29. August 2024
Um die Stärke der AfD im Osten zu erklären, hat sich das Narrativ der Wendeverlierer etabliert. Warum wir die Ostdeutschen nicht als passive Opfermasse erinnern dürfen und wie die Transformation von 1989 die ostdeutsche Mentalität tatsächlich geprägt hat, erklärt der Historiker Detlev Brunner im Interview.
Demonstration am Kalibergwerk anlässlich des Hungerstreiks in Bischofferode, 7. Oktober 1993.
Bei den anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg könnte die AfD stärkste Kraft werden. Und auch wenn der Aufstieg der radikalen Rechten in ganz Europa zu beobachten ist, scheint er sich im Osten der Bundesrepublik in besonderer Weise zu vollziehen. Häufig wird diese Entwicklung mit den Jahren des radikalen Umbruchs in Wirtschaft und Gesellschaft nach 1989/90 in Verbindung gebracht. Die Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt sei ein Fehler gewesen, die Ostdeutschen zu Bürgerinnen und Bürgern zweiter Klasse degradiert worden.
Wäre eine andere Entwicklung in den neuen Bundesländern möglich gewesen, hätte man die Wende anders organisiert? Der Leipziger Historiker Detlev Brunner teilt diese Kritik teilweise, plädiert jedoch dafür, die Ostdeutschen nicht in der passiven Rolle eines Opfers, sondern als handelnde Subjekte einer komplexen Entwicklung zu sehen. JACOBIN sprach mit ihm über die Geschichte der Gewerkschaften in der DDR, Protestbewegungen in der ostdeutschen Transformation und mögliche Lehren für die Gegenwart.
Wir wollen über die Dynamik der Revolution und Transformation in ostdeutschen Betrieben und Gewerkschaften nach 1989 sprechen. Das setzt eine Vorstellung von der Arbeitswelt in der DDR voraus. Dort wurde um die Betriebe herum ein wesentlicher Teil der sozialen Infrastruktur organisiert. Der Betrieb war sowohl Arbeits- und Lebenswelt eines großen Teils der ostdeutschen Bevölkerung als auch ein wichtiger Ort der Herrschaftsausübung durch die SED. Welche Konflikte gab es in den DDR-Betrieben und wie wurden diese verhandelt? Welche Rolle haben die Gewerkschaften darin gespielt?
Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) und seine Gewerkschaften waren, anders als ihre Entsprechungen in westlich-kapitalistischen Staaten wie der Bundesrepublik, keine freien Interessenvertretungen. Trotzdem gab es Interessenkonflikte und Aushandlungsprozesse in den Betrieben. Auf Betriebsebene ist vieles zwischen der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) und der Betriebsleitung verhandelt worden. Etwa dass die Pläne »weicher«gemacht wurden, um den Leistungsdruck zu verringern.
»Ich bin der Ansicht, dass die gegenwärtige Ost-West-Debatte wenig hilfreich ist. Sie belebt alte Stereotype statt neue Erkenntnisse zu generieren.«
Eine wichtige Rolle spielten zudem Prämien, die an die Beschäftigten ausgegeben wurden. Das bedeutet auf dieser Ebene spielten die BGL und auch die Vertrauensleute eine Rolle, die in Grenzen einer Form von gewerkschaftlichen Interessenvertretung unter den Bedingungen des Staatssozialismus entsprach. Beides ist wichtig festzuhalten: Es gab Interessenkonflikte im selbsterklärten »Arbeiter- und Bauernstaat«. Gleichzeitig fanden Aushandlungsprozesse statt, die der Vorstellung zuwiderlaufen, dass in der DDR alles von oben bis unten durchorganisiert und hierarchisiert war.
Welche Formen nahmen diese Aushandlungsprozesse jenseits der Verhandlungen an? Es gab die sogenannte »Eingabe«, eine Art formlose Bittschrift, anhand derer Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Vorgesetzten in möglichst sanftem Ton auf Missstände aufmerksam machten. Aber wie sah es zum Beispiel mit Streiks aus?
