05. Oktober 2021
Immer mehr lateinamerikanische Politiker fordern die Auflösung der OAS. Dessen Vorsitzender Luis Almagro steht den USA näher als den demokratischen Bewegungen auf dem Kontinent.
Generalsekretär der OAS Luis Almagro bei einem Treffen mit führenden lateinamerikanischen Politikern im Mai 2021 in Miami.
Sollten noch irgendwelche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wahlen von 2019 in Bolivien bestanden haben, dürften diese spätestens in den vergangenen Wochen endgültig entkräftet worden sein. Die von der bolivianischen Rechten, dem außenpolitischen Establishment der USA und den höheren Rängen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) erhobenen Vorwürfe des Wahlbetrugs wurden inzwischen in mindestens sieben internationalen Nachforschungen sowie in einer jüngeren, von Generalstaatsanwalt Juan Lanchipa in Auftrag gegebenen Untersuchung akribisch untersucht. Jede einzelne von ihnen befand die Anschuldigungen für falsch.
Als Führungsfiguren der Rechten Klage wegen Wahlbetrugs einreichten, holte der Generalstaatsanwalt den Rat von Expertinnen und Experten an der spanischen Universität Salamanca ein. Nach monatelanger Prüfung teilten sie ihm mit, dass es keinerlei Beweisgrundlage für die Betrugsbehauptung gibt. Das Gerichtsverfahren der rechten Oligarchen wurde daraufhin offiziell eingestellt, aber die Gefahr eines erneuten Staatsstreichs ist weiterhin nicht gebrochen – trotz des überwältigenden Sieges der Bewegung für den Sozialismus (MAS) bei den demokratischen Wahlen im vergangenen Jahr.
Lanchipas Entscheidung, das Betrugsverfahren einzustellen, hat die Rechte in mancherlei Hinsicht nur noch weiter aufgewiegelt. Rómulo Calvo ist der Vorsitzende des erzkonservativen »Pro Santa Cruz« Komitees, einem Zusammenschluss von Wirtschaftseliten aus dem wohlhabenden Tiefland im Osten Boliviens. Die faschistischen Ursprünge dieses Komitees sind allgemein bekannt. Vor einem Monat warnte Calvo nun Boliviens Präsidenten Luis Arce, Santa Cruz kenne das »Rezept zum Sturz eines Diktators«. Das Komitee macht keinen Hehl daraus, dass es bei der gezielten Empörung der Mittelklasse gegen die MAS im Jahr 2019 sowie bei der Überredung der Armee- und Polizeiführung, am Putsch teilzunehmen, eine zentrale Rolle gespielt hat.
Entscheidend für die Rechte ist, ob sie noch über dieselbe ausländische Unterstützung verfügt, die sie 2019 genoss. Das ist alles andere als ausgemacht. Kürzlich empörte sich die MAS, als der höchste Beamte der US-Botschaft die nationale Regierung umging und sich direkt mit einem der gewalttätigsten Putschisten – Luis Camacho, nun Gouverneur des Departamentos Santa Cruz – traf, um Geschäftsbeziehungen zu besprechen. Camachos hatte noch nie ein politisches Amt inne. Führungserfahrung hat er nur als Leiter des »Pro Santa Cruz« Komitees, das unter seiner Ägide zum Zentrum des Putschkomplotts und der rassistischen Auflehnung gegen den ehemaligen Präsidenten Evo Morales wurde.
Jetzt versucht Gouverneur Camacho, der nationalen Regierung ihr Vorrecht bei der Vergabe von Landtiteln streitig zu machen und die Kontrolle über Millionen von Hektar zu sichern, welche von der Putschregierung an die vermögendste Kaste der bolivianischen Gesellschaft übertragen worden ist. Nur gibt er das natürlich nicht zu, sondern argumentiert, dass Koka-Bauern – hauptsächlich Angehörige der Quechua und Aymara – in Gebiete eindringen würden, die anderen indigenen Völkern in Santa Cruz gehören.
