 24. Oktober besetzten bolschewistische Einheiten zügig Bahnstationen, Telefonzentralen und die Staatsbank. Am folgenden Tag umstellten Rote Garden den Winterpalast und verhafteten die Kabinettsminister. Ein Sechstel der Welt wurde im Namen des Proletariats mit kaum einem Tropfen vergossenen Bluts erobert.
Führte Lenin einen Putsch an? Obwohl gewiss nicht so spontan wie die Februarrevolution, war der Oktober eine wirkliche Revolution des Volkes, angeführt von Industriearbeitern, verbündet mit Teilen der Bauernschaft. Nach dem Kornilow-Putsch konnten sich die Bolschewiki auf ein Mandat für eine solche Aktion berufen. Ihre Unterstützung war durch ihren aufrichtigen Appell nach »Frieden, Land und Brot« verstärkt. Die Menschewiki verlangten von den seit langem leidenden Massen Geduld; die Bolschewiki machten konkrete Versprechen. Diese Wünsche Realität werden zu lassen, war eine andere Sache, aber die Bolschewiki waren die Kraft, die am kämpferischsten die enttäuschten Ziele der Februarrevolution zu erfüllen versuchte.
In den ersten Monaten nach dem Oktober war der Charakter des Regimes noch nicht klar. Die Bolschewiki strebten zunächst keinen Einparteienstaat an – die Umstände wie auch ihre Entscheidungen verschworen sich dazu, einen solchen zu erschaffen. Direkt nach der Revolution fiel es dem Zweiten Sowjetkongress zu, den Machtwechsel von der Provisorischen Regierung zu bestätigen. Von 318 Sowjets wurden 649 Deputierte für das Organ gewählt. Die dramatische Verschiebung der Stimmungslage widerspiegelnd, waren 390 von ihnen Bolschewiki und 100 Linke SR (jene Sozialrevolutionäre, die den Oktoberaufstand unterstützten).
Nun auf eine kleine Minderheit reduziert, griffen die Rechten SR und die Menschewiki das bolschewistische Handeln an. Sogar Martow verurteilte den »Staatsstreich«, brachte aber auch eine Resolution vor, die zu einer All-Sowjetischen Interimsregierung und Plänen für eine Konstituierende Versammlung aufrief. Viele Bolschewiki unterstützten den Antrag und er wurde ohne Gegenstimme angenommen. Martows Plan sah eine breite, sozialistische Regierung vor, nach der viele im September verlangt hatten – nur jetzt, in einem radikaleren Kontext, drängten sich prinzipielle Positionen zum Krieg und zur Landreform auf.
Aber wie im September lehnten die Rechten SR und die Mehrheit der Menschewiki es ab, mitzumachen. Sie verließen den Kongress und überließen die Zukunft der Revolution den Bolschewiki. Martow wollte immer noch einen Kompromiss, Verhandlungen über eine sozialistische Koalitionsregierung. Aber jetzt, zwei Stunden später, wo die Gemäßigten nicht mehr länger im Saal waren, verhärtete sich die Stimmung der Bolschewiki. »Der Aufstand der Volksmassen bedarf keiner Rechtfertigung«, belehrte Trotzki bissig seinen ehemaligen Genossen vom Parkett aus. »Nein, hier ist kein Kompromiss mehr möglich. Denen, die hinausgegangen sind, und denen, die uns Vorschläge machen, müssen wir sagen: Ihr seid klägliche Bankrotteure, eure Rolle ist ausgespielt; geht wohin, wo ihr gehört; auf den Kehrichthaufen der Geschichte!«
Hier ist Trotzki versinnbildlicht – groß, rhetorisch meisterhaft, aber tragisch selbstsicher in der Weihe der Geschichte. Die Delegierten hatten nicht den Vorteil der Nachbetrachtung gehabt. Sie brachen in Beifall aus. Martow begann, mit den anderen linken Menschewiki zu gehen. Ein junger Bolschewik konfrontierte ihn auf dem Weg nach draußen, aufgebracht darüber, dass ein großer Meister der Arbeiterklasse die Revolution aufgab. Martow hielt vor dem Ausgang an und wendete sich ihm zu: »Eines Tages wirst du verstehen, an welchen Verbrechen du hier teilnimmst.«
Fast auf den Tag genau zwanzig Jahre später wurde dieser Arbeiter, Iwan Akulow, in einer stalinistischen Säuberungsaktion ermordet.