Streiks, wie wir sie heute kennen, gab es in der DDR so nicht. Aber es kam immer wieder punktuell zu Arbeitsniederlegungen oder einer schlichten Weigerung, Vorgaben umzusetzen – insbesondere in den Jahren nach dem Mauerbau. In der Vorstellung der Staatsführung sollte damals zwar mehr geleistet, aber nicht mehr verdient werden. Da hat zum Beispiel ein für die DDR-Wirtschaft zentraler Verband, die IG Bergbau und Energie, gesagt: Das machen wir nicht mit. In der Folge musste Ulbricht die Pläne anpassen und teilweise zurücknehmen. Beispiele wie dieses zeigen, dass das Bild völlig ohnmächtiger Gewerkschaften in der DDR nicht ganz zutrifft.
Nichtsdestotrotz war ihr Spielraum sehr eingeschränkt. Erfahrungen kollektiver Selbstermächtigung von Beschäftigten waren kaum möglich, der Protest eher individuell.
Wir müssen genau hinschauen. Die Verhandlungen hatten durchaus kollektive Elemente. Gleichwohl war ihr Ziel, den Betriebsfrieden aufrecht zu erhalten und eben nicht größere Aktionen zu provozieren. Insofern stimmt es, dass Formen kollektiven Protests äußerst selten waren. Seit dem Aufstand 1953 sind in der DDR im Grunde keine Massenaktionen von Arbeiterinnen und Arbeitern mehr in Erscheinung getreten. Umso interessanter ist, wie schnell die Beschäftigten und die Gewerkschaften in der DDR sich 1989 auf die neuen Verhältnisse einstellten, als eben nicht mehr die individuelle Eingabe als Protestform diente, sondern Streiks, Besetzungen und andere Aktionsformen auf der Tagesordnung standen. Offenbar scheint es so etwas wie eine DNA der Arbeiterschaft zu geben, aus der heraus derartige Aktionen wieder abgerufen werden können.
In der ersten Reihe standen Arbeiterinnen und Arbeiter im Herbst 1989 allerdings nicht. Stattdessen wird die Revolution meist mit dem Wirken von Intellektuellen verbunden. Die zentralen oppositionellen Treffen fanden in Kirchen statt. Manchmal ist deshalb auch von einer »Feierabendrevolution« die Rede. Renate Hürtgen und Bernd Gehrke, die beide damals in oppositionellen Gruppen aktiv waren, haben hingegen argumentiert, dass die Revolution durchaus mit einem betrieblichen Aufbruch einherging. Wie lautet Deine Einschätzung zu den Entwicklungen auf betrieblicher Ebene 1989/90? Und welche Bedeutung kam den betrieblichen Prozessen wiederum in der Revolution zu?
Im Unterschied zu 1953 gingen die Impulse für die demokratische Revolution 1989 nicht von den Betrieben aus, das ist richtig. Die Befunde und Thesen, die Renate Hürtgen und Bernd Gehrke aufgestellt haben, werden jedoch durch aktuelle Forschungen mehr als bestätigt: Es trifft nicht zu, dass 1989 – überspitzt formuliert – nur eine Revolution von Theologinnen und Theologen war, wobei die Kirche natürlich eine ganz zentrale Rolle gespielt hat. Und es trifft ebenfalls nicht zu, dass die arbeitenden Menschen in den Betrieben nur zugeschaut haben oder nur mal mit auf eine Demonstration gegangen sind.
