16. Juni 2024
Wenn mehr Ossis in Führungspositionen gefordert werden oder Politiker mit Thüringer Rostbratwurst posieren, ist das nichts als identitätspolitischer Kitsch. Wirklich stärken kann man den Osten nur mit klassenbewusster Politik.
Ministerpräsident Bodo Ramelow genießt eine Bratwurst beim Sommerfest der Thüringer Landesvertretung in Berlin, 20. Juni 2023.
Vor einigen Wochen teilte der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow seine Liebe für die gute Thüringer Bratwurst auf Twitter. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Ramelow mit ostdeutschen Produkten schmückt. Egal ob Vita Cola, Radeberger Bier oder Bautzner Senf – das Posen in der Schmalkaldener Wurstfabrik und die Inszenierung als »Ost-Versteher« ist Teil seiner Marke.
Das Problem ist nur: Die besagten Produkte haben nur noch den Anschein, aus Ostdeutschland zu kommen. Seit der sogenannten Wiedervereinigung sind sie alle im Besitz von westdeutschen Firmen. Auch Ramelow selbst kam, wie so viele Wessis mit ihm, 1990 aus dem Westen nach Ostdeutschland, um Strukturen, Verbände und Ähnliches aufzubauen. Ganz nach dem Motto: Der vom Sozialismus geistig deformierte Ossi ist dazu ja nicht zu gebrauchen.
Ramelow, der gebürtige Wessi, geht also mit westdeutschen Produkten, die ehemals ostdeutsche waren, hausieren, um bei Ossis die sogenannte »Ostalgie« zu bedienen. Dabei setzt er eigentlich jene Strukturen fort, die seit der Wende die ostdeutsche Geschichte prägen: Der Ossi hat keine Plattform, kein Sprachrohr und keine politische Vertretung. Wenn er mal Thema ist, wird zumeist über ihn gesprochen und das am besten noch von Wessis. Nach über dreißig Jahren »deutscher Einheit« ist der Ossi immer noch nicht mehr als 1990: Ein Konsument westdeutscher Produkte, sei es Bier oder die parlamentarische Demokratie.
Dass Unternehmen ab und an die Besitzer wechseln, ist nichts Neues, aber bei ostdeutschen Firmen lassen sich die Wechsel alle an einem Ereignis festmachen: dem Anschluss der DDR an die BRD, landläufig als »Wende« oder »Wiedervereinigung« verharmlost. Vermittelt wurde dies durch die Treuhandanstalt, die insbesondere unter der Führung Birgit Breuels (die niedersächsische Margaret Thatcher) alles im Osten, auch was niet- und nagelfest war, an den Westen verramscht hat. Oft für eine symbolische Mark.
Prominente Beispiele sind etwa das Kaliwerk in Bischofferode, das nicht geschlossen wurde, weil es so marode und wertlos war, sondern weil die westdeutsche Konkurrenz namens BASF nichts mit dem Salz dort anfangen konnte. Dieses war naturgemäß von höherer Qualität und für die BASF-Prozesse damit ungeeignet. Als Konsequenz musste das Werk schließen und 1.000 Menschen wurden arbeitslos, trotz Widerstand und Hungerstreik.
Auch die DDR-Fluglinie Interflug musste nicht aus wirtschaftlichen Gründen schließen. Oder vielleicht doch – denn die westdeutsche Lufthansa duldete keine innerdeutsche Konkurrenz und so blockierte die Treuhandanstalt auch Angebote aus dem Ausland. Diese Liste lässt sich beliebig weiterführen.
»Für den Vorgang, mit dem die ehemalige DDR in die BRD eingegliedert wurde, gibt es mehrere Bezeichnungen: Wende, Wiedervereinigung, friedliche Revolution. Richtig wäre Anschluss, Annexion, Kolonisierung.«
Bei vielen ehemals ostdeutschen Firmen wurden sich die Juwelen herausgepickt und der Rest billig verscherbelt (zum Beispiel VEB Carl Zeiss Jena). Oftmals waren die »Investoren« schlicht scharf auf die Grundstücke. Die Treuhandanstalt hat kaum Prüfungen durchgeführt, wer da eigentlich was im Osten kaufen wollte. Stattdessen bekamen westdeutsche Geschäftsleute Millionen an Zuschüssen, damit sie die Unternehmen erneuern, mit der Zusage, Arbeitsplätze zu sichern. In der Realität wurden die meisten Betriebe dichtgemacht. Die Käufer haben alles, was verwertbar war, mitgenommen und sich damit abgesetzt.
Das Resultat: Die Ossis wurden arbeitslos, Firmen gingen bankrott, ganze Landstriche wurden deindustrialisiert und die windigen Käufer, samt Steuergelder, waren weg. Oder, wie der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière (CDU), den Prozess bewertete: »Ich glaube, wir haben unseren Auftrag relativ anständig gemeistert.« Naja, wenn einem das Schicksal der Menschen nicht so wichtig ist, kann man zu dieser Einschätzung kommen.