»Wir gehen jetzt zum Aufbau der sozialistischen Ordnung über.« Lenins Worte kurz nach der Revolution legten einen radikalen Kurs nahe, aber die Bolschewiki tasteten sich vorsichtig voran. Auch wenn sie in einigen Großstädten breite Unterstützung genossen, wussten sie, dass es ein Kampf sein würde, ihre Autorität in einem gewaltigen, hauptsächlich ländlichen und bäuerlichen Land durchzusetzen.
Sie versuchten allerdings dies mit ihrem Programm auszugleichen. Gegen den Widerstand der alten Eliten wurde die Arbeiterkontrolle über die Produktion ausgeweitet. Homosexualität wurde entkriminalisiert, Frauen erlangten reproduktive Rechte. Landrechte wurden für Kleinbäuerinnen und Kleinbauern ausgebaut, Antisemitismus wurde bekämpft und es wurden Schritte in Richtung Selbstbestimmung im ehemaligen Reich, das Lenin als »Gefängnis der Völker« bezeichnete, eingeleitet.
In der Industrie war Lenins Vorstellung einer Arbeiterkontrolle nicht syndikalistisch (»die lächerliche Übertragung der Eisenbahn an die Eisenbahner oder die Gerbereien an die Gerber«); langfristig suchte er nach koordinierten, klassenumfassenden Methoden für das Eigentum. Kurzfristig sagte er, dass »die unmittelbare Einführung des Sozialismus in Russland unmöglich« sei, und argumentierte stattdessen neben der Verstaatlichung von Schlüsselsektoren für eine Aufsicht der Arbeiterinnen und Arbeiter über die Geschäftsleitung. Das war natürlich nicht alles. Lenin war von der Kriegswirtschaft in den kapitalistischen Staaten beeindruckt. Wenn Planung im Dienste des Chaos bereits Wirklichkeit war, warum sollte nicht Planung im Dienste menschlicher Bedürfnisse – überwacht von den demokratischen Sowjets – möglich sein?
Der Druck für eine weitreichende Verstaatlichung kam von der Basis. Ein widersprüchlicher Befehl Ende November übertrug den Fabrikkomitees das gesetzliche Mandat, in die Produktion und Distribution einzugreifen, während immer noch das Unternehmerinnenrecht durchzusetzen sei. Nicht überraschend befeuerte das die Unordnung und beeinträchtigte die weitere Produktion. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter begannen die Fabriken aus eigenem Antrieb zu übernehmen. Oft waren das ehrliche Versuche, die Produktion nach der Sabotage oder der Flucht der Kapitalistin wiederherzustellen; zu anderen Zeiten reagierten Arbeiterinnen auf Chaos mit dem Horten von Vorräten und dem Schutz ihrer eigenen Interessen.
Innerhalb von Monaten würden die Bolschewiki gegen solche Aktionen scharf vorgehen – die unmittelbare Aufgabe war die Wiederherstellung der Produktion und der Ordnung. Es ist eindeutig, dass die Regierung beabsichtigte, eine gemischte Wirtschaft wenigstens bis zur Rettung durch die Revolutionen woanders in Europa aufrechtzuerhalten.
Aber die Verwirrung in diesen Monaten wurde durch die Tatsache weiter vorangetrieben, dass die Bolschewiki niemals klar zwischen den sich überlagernden Rechtsordnungen der Fabrikkomitees und Gewerkschaften und eines weitläufigen Komplexes von Sowjets, geschweige denn des Zentralstaats unterschieden. Sie schwankten bei diesen Fragen aus taktischen Gründen, um die Macht zu halten. Zentralisierung und die Verwischung von Partei und Staat waren einfache, pragmatische Wege, die Dilemmata zu lösen.