»Wir, die Gewerkschaften, waren in diesen Monaten im Betrieb wirklich eine Macht. Ohne uns ging gar nichts!«
Wir haben vor einiger Zeit eine Reihe von Interviews mit Leuten geführt, die in der Revolution gewerkschaftlich aktiv waren. Dabei wurde deutlich, wie eng betriebliche Prozesse und Straßenprotest miteinander verbunden waren. Die Kolleginnen und Kollegen haben sich in der Belegschaft zum Demonstrieren verabredet und in der Mittagspause die neusten Flugblätter diskutiert – alles unter der Voraussetzung, dass die Betriebsleitung gesagt hat: Geht dort nicht hin, das ist verboten und gefährlich. Mein Kollege Jakob Warnecke hat das kürzlich am Beispiel des Stahlwerks in Hennigsdorf untersucht und herausgearbeitet, wie eng verzahnt der betriebliche Aufbruch im Werk und die Bürgerbewegung in der Stadt waren. Personelle Überschneidungen gab es ebenfalls. Eine Kollegin, mit der wir gesprochen haben, war sowohl BGL-Mitglied als auch aktiv im Neuen Forum, der breitesten oppositionellen Plattform. Von denen wird immer behauptet, dass sie von Gewerkschaften keine Ahnung hatten. Da ist auch etwas dran. Dennoch zeigt es, dass wir die Prozesse nicht voneinander getrennt denken sollten.
Es war also keine Revolution ohne Arbeiterinnen und Arbeiter. Im Gegenteil: Die Aktiven, mit denen wir gesprochen haben, erinnern die Zeit vom Herbst 1989 bis zum Frühjahr 1990 heute sogar mit viel Stolz. Ein ehemaliger Funktionär der IG Bau-Holz sagte: »Wir, die Gewerkschaften, waren in diesen Monaten im Betrieb wirklich eine Macht. Ohne uns ging gar nichts!« Dieses Zeitfenster gewerkschaftlicher Macht hatte nicht lange Bestand, aber es deutet daraufhin, welche Rolle Betriebe in und nach der Revolution gespielt haben.
Wenn es diesen betrieblichen Aufbruch gab, und an vielen Orten Prozesse kollektiver Selbstermächtigung und Selbstdemokratisierung, wie erklärst Du Dir dann, dass die erste freie Wahl in der DDR im März 1990 in einen überwältigenden Sieg der Konservativen und einer krachenden Niederlage des Neuen Forums und der anderen Oppositionsgruppen mündete? War der betriebliche Aufbruch ein konservativer Aufbruch?
Das ist in der Tat ein komplexes Thema, weil man sich schon fragt: Wie kann das sein, dass ausgerechnet die konservative Allianz für Deutschland so viel Erfolg hatte? Mit der demokratischen Revolution hatte die Allianz jedenfalls mit Ausnahme des Demokratischen Aufbruchs, der aber auch nur 0,9 Prozent der Stimmen holte, nicht viel zu tun. Zwei Punkte erscheinen mir wichtig: Erstens dürfen wir nicht vergessen, dass die gesamte revolutionäre Entwicklung – auf der Straße wie in den Betrieben – die Sache einer Minderheit der Bevölkerung war. Die Opposition hatte einen wirklich enormen Zulauf, aber in der Mehrheit war sie nicht. Das ist allerdings im Vergleich zu anderen Revolutionen nichts Besonderes. Die Mehrheit hat erstmal geschaut und abgewartet, was kommt.
Zweitens genossen diejenigen, die im Wahlkampf vor einer schnellen Einheit warnten, kein großes Ansehen. Selbst die hochgehandelte SPD landete bei für damalige Verhältnisse enttäuschenden 21,9 Prozent. Dahinter steckte ein Anliegen vieler nach einer zügigen Teilhabe am Konsumniveau der Bundesrepublik. Das sollte man nicht vorschnell verurteilen, sondern als eine Art soziale Forderung begreifen.
»Die erste demokratisch gewählte Volkskammer der DDR musste sich von einem westdeutschen Manager erklären lassen, dass grundlegende Mitbestimmungsregeln außer Kraft gesetzt werden.«
Kohl knüpfte im Wahlkampf daran an und versprach die Währungsunion. Schnell hieß es, ein Umtausch der Währung im Verhältnis 1:1 soll kommen, das plakatierte sogar die PDS. Schnelle Einheit und schnelle D-Mark, das hat eben viele Menschen überzeugt. Dass im Übrigen nicht nur gewerkschaftsnahe Ökonominnen und Ökonomen, sondern auch der Zentralbankrat und die sogenannten Wirtschaftsweisen vor einem Wechselkurs von 1:1 warnten, spielte keine Rolle. Diese Zweifel wollte man in der Bundesregierung nicht hören. Käme man nicht schnell in die Umsetzung, seien soziale Unruhen zu befürchteten, lautete das Argument.
