11. Oktober 2023
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk steckt in der tiefsten Krise seit seiner Gründung. Ein beständiger Niveauverlust des Programms ist Ausdruck von enormen strukturellen Problemen. Doch diese Krise kann überwunden werden.
Selbst das Mainzelmännchen schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk steckt in der Dauerkrise. Skandale um Geldverschwendung und Vetternwirtschaft, schlechte Arbeitsbedingungen und die Unfähigkeit, angemessen ins digitale Zeitalter zu finden, haben seinem Ansehen stark geschadet. Auch jenseits des rechten Kulturkampfs gegen den »links-grünen Staatsfunk« sind die Öffentlich-Rechtlichen in keinem guten Zustand: Die Polit-Entertainment-Shows von Anne Will bis hart aber fair fördern eine stetige Abnahme des Niveaus der öffentlichen Debatten und auch der ÖRR-Jugendsender Funk zeigt in seinen Beiträgen große journalistische Mängel. Dieser Qualitätsverlust ist mehr als gefährlich: Der ÖRR verliert zunehmend seine politische Funktion als demokratisches Gegengewicht zur privaten Unterhaltungsindustrie.
Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung hat nun erstmals eine umfassende Analyse von Funk vorgelegt und zeigt, wie katastrophal es um das Jugendprogramm bestellt ist. Formate wie Follow me.reports, Die Frage oder Y-Kollektiv lassen bekanntlich kein reißerisches Thema vorbeiziehen, egal, ob es dabei um Sex mit Tieren, das Leben von Satanisten oder Sauf-Experimente von Reportern geht. Und auch die Machart der Videos erweist sich als hoch problematisch.
90,6 Prozent der Beiträge verfolgen dem Studienautor Jan Brinkmann zufolge eine »gefühlsorientierte Zielgruppenansprache«, 80 Prozent sind durch das Konzept des »New Journalism« geprägt, bei dem die Reporter und ihre subjektive Wahrnehmung im Mittelpunkt der Reportage stehen. Durch diesen Ansatz sind Brinkmann zufolge »Transparenz, Nutzwert und Reflexivität« der meisten Beiträge fast gar nicht ausgeprägt. Nicht einmal jeder fünfte Beitrag adressiere politische Themen, nur gerade mal jeder zwanzigste Ökonomie. Dabei sind die Formate auch in der Ortswahl extrem einseitig: Ostdeutschland etwa kommt fast gar nicht vor.
Angesichts dieser erschreckenden Bilanz fragt man sich, was eigentlich aus dem Bildungsauftrag des ÖRR geworden ist. Auch bei Funk gibt es neben den untersuchten Reportagformaten zwar Politik- und Wissensformate wie mailab, Mr.Wissentogo oder die da oben, doch der fragwürdige Reportagejournalismus dominiert das Programm. Obwohl der öffentlich-rechtliche Jugendsender keinen kommerziellen Maßstäben unterliegt, dominiert bei Funk anscheinend eine Haltung, die auf Clickbait durch provozierende Beiträge setzt. Beim Schauen der Videos soll man lachen, sich ekeln oder heulen, aber bloß auf keinen halbwegs klugen Gedanken kommen. Statt einer klaren Analyse geht es um dumpfe Einfühlung. Angesichts der sich stetig verschärfenden Mehrfachkrisen in unserer Gesellschaft ist das ein Armutszeugnis. Wer als junger Mensch die drängenden politischen Fragen der Zeit verstehen will, muss jenseits der Öffentlich-Rechtlichen nach klugen Podcasts oder Youtube-Formaten suchen.
»Wie gefährlich der intellektuelle Verfall des ÖRR ist, zeigte sich nicht zuletzt auf dem Höhepunkt der Kontroverse um Waffenlieferungen und Verhandlungen im Ukrainekrieg«
Doch die in der Otto-Brenner-Studie aufgeworfenen Fragen und Probleme betreffen längst nicht nur den Jugendsender. Georg Restle, der Moderator des ARD-Politikmagazins Monitor, beklagte in einem Podcast, dass auch ihn innerhalb der ARD immer wieder die Frage erreicht, warum die Beiträge nicht emotionaler und »protagonistengetriebener« seien. Auch ein Blick in die Mediatheken von ARD und ZDF macht deutlich, welche Programme man offenbar für relevant und wichtig hält: Unterhaltung, Crime und Politainmant-Talkshows.