»Das Vertrauen in die Dialektik der Geschichte reichte nicht aus«
In der Frage des Krieges sahen die Bolschewiki ihre Hoffnungen ebenfalls erschwert. Die Situation war drängend. Auch wenn die Kämpfe zurückgingen, starben zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution 100.000 Soldaten an der Ostfront. Die Bolschewiki sendeten einen Aufruf an alle Regierungen für einen »gerechten und demokratischen Frieden«. Sollten sie ablehnen, war sich Lenin sicher, dass »die Arbeiter dieser Länder, die ihnen jetzt gestellte Aufgabe, die Menschheit von den Schrecken des Krieges zu befreien, erkennen werden.«
Das Dekret wurde von den Mächten der Entente ignoriert und für den Moment so auch der Ruf nach einer Revolution. Es begannen Verhandlungen mit den Mittelmächten. Gegen den Rat von Lenin lehnte das Zentralkomitee der Bolschewiki das erste Friedensangebot ab. Die »Linken Kommunisten«, angeführt von Bucharin, wollten den Krieg fortsetzen und die Flamme der Revolte in das Herz ihrer Feinde tragen. Das war eine schwerwiegende Fehleinschätzung. Die Konflikte im jungen sozialistischen Staat ausnutzend, drangen die Deutschen und Österreicher immer weiter vor und besetzten einen breiten Landstreifen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Die darauffolgenden schmerzvollen Zugeständnisse des Friedensvertrags von Brest-Litowsk trennten den Sowjetstaat von wichtigen landwirtschaftlichen und industriellen Kernländern und versetzten ihn in eine schwächere Position, den steigenden inneren Unruhen zu begegnen.
Versuche, die Regierung der Bolschewiki zu unterminieren, begannen von dem Tag an, als sie die Macht in Petrograd übernahmen. Die Weiße Bewegung umspannte eine unheilige Allianz des politischen Spektrums – von rechten Menschewiki und SR über die liberale Kadetten bis hin zu extremen Nationalisten und Monarchisten. 13.000 US-amerikanische Soldaten schlossen sich britischen, kanadischen, französischen, griechischen, italienischen und japanischen Truppen an, um einer brutalen heimischen Opposition zu Hilfe zu eilen. Angesichts widrigster Umstände beaufsichtigten die Bolschewiki die Schaffung der Roten Armee und trugen nach einem fünfjährigen Konflikt den Sieg davon, der neun Millionen Leben forderte.
Trotzki, der große Organisator der Armee, brachte es auf den Punkt: »Hat sich der Reiter einmal in den Sattel gesetzt, so ist er gezwungen, das Pferd zu regieren – wenn er sich nicht den Hals brechen will.« Die Regierung der Bolschewiki ritt weiter. Ihre Begründung dafür war zuerst weniger die unmittelbare Perspektive des Sozialismus innerhalb Russlands, sondern Bedingungen zu schaffen, um die Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Das Überleben des ersten Arbeiterstaates würde ein Segen für die revolutionären Bewegungen sein, die in fortgeschrittenere Staaten die Macht übernehmen würden. Diese Staaten würden dann den Bolschewiki zur Rettung eilen und helfen, das Land als Teil einer breiteren Föderation wiederaufzubauen.
Es war nicht so fantastisch, wie es sich heute anhört: dies war eine Ära der Umwälzung. Nicht allzu lange nach dem Oktober starteten deutsche Kommunistinnen und Kommunisten eine unglückliche Reihe von Revolten, dem russischen Beispiel folgend. Das kürzlich befreite Finnland musste dabei zuschauen, wie sich seine demokratisch gewählte, sozialistische Regierung in einem blutigen Bürgerkrieg auflöste. 1919 übernahm für eine kurze Zeit eine ungarische Sowjetrepublik die Macht. Zwei rote Jahre von Betriebsbesetzungen und Massenstreiks erschütterten Italien. Sogar Irland rühmte sich für eine Zeit lang mit Räten.