Die Währungsunion trieb viele DDR-Betriebe in die Insolvenz. Wurde mit dem Wahlsieg der Allianz für Deutschland im März 1990 das Zeitfenster, von dem Du gesprochen hast, geschlossen?
Ja, die Entscheidung lautete: So wie es in der Bundesrepublik ist, so soll es hier auch werden. In den Oppositionskreisen war die Enttäuschung hingegen groß und als Zeitgenosse will ich hinzufügen, dass auch ich damals nicht mit einem solchen Ergebnis gerechnet hätte.
Die westdeutschen Gewerkschaften wohl auch nicht. Sie wurden, wie die gesamte politische Linke, von der Revolution überrascht. Der damalige DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer sprach davon, die Gewerkschaften seien »von der Zukunft überholt« worden. Du hast Dich damit beschäftigt, welche Konzepte und Strategien die Gewerkschaften anschließend entwickelten. Zu welchen Ergebnissen bist Du gekommen?
In den Gewerkschaften lief seit den 1980er Jahren eine grundlegende Reformdebatte. Die sollte man im Kopf haben, wenn man auf die Reaktion der West-Gewerkschaften blickt. Neue Technologien in der Arbeitswelt, sozial-ökologischer Umbau, ein scheinbar postindustrielles Zeitalter – Themen, die wir auch heute diskutieren, waren damals bereits sehr aktuell. Doch mit dem Zusammenbruch der DDR und dem Prozess der Einheit wurden diese ganzen Debatten erst einmal gekappt, weil andere Fragen auf dem Tisch lagen. Die Ost-Gewerkschaften waren auf die Revolution und ihre Folgen ebenso wenig vorbereitet. An der Basis gab es wie erwähnt zahlreiche Initiativen. Der FDGB aber hatte überhaupt keine Idee, was zu tun ist, und wurde schnell zum Koloss auf tönernen Füßen.
Einige haben daraus den Schluss gezogen, dass die Gewerkschaften keine große Rolle in dem Einheitsprozess gespielt haben und den Geschehnissen nur hinterhergelaufen sind. Das stimmt so nicht. Zunächst erhoben die Gewerkschaften Forderungen zur finanziellen Unterstützung der DDR in ihren letzten Monaten. Wenig später entwickelten sie eine ganze Reihe an Vorschlägen, die darauf abzielten, den Transformationsprozess möglichst sozial zu gestalten. Da ging es noch nicht um grundlegende strukturpolitische Konzepte, aber durchaus um Weichenstellungen, zum Beispiel in der Energiepolitik. Gemeinsam war diesen Ideen nur eben auch, dass sie unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen kaum Resonanz fanden.
Das änderte sich 1991, als die Bundesregierung feststellen musste, dass die Transformation ohne staatliche Eingriffe nicht gelingen würde. Sie gründete das »Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost«und das beinhaltete teilweise Mitwirkungsmöglichkeiten für Gewerkschaften auf regionaler Ebene, die diese eingefordert hatten. Das war also ein erster kleiner Erfolg. Eine andere Maßnahme, deren Durchsetzung die Gewerkschaften für sich reklamierten, war der sogenannte »Solidarpakt«, der den ostdeutschen Bundesländern zusätzliche finanzielle Mittel zusicherte.
»Die Industrie-Holding der IG Metall war somit eine realistische Alternative zur Treuhand-Praxis und wurde als solche für eine gewisse Zeit breit diskutiert.«
Ein interessantes Konzept, das die ganze Privatisierungspolitik der folgenden Jahre im Grundsatz infrage stellte und anders organisieren wollte, ist heute vollkommen in Vergessenheit geraten: die Idee einer Industrie-Holding aus der IG Metall. Dieses Konzept sah vor, alle Treuhand-Unternehmen, die sanierungsfähig waren, unter einem staatlich finanzierten Dach zu sammeln. Anschließend sollte über einen Prozess von drei bis fünf Jahren geprüft werden, wie die Sanierung läuft, um dann über die Zukunft des Betriebs zu entscheiden. Die Holding wäre als Zusammenschluss verschiedener Aktiengesellschaften unter das Mitbestimmungsgesetz von 1976 gefallen, sodass gewerkschaftliche Mitbestimmung gesichert gewesen wäre. Das ist der zentrale Unterschied zur Architektur der Treuhandanstalt. Dort gab es zwar so etwas wie eine Beteiligung von Gewerkschaften. Von Mitbestimmung im eigentlichen Sinne konnte aber keineswegs die Rede sein.