Einer der wichtigsten Akteure des Staatsstreichs von 2019 war der uruguayische Vorsitzende der OAS, Luis Almagro. Er behauptete zwar, seinerzeit eine Prüfung der Wahlunterlagen vorgelegt zu haben, jedoch wurde ein solches Dokument niemals erstellt.
Almagros Betrugsvorwurf beruhte darauf, dass er den hohen Stimmenanteil der Linken auf dem Land, der in vielen indigenen Gemeinden bei 90 bis 95 Prozent lag, als unglaubwürdig abtat. Die Auszählung der Stimmen in den ländlichen Gebieten ist langwierig, mitunter vergeht eine ganze Woche, bis alle Stimmzettel angekommen sind. Almagro war sich dessen bewusst. Er setzte daher auf die »Schnellzählung« (ein paralleles System, das nicht bindend ist und auch nicht mit der eigentlichen Stimmenauszählung zusammenhängt), als noch nicht alle Stimmen für die Linke eingetroffen waren, um innerhalb der Bevölkerung für Verwirrung zu sorgen. Mit dieser fadenscheinigen Begründung forderte die OAS einen zweiten Wahlgang, noch bevor die Stimmen vollständig ausgezählt waren. Wie zu erwarten, zitieren auch die Konservativen in Bolivien die Falschdarstellungen der OAS, als handle es sich dabei um bewiesene Wahrheiten.
Trotz der inzwischen unwiderlegbaren Ergebnisse der Ermittlungen, welche das Gegenteil besagen, ist Almagro bei seinen Behauptungen geblieben. Letzten Monat veröffentlichte er ein Dokument – welches allerdings keinerlei juristische Gültigkeit besitzt –, in dem er alle seine alten Falschbehauptungen über die Wahl von 2019 wiederholte. Damit liefert er der rechten Opposition in Bolivien erneut eine mächtige Waffe. Als der raffiniert-hinterhältige Staatsmann, der er ist, behauptete Almagro gleichzeitig, die verfassungsmäßige Legitimität der Putschregierung niemals anerkannt zu haben.
Nach den Verwüstungen, welche die OAS in den letzten zwei Jahren in Bolivien verschuldet hat, wünschen sich viele Politikerinnen und Politiker die Auflösung der Organisation. Dies fordert zum Beispiel Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador. Kuba hat die OAS bereits vor sechs Jahrzehnten verlassen, und im Jahr 2019 tat Venezuela dasselbe. Die beiden letztgenannten Länder betrachten die OAS als ein »Ministerium der amerikanischen Kolonien« unter Führung der USA.
López Obrador hat kürzlich offengelegt, dass das bolivianische Putschregime offenbar versucht hatte, das Flugzeug der mexikanischen Luftwaffe, das während des Putsches zur Rettung von Morales geschickt wurde, mit einer Panzerfaust abzuschießen. Um Morales auszuschalten, waren die bolivianische Rechte und ihre Verbündeten offensichtlich dazu bereit, die Beziehungen zu Mexiko zu zerstören und Bolivien ins Chaos zu stürzen.
Ironischerweise berichteten die eher besonnenen Kräfte innerhalb der OAS, welche die Menschenrechtsabteilung der Institution leiten, dass im ersten Monat der von der Putschistin Jeanine Áñez geführten De-facto-Regierung staatliche Massaker verübt wurden. Im vergangenen Monat hat eine unabhängige Gruppe interdisziplinärer Expertinnen und Experten unter der Schirmherrschaft der OAS diesen Umstand auf Grundlage einer achtmonatigen technischen Untersuchung und der Zusammenstellung aller dokumentierbaren Zeugenaussagen bestätigt.
Diese Untersuchung erkannte an, dass rechte Mobs eine zentrale Rolle hatten, und bestand darauf, dass die paramilitärischen Kräfte der Rechten aufgelöst werden müssen, um gesellschaftliche Versöhnung zu erreichen, und dass Folter und geschlechtsspezifische Gewaltanwendung durch staatliche Sicherheitskräfte beendet werden müssen.