Auch wenn die Bolschewiki immer noch auf einen Durchbruch durch die neu gegründete Kommunistische Internationale hofften, wurde klar, dass keine Rettung aus dem Ausland in Sicht war. Lenins Partei war ein berechtigtes Risiko eingegangen, um die Errungenschaften der Februarrevolution zu sichern und auszubauen, und nicht nur einen, sondern alle zukünftigen Kriege zu beenden. Dieses Wagnis scheiterte. Und da nun die einzige erkennbare Alternative zu ihrer Führung eine rechte Militärdiktatur oder sogar eine Form eines anti-semitischen Faschismus war, machten sie weiter. Mit einem unüberwindbaren Dilemma konfrontiert, mussten die Bolschewiki um des Überlebens willen etwas tun, was die schlimmsten Tendenzen der Partei nur verschärfte.
Dieser Moment rief nach abgebrühten Männern wie Dserschinski. Seine neugeschaffene Tscheka würde Informationen aus dem ganzen Reich sammeln und sofort reagieren. Die Verhöre gingen schnell, und jene, die daran scheiterten, den Verdacht zu zerstreuen, wurden an die Wand gestellt und erschossen. Von Lenin abgesegnet, wuchs die Tscheka auf 200.000 Mitglieder an und führte einen Roten Terror an, der ebenso vielen das Leben kostete.
Waren solche schrecklichen Taten notwendig, um den zerstörerischsten Bürgerkrieg der Geschichte zu gewinnen? Vielleicht, aber die Methoden, mit denen sie durchgeführt wurden, waren es mit Sicherheit nicht. Es gab keine externe Kontrolle über die Verhaftungen und Hinrichtungen der Tscheka – das Beispiel von Dserschinskis disziplinierter Führung wäre niemals genug gewesen, um Exzesse zu zügeln. Kollektive Bestrafung, Staatsterror, Einschüchterung – all das waren zunächst außergewöhnliche Maßnahmen, welche zur Norm wurden, als die sozialen Konflikte unter Stalins Herrschaft wieder auftauchten.
Auch wenn man den Vergleich überbewerten kann, sprach die US-Regierung unter Abraham Lincoln im Amerikanischen Bürgerkrieg das Kriegsrecht aus, setzte den Schutz persönlicher Freiheiten aus, inhaftierte Tausende und setzte Militärgerichte ein, neben weiteren verfassungswidrigen Maßnahmen. Aber diese wurden als zeitlich begrenzte Abweichungen begriffen, notwendig zur Wiederherstellung der normalen republikanischen Regierung, welche bald wieder eingesetzt wurde.
Die Bolschewiki umrissen den Ausnahmezustand nicht klar genug, verschmolzen die Notmaßnahmen mit jenen, die sie aus der Tugend heraus machten. Es gab keine klare Rechts- und Schutzgrundlage, auf das sich die sowjetischen Bürgerinnen und Bürger beziehen konnten, wenn der Kriegsnotstand einmal abgeklungen wäre. Eine offene Debatte in der neu geschaffenen Kommunistischen Partei würde für eine gewisse Zeit weiterbestehen, einschließlich der Fraktionen, die auf Demokratie und Arbeiterinnenmacht drängten. Aber die weitere politische Kultur von Einsatz und Widerspruch – gestützt auf ein Netzwerk von Parteien und Zeitungen – die im Untergrund über Jahrzehnte den Zarismus überlebt hatten, würden nie wieder auftauchen.
Ein zentrales Problem war das Fehlen eines klaren Übereinkommens, wie die Diktatur des Proletariats aussehen sollte. Wie andere Flügel der Sozialdemokratie konzentrierten sich die Bolschewiki darauf, die Macht an sich zu reißen, nicht sie auszuüben. Abseits von vagen Skizzen hatten sie nicht viel über die Politik nachder Revolution nachgedacht. Nachdem die ausbeutenden Klassen verschwunden waren, würde das Proletariat eine sozialistische Rechtstheorie oder institutionelle Machtkontrolle brauchen? In einer beispiellosen Situation gefangen, erfanden sie eine nebenbei.