Wurde die Idee der Industrie-Holding denn auch jenseits des Metallvorstandes diskutiert?
Der Vorschlag traf sowohl bei der IG Chemie als auch bei der IG Bergbau und Energie auf Sympathie und galt nicht Wenigen als möglicher Weg, und zwar nicht nur für die Werften oder die Automobilfabriken der IG Metall, sondern ebenfalls für die Großchemie um Leuna oder den Bergbau in der Lausitz. Sogar Kurt Biedenkopf, CDU- Ministerpräsident in Sachsen, zeigte sich offen. Die Industrie-Holding war somit schon eine realistische Alternative zur Treuhand-Praxis und wurde als solche für eine gewisse Zeit breit diskutiert. Insbesondere an den Stellen, wo es geklemmt hat, wo Betriebe zerteilt und letztlich ganz aufgegeben wurden, hätte sie wohl Abhilfe schaffen und Prozesse demokratisieren können.
Stattdessen wurde die Treuhand eine Behörde, auf die die Gewerkschaften und die Beschäftigten nur in begrenztem Maße Einfluss nehmen konnten. Andererseits wurde sie von einer Regierung auf den Weg gebracht, die die Wahl klar und deutlich gewonnen hatte. War die Treuhandanstalt Teil einer »ausgebremsten Demokratisierung«, wie Steffen Mau jüngst den Übergang von der Revolution zur Einheit beschrieben hat?
Die Treuhandanstalt in ihrer endgültigen Form entstand im Juni 1990 auf der Basis eines demokratisch abgestimmten Gesetzes, das zudem Möglichkeiten der Mitbestimmung vorsah. In der Praxis gab es allerdings von Anfang an eine zentrale Schieflage: Die Arbeitnehmerseite war in den Gremien der Treuhand nicht vorgesehen. Stattdessen sollten Managerinnen und Regierungsvertreter das Kommando übernehmen. Das war eine bewusste Entscheidung gegen Mitbestimmung und gewerkschaftliche Einflussnahme, wie der damalige Treuhand-Direktor Detlev Rohwedder 1990 vor der Volkskammer argumentierte.
Das hatte schon etwas Skurriles. Die erste demokratisch gewählte Volkskammer der DDR musste sich von einem westdeutschen Manager erklären lassen, dass grundlegende Mitbestimmungsregeln außer Kraft gesetzt werden. An diesem in meinem Verständnis antidemokratischen Akt gab es damals bis in die Reihen der CDU Kritik. Aber vierzehn Tage später war die DDR Geschichte. Was für einen Wert hatte da noch eine Diskussion in der Volkskammer?
Die Gewerkschaften bekamen noch Plätze im Verwaltungsrat der Treuhand.
Vier Personen von 23 wurden den Gewerkschaften zugestanden, die einer Mehrheit westdeutscher Managerinnen und wirtschaftsliberaler Regierungsbeamten gegenübersaßen. Mit einer ausgewogenen Kontrolle einer derart riesigen Institution hatte das nicht wirklich etwas zu tun.
Jetzt haben wir bislang eher über die Führungsebene der Gewerkschaften gesprochen. Du betonst gleichwohl in Deiner Forschung, dass das für ein umfassendes Verständnis der Transformation nicht ausreicht. Die Treuhandanstalt und die Bundesregierung sahen sich schnell mit einer Welle von Protesten in den Betrieben konfrontiert, an die heute aber nur wenig erinnert wird. Von der Betriebsbesetzung und dem Hungerstreik in Bischofferode im Sommer 1993 haben sicher einige mal gehört. Es gab aber auch einige weitere Versuche, Einfluss auf den Umbau zu nehmen. Wie schätzt Du die Proteste ein?