Letzteres Genre hat der Politikwissenschaftler Oliver Weber schon vor einigen Jahren in seinem Essay Talkshows hassen einer kritischen Analyse unterzogen. Sein Fazit: Auch hier ist die Themen- und Gästeauswahl stark limitiert. Die Produzentinnen setzen auf inhaltlich fragwürdige Zuspitzungen (Gehört der Islam zu Deutschland?) statt auf komplexere Gesellschaftsanalysen. Bei der Auswahl der Gäste zählt weniger inhaltliche Expertise, sondern vor allem die Häufigkeit, mit der sie zuvor schon bei Talkshows aufgetreten sind. Die Zuschauenden auf dem Sofa sollen dran bleiben, weil da wieder »die Wagenknecht« oder »der Spahn« im Fernsehen ist. Weber analysiert, dass sich der Kreis der teilnehmenden Gäste »auf eine kleine Gruppe von Politikern und Meinungsmachern beschränkt« und dadurch nur einen verzerrten und engen Blick auf das Politische präsentiert. Es ist kein Wunder, dass sich Menschen angesichts eines solchen Diskurses von der Politik abwenden.
Wer sich auf Youtube einmal alte Folgen der Sendung Zur Person mit der Moderatorenlegende Günter Gaus anschaut, ahnt, was vor einigen Jahrzehnten an intellektueller Tiefe und analytischer Kompetenz im ÖRR möglich war. Gaus befragte Personen des öffentlichen Lebens von Rudi Dutschke bis Hannah Arendt, von Christa Wolf bis Helmut Schmidt. Dabei ging es nicht um intellektuelle Selbstbeweihräucherung oder billiges Debattenspektakel, sondern um ein emphatisches öffentliches Aushandeln der politischen und gesellschaftlichen Fragen der Zeit. Dieses Niveau wird jedoch von den Politainment-Talkshows der Gegenwart permanent unterschritten. Weber bemerkt zu Recht, dass die Talkshows dadurch extrem anfällig für Instrumentalisierungen aller Art sind. Nicht zuletzt die AfD wusste das immer wieder für sich zu nutzen.
Wie gefährlich der intellektuelle Verfall des ÖRR ist, zeigte sich nicht zuletzt auf dem Höhepunkt der Kontroverse um Waffenlieferungen und Verhandlungen im Ukrainekrieg im Februar dieses Jahres. Auch hier dominierten einige wenige Experten die Talkshows und prägten so den »bellizistischen Tenor einer geballten öffentlichen Meinung«, wie der Philosoph Jürgen Habermas damals in einem Essay in der Süddeutschen Zeitung schrieb. Woche für Woche pochten die immer gleichen Stimmen auf mehr Waffenlieferungen. Unabhängig von der Frage, ob man diese heute oder damals befürwortet oder nicht, hätte dieses Thema einer viel differenzieren öffentlichen Auseinandersetzung bedurft. Immerhin geht es in der Ukraine auch um die Gefahr einer nuklearen Eskalation.
»Guter Journalismus hat sich schon immer mit den Reichen und Mächtigen angelegt und die werden erstens mehr, und zweitens immer skrupelloser.«
Die Einseitigkeit der Expertenauswahl und auch die tendenziösen Interviews, etwa im heutejournal oder der Tagesschau, befeuerten hingegen die Kriegsstimmung in Deutschland. Wer jedoch nach Frankreich schaute und dort etwa die Le Monde aufschlug, konnte dort eine recht offene Debatte verfolgen. Selbst ein Think Tank der US-Streitkräfte warnte vor einem »langen Krieg« und empfahl Verhandlungen. Ein Großteil der deutschen Medienelite gefiel sich dagegen in der eigenen Provinzialität und dämonisierte Habermas für sein Plädoyer. Der ÖRR trug damals zweifellos zu dieser Einseitigkeit in der deutschen Öffentlichkeit bei.