Die Schritte in Richtung Kriegskommunismus waren eher aus praktischer Notwendigkeit als aus ideologischem Eifer abgeleitet. Die Jahre der Revolution und des unerbittlichen Krieges hatten die landwirtschaftliche Produktion unterbrochen. Die Bäuerinnen und Bauern hatten wenige Anreize, das was produziert wurde, in die Städte abzuführen – es gab einen Mangel an Konsumgütern und die Getreidepreise fielen weiter im Verhältnis zu diesen Gütern. Ein Schwarzmarkt entwickelte sich auf natürliche Weise, ein Markt, den gleichsam der zaristische Staat und die Provisorische Regierung zu bekämpfen versuchten.
Die Bolschewiki setzten den eingeschlagenen Weg fort, jedoch noch rücksichtsloser – ihre Klassenanalyse wanden sie auf das Land an, welches sie als zwischen armen Kleinbäuern, Mittelbauern und reichen Kulaken aufgeteilt sahen. Sie hofften, Unterstützung zu erhalten, indem sie die Maßnahmen auf die letztgenannten konzentrierten, aber die Spaltungen waren vor Ort weniger klar, und die Anwesenheit von bewaffneten Requirierungstruppen, die nach Hamsterern suchten, richtete nur eine weitere Blockade der Produktion an. Trotz der Ächtung von privatem Handel und energischer Repression, überlebten die russischen Städte den Bürgerkrieg vor allem dank des Schwarzmarktes.
Die Industriepolitik der Bolschewiki in dieser Periode verschob sich ebenfalls. Die Regierung verstaatliche die gesamte Wirtschaft, führte Rationierungen ein und verhängte eine strikte Arbeitsdisziplin. Nicht einmal die gemäßigten Visionen der Arbeiterinnenkontrolle überlebten die Rückkehr des Ein-Mann-Managements. Keine kapitalistische Sabotage war notwendig – die Engpässe bei Bauteilen und Rohstoffen verlangsamten die Produktion auf ein Schneckentempo. Hoch ideologische Initiativen, wie der Versuch geldlose Budgets einzurichten, koexistierten mit einer Wirtschaftsregression im Großhandel. Bis 1921 hatte die russische Wirtschaft weniger als ein Drittel ihres Vorkriegsvolumens.
Die politische Basis des Sowjetstaates war ebenfalls dezimiert. Einige Industriearbeiterinnen und Industriearbeiter starben im Bürgerkrieg, während andere die unter Hunger leidenden Städte verließen und ihre Chance auf dem Land suchten.
Mit dem vorerst begrabenen Traum einer deutschen Revolution waren die Aufgaben jetzt praktische: wie sollte die russische Wirtschaft wiederhergestellt und vergrößert, wie das Bündnis zwischen Arbeiterinnen und Bäuerinnen, das die Revolution entfacht hatte, wiederbelebt werden?
Die Neue Ökonomische Politik (NEP) war ein Schritt in diese Richtung. Der Staat kontrollierte immer noch die Schlüsselbereiche der Ökonomie – Großindustrien, Bankenwesen, Außenhandel – aber anderweitige Märkte wurden legalisiert. Eine Steuer für Lebensmittelherstellerinnen ersetzte die kontraproduktiven Zwangsrequirierungen, wodurch Bäuerinnen und Bauern, nachdem sie einmal die Steuern bezahlt hatten, über ihre Waren verfügungsberechtigt entscheiden konnten. Auch wenn die Partnerschaft verzerrt werden musste – der Mehrertrag der Bauern wurde für die Wiederherstellung und Vergrößerung der Industrie gebraucht – bestand die Hoffnung darin, den unmittelbaren Zwang des Kriegskommunismus durch Akkumulation mittels langsamen, ungleichen Tausches zu ersetzen. Statt auf Zwangskollektivierung setzten viele Unterstützer der NEP auf die freiwillige Schaffung von Landwirtschaftskooperativen, die rechtzeitig das auskonkurrieren würden, was sie als unnötig ineffiziente, traditionell-bäuerliche Produktion sahen.