Viele mit der Einheit verbundene Hoffnungen zerplatzten bereits 1991. Während Kohl zuvor als Heilsbringer galt, wurde er nun zunehmend an den Pranger gestellt. »Treuhand: Kohls Mafia«, hieß es auf Demonstrationen. Das Protestgeschehen war enorm: Straßen, Autobahnen und etwas später sogar ein Flughafen wurden besetzt oder blockiert, vielerorts wurde gestreikt. In Leipzig belebte die IG Metall gemeinsam mit Kirchen wieder die Montagsdemonstrationen und Zehntausende kamen. Ein vorläufiger Höhepunkt in dieser Zuspitzung war die Ermordung Rohwedders, mit der häufig das Ende der gewerkschaftlichen Treuhandproteste verbunden wird. Das sehe ich so nicht. Die IG Metall zog sich ein Stück weit zurück und die enorme Mobilisierung aus dem Frühjahr 1991 ebbte ab. Aber schon im Sommer versuchten die Gewerkschaften angesichts der dramatischen wirtschaftlichen Lage wieder mit ihren Vorschlägen durchzudringen.
»Die Belegschaften organisierten große Demonstrationen, hielten in Wismar eine Werft besetzt und in Rostock errichteten sie wortwörtlich eine Mauer vor der Treuhand-Niederlassung.«
Nehmen wir zum Beispiel die Werftindustrie an der Ostseeküste. Dort gab es eine Art Industrie-Holding im Kleinen, deren Fortsetzung die Belegschaften einforderten. Sie organisierten große Demonstrationen, hielten in Wismar eine Werft besetzt und in Rostock errichteten sie wortwörtlich eine Mauer vor der Treuhand-Niederlassung. Dabei war ein interessantes Wechselspiel von Führung und Basis zu beobachten. Denn als die Beschäftigten aus der Besetzung in Wismar heraus anfingen, eine eigene Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, gerieten die Spitzen unter Druck. Auf der anderen Seite hatten die Beschäftigten unmittelbar Bezug auf das Industrie-Holding-Konzept genommen, das im Vorstand der IG Metall entwickelt worden war.
Insgesamt ist augenfällig, wie stark diese massiven Proteste in Vergessenheit geraten sind. Selbst in der wissenschaftlichen Literatur über Protestbewegungen in Deutschland tauchen sie kaum auf. Dabei gab es allein 1991 über 150 Streiks in Ostdeutschland und in den Folgejahren weitere 200 bis 250. Natürlich waren da nicht permanent Zehntausende auf den Straßen. Aber es sind heftige und gegen die Privatisierungspolitik gerichtete Auseinandersetzungen gewesen, die man als Protestbewegung bezeichnen muss. Und diese ist ein Teil der Demokratiegeschichte der Bundesrepublik, denn den Leuten ging es nicht einfach um einen persönlichen Vorteil, sondern um die Zukunft eines Landes und die Sorge vor einer tiefen sozialen Spaltung.
Was ebenfalls kaum erinnert wird: Die Protestbewegung konnte durchaus kleinere Erfolge vorweisen. In Thüringen schlossen sich beispielsweise 1993 Betriebe in einem vom DGB unterstützten Aktionsbündnis namens »5 vor 12 – Thüringen brennt!« zusammen. Ihr Druck war ausschlaggebend für die Auflegung eines Investitionsfonds in Thüringen, der Standorte und damit Arbeitsplätze sicherte. Es hat sich durchaus gelohnt, gemeinsam für die eigenen Interessen einzutreten.
1993 waren einige Prozesse natürlich schon gelaufen. Aus gewerkschaftlicher Perspektive liegt der Gedanke nahe, dass es solche Initiativen früher gebraucht hätte.