Wie die Programmverantwortlichen des ÖRR über diese Missstände denken, ließ sich zuletzt bei einem Podium der Re:publica zum Thema »Auslaufmodell Journalismus« im Juni erahnen. Monitor-Moderator Georg Restle diskutierte mit dem Journalisten Tilo Jung, der Journalistin Anja Reschke und der ARD-Programmdirektorin Christine Strobl. Auf die Frage, ob man angesichts der multiplen gesellschaftlichen und politischen Krisen nicht ein »ernsthafteres« Programm verfolgen solle, reagierte letztere mit Unverständnis. Es gäbe ja entsprechende Formate, außerdem würden Unterhaltung und anspruchsvoller Journalismus einander nicht ausschließen.
Das ist sicher richtig, doch es war gerade Strobl, die 2021 ausgerechnet bei kritischen Politikmagazinen wie Monitor und Panorama sparen wollte. Dabei ist Monitor geradezu ein Lichtblick im öffentlich-rechtlichen Programm. Die Magazinsendung deckt jeden Monat zuverlässig gesellschaftliche Missstände auf und nimmt die kritische Funktion des Journalismus als vierte Gewalt ernst. Dabei betreibt Monitor unter anderem einen »anwaltlichen Journalismus«, was letztlich bedeutet, jene zu verteidigen, die sonst keine Lobby haben, je nach Kontext etwa Geflüchtete, Opfer von Machtmissbrauch oder die arbeitenden Klasse. Damit einher geht ein sogenannter »Wachhund-Journalismus«, also das besondere investigative Augenmerk auf Machtmissbrauch durch Politik und Wirtschaft. Es ist gerade auch ein solcher Journalismus, den der ÖRR ausbauen sollte. Dass ein solcher Journalismus auch reichweitenstark und unterhaltsam geht, hat nicht zuletzt Jan Böhmermann gezeigt.
Um eine inhaltlichen Wandel des ÖRR zu erreichen, muss das gesamte System tiefgreifend reformiert werden. Dazu gehört dringend ein umfassender Bürokratieabbau, Mitarbeitende beklagen schon seit Jahren die Ineffizienz interner Prozesse, worunter auch die Inhalte leiden. Um die Beitragszahlerinnen nicht noch mit einem höheren Rundfunkbeitrag zu belasten, sollten außerdem die astronomischen Gehälter der Intendanten stark eingedampft und die Ausgaben ins schwache Unterhaltungsprogramm gekürzt werden: Braucht es für Bayern, Berlin, Sachsen und Hessen wirklich vier verschiedene Gartensendungen? Das Geld wiederum sollte in gute Löhne und ein innovatives Programm gesteckt werden. Hier gäbe es viele Möglichkeiten: Gut produzierte, gesellschaftlich relevante Dokumentationen, wie etwa die großartige, fünfteilige Dokuserie Capital B - Wem gehört Berlin?, sollten die Regel und nicht die Ausnahme sein. Woran man jedoch nicht sparen sollte sind die Kulturprogramme, wie es etwa der Bayerische Rundfunk im Radio unter fadenscheiniger Berufung auf junge Hörerinnen und Hörer vorhat. Ein wirklich interessantes Kulturprogramm findet man derzeit tatsächlich fast nur noch im Radio des ÖRR. Wer hier sparen will, verrät den Rundfunkauftrag zur Förderung von Kultur, da die Privaten ein solches Angebot nicht schaffen werden.
Neben der Etablierung eines klugen und vielfältigen Debattenprogramms das die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Fragen der Zeit wirklich ernst nimmt, sollte der ÖRR dringend die Investigativprogramme ausbauen. Guter Journalismus hat sich schon immer mit den Reichen und Mächtigen angelegt und die werden erstens mehr, und zweitens immer skrupelloser. Der Demokratie erweist man einen großen Dienst, wenn man sie als öffentliche Medien permanent ins Visier nimmt.
Matthias Ubl ist Contributing Editor bei Jacobin.