Politisch war die NEP eine Zeit der Verhärtung, nicht der Liberalisierung. Die Parteiführerinnen fürchteten, dass die von der Bauernschaft neuentdeckte ökonomische Macht in eine politische Opposition umschlagen könnte. Nicht nur Oppositionsparteien, sogar interne Fraktionen in den Bolschewiki wurden 1921 verboten. Es würde immer noch Debatten innerhalb der Partei geben, aber die Bolschewiki stellten klar, dass sie nicht von der Macht wegtreten würden. Für den Moment blühten die Künste und das intellektuelle Leben ungestört auf. Aber der Einparteienstaat war eine einfache Falle, in die man geraten konnte: mit dem Bürgerkrieg, ausländischer Intervention, Blockade und Anschlägen gegen die Führung, wer könnte leugnen, dass Russland im Belagerungszustand war? Als dann der Krieg vorüber war, verlangte der Wiederaufbau zuverlässige Männer. Ein solcher Mann, Stalin, stieg 1922 zum Generalsekretär auf.
Lenin beobachtete das argwöhnisch. Aber obwohl er die Missbräuche und Auswüchse der Partei- und Staatselite anprangerte, scheiterte er, zu erkennen, dass demokratische Reformen, egal wie riskant sie waren, das einzig mögliche Gegengewicht zu dieser Macht waren. Dem Tode nahe, warnte er ausdrücklich vor Stalin und bestärkte den Parteitag, ihn zu entfernen, aber seine Wünsche blieben unerfüllt. War Lenin einmal gegangen, benutzte Stalin seinen Posten, um die Unterstützer seines Rivalen Trotzki innerhalb der Partei zu zerstreuen. Stalin kontrollierte aber immer noch nicht die Partei.
In den Debatten innerhalb der Partei kristallisierten sich drei große Lager heraus: die Linke Opposition von Trotzki, Stalins Strömung und jene um Bucharin herum, die sich jetzt auf der Parteirechten wiederfanden.
Trotzki drang auf Parteidemokratie und andere antibürokratische Maßnahmen, schnellere Industrialisierung und Kollektivierung zuhause und aggressive, revolutionäre Mahnrufe ins Ausland. Bucharin war vorsichtiger und strebte an, mit einigen Umstellungen weiterhin langsam »dem Sozialismus auf dem Bauerngaul entgegenzureiten«. Stalin schwankte zwischen diesen beiden Positionen und zeigte eine politische Intelligenz, von der nur wenige wussten, dass er sie besaß.
Trotzki sah die wirkliche Gefahr nicht in Stalins bürokratischen Zentralismus, sondern in dem Wagnis, dass Bucharins Programm unbeabsichtigt die Restauration des Kapitalismus herbeiführen würde. Auch Bucharin brauchte viel zu lange, Stalin als Bedrohung zu erkennen. Aber selbst wenn sie sich vereinigt hätten, Stalin hätte sich immer noch zum Sieger bestimmen können; er applaudierte den Parteimitgliedern, die Trotzki kritisierte.
Währenddessen gewann Trotzkis Aufruf zur industriellen Erneuerung kaum die Gunst der bäuerlichen Mehrheit außerhalb der Partei. Ohne die Unterstützung der Bürokratie und der Bauernschaft – und nun da die bolschewistischen Arbeiter entweder tot oder erschöpft waren – hatte Trotzki keine sozialen Basis auf die er hoffen konnte. Das Vertrauen in die Dialektik der Geschichte reichte nicht aus.