Da ist was dran. Man muss aber auch sehen, dass sowohl die Betriebsräte als auch viele Beschäftigte anfangs bereit waren, Verluste hinzunehmen, um am Ende als Betrieb eine Zukunft zu haben. Als sich abzeichnete, dass diese Bereitschaft nicht ausreicht, sagten viele: Jetzt ist es genug. Jetzt gehen wir die Sache doch noch einmal anders an.
Ich habe den Eindruck, dass man sowohl im betrieblichen Aufbruch als auch in den Treuhandprotesten eine Kombination aus einer gewissen Zurückhaltung oder Genügsamkeit in den Forderungen mit wiederum sehr radikalen Formen in der konkreten Aktion findet. Im Winter 1989/1990 wollten Arbeiterinnen und Arbeiter in Plauen für ein soziale Marktwirtschaft in den Generalstreik treten. Später wurden Betriebe besetzt, um diesen im Rahmen einer »gerechten Leistungsgesellschaft« zu erhalten.
An dieser Position sind auch manche Bündnisse gescheitert, die ostdeutsche Betriebsräteinitiative zum Beispiel. Sie wurde 1992 von ostdeutschen Betriebsräten ins Leben gerufen, um sich gemeinsam für den Erhalt der eigenen Standorte und Arbeitsplätze einzusetzen. Für dieses Ziel waren sie bereit, auch mit harten Bandagen zu kämpfen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und das ist ja alles andere als wenig. Nur für einige aus der radikalen Linken, die sich der Initiative angeschlossen hatten, war das eben doch zu wenig. Sie wollten die Streiks ausweiten, sahen weitere revolutionäre Entwicklungen am Horizont. Ihr wachsender Einfluss war letztlich ausschlagbend dafür, dass einige wichtige Gründungsmitglieder die Initiative nach eineinhalb Jahren verließen.
Gab es noch andere solcher Ost-West-Konflikte innerhalb der Proteste oder der Gewerkschaften?
Auf jeden Fall. Die IG Metall ist teilweise in einer Art aufgetreten, die den ostdeutschen Belegschaften nicht gefallen konnte. Die Westdeutschen beschwerten sich etwa, dass ihre Kolleginnen und Kollegen im Osten wenig kämpferisch seien und keine Streikerfahrung hätten. Vor dem Hintergrund der Proteste, über die wir gesprochen haben, hat das natürlich eine gewisse Ironie. Am Anfang hatten die westdeutschen Gewerkschaften jedenfalls wenig Ahnung von der Lebenswelt ihrer Kolleginnen und Kollegen im Osten und agierten entsprechend.
Zumindest was die Proteste dieser Jahre angeht, begegnet man diesem Phänomen auch heute noch. Warum hältst Du es für ein Problem, wenn diese Geschichten der ostdeutschen Transformation so wenig erinnert werden?
Sie zeigen, dass Transformation nicht einfach ein Schicksal ist, was über Dich kommt und Du dann ertragen musst, wo Du Dich nicht zur Wehr setzen kannst. An eine solches Opfernarrativ von den »Wendeverlierern« knüpfen Leute wie Dirk Oschmann an. Das halte ich für falsch. Die Leute sind keine Opfer. Viele von ihnen haben sich damals sehr aktiv eingesetzt. Wir sollten sie als handelnde Subjekte erinnern, nicht als passive Opfermasse.
Aber die ostdeutschen Belegschaften haben tatsächlich viel verloren.
Materiell, ja. Aber es geht doch um mehr. Ich fühle mich viel besser, wenn ich mit anderen um etwas gekämpft habe, Solidarität erfahren habe, als wenn ich mich in die Datsche setze und die Hände in den Schoß lege. Das gilt auch dann, wenn meine Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt werden. Die psychologische Dimension ist wichtig: Viele waren nicht bereit, die Verhältnisse einfach hinzunehmen und machten die Erfahrung, dass sie kollektiv handlungsfähig sind.
Da sind wir wieder bei den Demokratisierungsprozessen, die 1989 begonnen und in gewisser Weise bis in die frühen 1990er Jahre reichten, wenn auch unter fundamental anderen Bedingungen.