Der Mehrheit der Bevölkerung Boliviens ist schon seit langem bewusst, dass der rassistische Mob auf den Straßen der bolivianischen Oligarchie, ihren Verbündeten auf dem Kontinent und den USA als Deckmantel diente, um mithilfe der nationalen Armee und der Polizeikräfte den gewählten MAS-Präsidenten Morales zu stürzen.
Eine neue Operation Condor
In den vergangenen Wochen sind weitere Anhaltspunkte für neue Pläne der Rechten in Lateinamerika ans Licht gekommen, die viele an die Operation Condor aus den 1970er Jahren erinnern – eine von den USA unterstützte, unter den Diktaturen Südamerikas koordinierte Kampagne politischer Repression und staatlichen Terrors.
Das erste Dokument, das in diesem Zusammenhang auftauchte, war ein Brief des Luftwaffenkommandeurs des bolivianischen Putschregimes, Jorge G. Terceros. Darin ging es um von der argentinischen Regierung erhaltene Ausrüstung, welche für die Unterdrückung der Demonstrationen in den ersten Wochen nach dem Putsch benötigt wurde. Dies hatte Ermittlungen zur Folge, bei denen Militär- und Polizeiakten in Argentinien und Bolivien gesichtet und Zeugenaussagen dokumentiert wurden, die die Lieferungen bestätigten.
Die Vereinbarung diese Waffenlieferung fand schon im Vorfeld des Putsches gegen die MAS und ohne das Wissen der sozialistischen Regierung statt. Somit gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die Präsidenten sowohl Argentiniens als auch Ecuadors an der Vorbereitung des Putsches mitgewirkt haben. Sowohl in Argentinien als auch in Bolivien laufen derzeit gerichtliche Ermittlungen diesbezüglich.
Aus einem kürzlich an die Öffentlichkeit gelangten diplomatischen Telegramm geht hervor, dass Kevin O’Reilly, ein hochrangiger US-Gesandter in Bolivien, drei Monate vor den Wahlen von 2019 einer Reihe von Diplomaten südamerikanischer Staaten, der OAS und der EU bei einem Abendessen gesagt haben soll, es sei »entscheidend«, der Welt schon vor dem Wahltag – in Ermangelung von Beweisen – weiszumachen, dass es ernsthafte Bedenken bezüglich Wahlbetrugs gäbe. Parlasur – eine Organisation zur Vertretung südamerikanischer Parlamentsabgeordneter – hat eine eigene Untersuchung über die »Verletzung der Souveränität« in Lateinamerika eingeleitet, die auch den Waffenlieferungen nachgeht.
In den Tagen nach Veröffentlichung der Ergebnisse der OAS-Expertengruppe kam es zu einem erstaunlichen Vorkommnis: Der OAS-Generalsekretär Luis Almagro sprang während einer Sitzung plötzlich auf, um eine Schweigeminute für die Opfer der Massaker in Bolivien im Jahr 2019 einzulegen. Angesichts dessen, wie entscheidend Almagros eigenes Handeln für die Einrichtung des Putschregimes gewesen ist, brachten progressive Politikerinnen und Politiker auf dem ganzen Kontinent ihre Empörung darüber zum Ausdruck.
Zwar konzentriert sich die Medienberichterstattung in der Regel auf die Figur Almagro, es liegt jedoch auf der Hand, dass die zentralen Akteure in Wirklichkeit die USA und ihre nordatlantischen Verbündeten sind. Entscheidend für das Überleben des Imperialismus ist und bleibt die Erstickung linker politischer Projekte überall auf der Welt.
Bolivien hat seit 2005 mit überwältigender Mehrheit Sozialistinnen und Sozialisten ins Parlament gewählt. Nicht zuletzt die Rückkehr der MAS an die Regierung im vergangenen Jahr spiegelt diese anhaltende Unterstützung für die Linke in der Bevölkerung wider. Arbeiterinnen und Bauern in ganz Lateinamerika sehen, dass Bolivien einen Weg hin zu radikaler Demokratie beschreitet. Und viele sind der Meinung, dass allein die organisierte Stärke der arbeitenden Bevölkerung diese Reise vor Angriffen wird schützen können.
Cindy Forster ist Professorin für Lateinamerikastudien am Scripps College.