Trotzki wurde Ende 1927 von der Macht entfernt und kurz darauf ins Exil geschickt. Bis zu seiner Ermordung dreizehn Jahre später blieb er Stalins größter Kritiker. Zugleich konnte er nicht zugeben, dass jeder Teil des Systems, das er so verachtete, seine Genese in der frühen Repression hatte, die er selbst half, in die Wege zu leiten.
Trotz der politischen Unruhen in Russland funktionierte die NEP. Bis 1926 übertraf die sowjetische Industrie das Vorkriegsniveau – eine bemerkenswerte Wende innerhalb von fünf Jahren. Was mit diesem neuen Reichtum getan werden sollte, wurde heftig debattiert: landwirtschaftliche Verbesserungen und Leichtindustrie oder Schwerindustrie? Diese Entscheidungen waren nicht nur technisch. Für eine Partei, die ihre Legitimität im Industrieproletariat begründete, hatte das weitere Beschreiten des NEP-Kurses tiefgreifende politische Auswirkungen.
Nachdem die Linke Opposition beseitigt und sein ehemaliger Verbündeter Bucharin verdrängt war, durfte Stalin diese Fragen so beantworten, wie es ihm passte. Die NEP frustrierte ihn zusehends. Industrielle Investitionen stiegen, jedoch wurden die Getreidepreise niedrig gehalten. Die Bäuerinnen und Bauern klammerten sich natürlich an ihren Bestand. Periodische Krisen dieser Art traten über die gesamten 1920er Jahre auf, da industrielle und landwirtschaftliche Preise aus dem Lot gerieten.
In der Vergangenheit hatte man diese Probleme durch Preiskorrekturen oder durch andere Veränderungen abgemildert.
Dieses Mal allerdings machte Stalin keine solchen Anpassungen. Stattdessen entsandte er Polizei, um legal produziertes und gehandeltes Getreide zu requirieren. Lokale Beamtinnen und Beamten, die bestehende Gesetze befolgten, wurden abgesetzt. Eine neue Zeit des Zwangs gegen jede Schicht der Bauernschaft begann. Stalin wollte eine »Revolution von oben«. Die ersten Schauprozesse fanden statt, der erste Fünf-Jahres-Plan wurde eingeführt, der dazu aufrief, die industrielle Leistung und Investition zu verdreifachen.
Und dann, ohne Warnung, wurden Millionen zwangsweise in landwirtschaftliche Betriebe kollektiviert. Planer gingen davon aus, dass dies die Probleme der Lebensmittelversorgung dauerhaft lösen würde. Es hatte den gegenteiligen Effekt – die Produktion fiel dramatisch und Sündenböcke mussten gefunden werden. Die kollektive Bestrafung kehrte zurück, nicht nur gegen vermeintlich reiche Kulaken, sondern jetzt auch gegen »ideologische Kulaken«, also gegen jene, die sich dieser Politik widersetzten. Mindestens sechs Millionen starben an Hunger und Millionen weitere würden ihre Leben in einem weitläufigen Netz von Arbeitslagern verbringen.
Viele wehrten sich natürlich gegen die neue Knechtschaft. Stalins eigene Frau, Nadeschda Allilujewa, beging 1932 aus Protest gegen den neuen Kurs Selbstmord. Aber es gab keine ernste Herausforderung für den Diktator. Innerhalb eines Jahrzehnts wurde eine einstmals lebendige, aufsässige Partei eine monolithische Sekte.
Wenn wir unsere Augen vor dem hohen Preis verschließen können, war der Fünf-Jahres-Plan ein Erfolg. Die Sowjetunion erzielte einen unglaublichen Fortschritt – größtenteils trotz der Zwangskollektivierung, nicht wegen ihr. Die Staatsplanung führte zu einem rapiden Anstieg des BIP, der Kapitalakkumulation und des Konsums. Ausländische Beobachterinnen und Beobachter spielten Berichte über Massenhungersnöte herunter und feierten die Erfolge (nicht nur der Daily Worker, sondern auch liberale Sprachrohre, wie die New York Times oder The Nation). Mit der faschistischen Bedrohung wuchs auch das kommunistische Prestige. Aber dieser ökonomische Durchbruch ging mit einem neuen politischen Terror einher. Eine Kampagne des Massenmordes begann 1936, in der Tausende aus der Kommunistischen Partei eliminiert wurden, darunter lebenslange Bolschewiki. Viele von ihnen wurden als Konterrevolutionäre verhaftet, gezwungen, fabrizierte Geständnisse abzulegen, und dann hingerichtet. Mehr als eine halbe Million wurden ermordet.