Genau. Die verschiedenen Mobilisierungen endeten Mitte der 1990er Jahre, als entweder Lösungen gefunden wurden oder die Betriebe verschwunden waren. Eine neue Phase begann dann Anfang der 2000er Jahre mit den Protesten gegen Hartz IV und die Agenda 2010. Ich glaube, viel von der Verbitterung heute, kommt auch aus dieser Zeit.
Damit benennst Du eine Abfolge von mehreren großen Protestwellen, die letztlich nie das durchsetzen konnten, wofür sie angetreten sind: Ist der damit verbundene Frust etwas, woraus die AfD heute im Osten ihre Stärke zieht?
Es gibt keine monokausale Erklärung für die gegenwärtige Lage. Aber es ist schon auffällig, dass diese historischen Entwicklungen eine große Rolle in den heutigen Diskussionen spielen, so undifferenziert sie auch geführt werden.
Dann blicken wir doch abschließend nochmal auf die Gegenwart. Von den demokratischen Aufbrüchen ist auf den ersten Blick wenig geblieben. Stattdessen gelingt es der AfD sogar viele derjenigen zu überzeugen, die sich als Arbeiterinnen und Arbeiter verstehen. Inwiefern hilft eine Auseinandersetzung mit ostdeutscher und gewerkschaftlicher Geschichte im Hinblick auf diese politischen Herausforderungen der Gegenwart? Was lernen wir über den Osten?
Ich bin vollkommen einig mit der Ansicht, dass die gegenwärtige Ost-West-Debatte wenig hilfreich ist. Sie belebt alte Stereotype statt neue Erkenntnisse zu generieren. Der Osten weist nach wie vor andere Sozialstrukturen auf. Das empirisch fundiert aufgezeigt zu haben, ist das jüngste Verdienst von Steffen Mau. Und dass diese Unterschiede nach wie vor bestehen, hängt natürlich eng mit der ostdeutschen Geschichte zusammen. Zu meinen, das könnte man alles glätten, ist keine vernünftige Perspektive. Deshalb erscheint mir die Idee einer »inneren Einheit« mittlerweile obsolet.
Das heißt nicht, dass man die sozialen Ungleichheiten unangetastet lassen sollte, die bundesweit aber eben auch zwischen Ost und West bestehen. Im Gegenteil: Das Herbeiführen sozialer Verhältnisse, die dem in diesem Land zur Verfügung stehenden Reichtum entsprechen – keine Kinder- oder Altersarmut, ausreichend bezahlbarer Wohnraum und Ähnliches –, ist ein ganz zentraler Punkt, wenn wir über den Aufstieg der Rechten sprechen.
Und können Gewerkschaften und die politische Linke auch darüber hinaus etwas lernen – vielleicht sogar für die Transformationen der Gegenwart?
Die Gewerkschaften sollten stärker an die Proteste erinnern und versuchen, positiv an diese Erfahrungen anzuknüpfen. Das bedeutet auch, Schlussfolgerungen für heutige Transformationsprozesse zu ziehen. Eine Lehre aus der ostdeutschen Transformation der 1990er Jahre ist dabei sicherlich: Keine Entscheidungen top-down treffen, sondern größtmögliche Transparenz schaffen und eine weitestgehende Mitbestimmung der Betroffenen von etwaigen Veränderungen sichern – und zwar nicht nur im Sinne einer Weitergabe von Informationen, sondern mit realen und umfangreichen Einflussmöglichkeiten, wirklich demokratische Mitbestimmung eben. Auf diese Weise kann man auch einen möglicherweise schmerzhaften Strukturwandel organisieren.
Das klingt vielleicht einfach, ist aber viel Arbeit. Wenn nicht am Ende doch wieder marktliberale Kräfte die ökologischen und digitalen Transformationen der Gegenwart bestimmen sollen, dann haben die Gewerkschaften und ihre politischen Verbündeten einiges zu tun.
Prof. Dr. Detlev Brunner lehrt Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts an der Universität Leipzig und ist dort Direktor der Forschungsstelle Transformationsgeschichte am Historischen Seminar.