Stalin hatte eine Nahrungsmittelknappheit ausgenutzt, um die Sowjetunion von einem sich langsam erholenden, autoritären Staat in ein grausames, totalitäres Regime zu verwandeln, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte.
Dserschinski, der 1926 an einem Herzinfarkt starb, soll angeblich bei jeder Hinrichtung, die er unterschrieb, von Schmerzen geplagt worden sein. Er wurde durch Männer ersetzt, die nicht solche Gewissensbisse hatten.
»Eines Tages wirst du verstehen, an welchen Verbrechen du hier teilnimmst«
Stalins Sowjetunion gewann einen großen Krieg gegen ein noch viel größeres Übel. Allerdings für jede Maßnahme, die er ergriff, um den Faschismus zu besiegen, ergriff er eine andere, um den antifaschistischen Kampf zu unterminieren – er unterstütze die desaströse Politik der Dritten Periode, durch die fähige Offiziere aus der Rote Armee eliminiert wurden, und ignorierte Nachrichten über eine bevorstehende Naziinvasion. Das siegreiche Regime war zutiefst konservativ, es verfolgte eine Großmachtpolitik in einer Größenordnung, die sich nicht einmal der Zar hätte vorstellen können, dazu Episoden von massenhaften, ethnischen Säuberungen und sogar zu einem gewissen Grad Antisemitismus. Unter Stalin wurde die weltweite kommunistische Bewegung ein Instrument russisch-nationaler Interessen, nicht mehr eines der Emanzipation der Arbeiterklasse.
Nachdem Stalin starb, verformte sich das Sowjetsystem in etwas grundsätzlich anderes. Seine Kommandowirtschaft blieb, aber die Bürokraten, die jetzt herrschten, waren immer noch von dem totalitären Terror verfolgt, der sich durch ihre eigenen Reihen fraß. Die neue Ordnung war grau und repressiv, aber für eine gewisse Zeit fähig, Frieden und Stabilität zu sichern. Dennoch hatte die herrschende Elite kein Interesse, eine freie Zivilgesellschaft aufzubauen, aus der vielleicht eine sozialistische Demokratie hätte entspringen können. Versuche, das System zu erneuern, untergruben nur den Zwang, der alles zusammenhielt. Sein Zusammenbruch machte den Weg für eine noch räuberischere Ordnung frei.
Über ein Jahrhundert haben Sozialistinnen und Sozialisten auf die Oktoberrevolution zurückgeschaut – manchmal mit einer rosaroten Brille, manchmal vereinfachend. Aber manchmal aus gutem Grund. Ausbeutung und Ungleichheit gibt es immer noch und sind weit verbreitet. Auch wenn wir wissen, wie ihre Geschichte endete, können wir von jenen lernen, die es gewagt hatten, für etwas Besseres zu kämpfen.
Zugleich irrten sich 1917 sowohl Menschewiki, als auch Bolschewiki. Der Glaube der Menschewiki in die russischen Liberalen war so falsch wie die Hoffnung der Bolschewiki auf eine Weltrevolution und einen einfachen Sprung vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit. Den Bolschewiki, die über zehn Millionen Menschen in einem kapitalistischen Krieg hatten sterben sehen und in einer Ära der Umwälzung lebten, kann vergeben werden. Wir können ihnen auch vergeben, weil sie die Ersten waren.
Weniger verzeihlich ist, dass ein Modell, das auf Fehlern und Exzessen gebaut war, die unter den schlimmsten Bedingungen entstanden waren, eine Linke dominiert, die in einer unkenntlichen Welt lebt.