Aber sie nahmen uns nicht nur die Firmen, sondern auch die Symbole. Am markantesten ist natürlich der Palast der Republik, der wegen Asbest angeblich nicht mehr zu retten war. Der Palast musste so schnell platt gemacht werden, dass er nicht einmal mehr in den dazugehörigen Künstlerwettbewerb zur Neugestaltung des Platzes einbezogen werden konnte. Sozialismus weg, preußischer Nationalismus her.
Und als ob das nicht genug wäre, verkauft der Souvenirladen des Humboldt-Forums (Berlins furchtbarstes Gebäude), die alten Lampen aus dem Palast der Republik für 3.695 Euro. Unweit davon steht der Fernsehturm, das höchste Bauwerk Deutschlands und ein Beweis, dass die DDR existierte (weswegen es auch hier nach der »Wende« Stimmen gab, ihn platt zu machen). Aber wem gehört das Ding eigentlich? Einer Firma namens Deutsche Funkturm – einer Tochter der, na klar, westdeutschen Telekom.
Für den Vorgang, mit dem die ehemalige DDR in die BRD eingegliedert wurde, gibt es mehrere Bezeichnungen, die sich im Sprachgebrauch festgesetzt haben: Wende, Wiedervereinigung, friedliche Revolution. Klingt alles toll, ist aber falsch. Richtig wäre Anschluss, Annexion, Kolonisierung. Diese Wortwahl wirkt erst einmal provokant, aber nur, weil die Berichterstattung und Weitergabe an Informationen zu diesem Thema seitens Westdeutschland extrem mangelhaft und einseitig sind. Natürlich ist der Westen nicht mit der Bundeswehr nach Bautzen, Greifswald und Dessau eingerückt, um die frohe Kunde der freien Marktwirtschaft zu überbringen. Aber das musste er auch gar nicht mehr.
Am 4. November 1989 versammelte sich fast eine Million Menschen auf dem Alexanderplatz in Berlin, um gegen die Regierung und für einen modernen Sozialismus zu demonstrieren. Eine Vereinigung mit der BRD war nie Thema. Das Schlüsselereignis, das diese Bestrebungen massiv erschwerte (beziehungsweise verunmöglichte) kam fünf Tage später, als Günter Schabowski seine berühmten Worte sprach und die Mauer fiel.
Schlagartig fanden sich sowohl die Regierung als auch die Opposition in einer neuen Situation wieder, die beide massiv überforderte. Insbesondere die West-CDU unter Kohl nutzte das aus, um politisch Druck für die »Wiedervereinigung« zu machen, auch mithilfe der Ost-CDU, die sich in kurzer Zeit komplett der West-CDU anpasste, dafür massiv Unterstützung für den Wahlkampf zur ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 erhielt und diese am Ende auch gewann.
Jetzt ging es nur noch um den raschen Anschluss der DDR, denn die Menschen erhofften sich davon schnellen Reichtum und Stabilität durch die Deutsche Mark. Ein kolossaler Trugschluss, befeuert durch die Wahlversprechen Kohls (die sich wie so viele Wahlversprechen als Lügen herausstellen sollten).
»Wenn du im Osten einen Wessi siehst, ist es entweder dein Chef, dein Vermieter oder du stehst vor Gericht.«
Am 1. Juli 1990 fand die faktische »Wiedervereinigung« statt, an diesem Tag trat die Währungsunion in Kraft und besiegelte endgültig das Schicksal der DDR. Gegen diese brutale Maßnahme hatte die Wirtschaft der DDR keine Chance. Das lag aber nicht an den maroden Finanzen, diese Maßnahme hätte auch Länder wie Belgien in die Knie gezwungen.
Allen Beteiligten war klar, welche Folgen diese Währungsunion haben würde. Sie war so umstritten, dass sogar der Bundesbankchef Pöhl dagegen war und erst nach politischem Druck der CDU zustimmte. Maßgeblicher Architekt der Union war übrigens Thilo Sarrazin. Bevor er also sein rassistisches Standardwerk verfasste, arbeitete er daran, die DDR abzuschaffen.
Neben der wirtschaftlichen Zerstörung, die in der Treuhandanstalt ihre Vollstreckerin finden sollte, und der Deindustrialisierung Ostdeutschlands, wurde das politische System des Westens installiert, inklusive der dazugehörigen Beamten. Ostdeutsche Eliten wurden verjagt, etwa 70 Prozent aller Mitarbeitenden an ostdeutschen Universitäten und Hochschulen verloren ihren Job, viele zusätzlich ihre Rentenansprüche.
Stattdessen kam die zweite und dritte Garde westdeutscher Eliten, denen in Köln, Hamburg oder West-Berlin eine Karriere verwehrt blieb, um den faulen Ossis zu zeigen, wie man ein Land richtig führt. In der ARD-Dokumentation Wir Ostdeutsche – 30 Jahre im vereinten Land fasste eine Frau diese Entwicklung so zusammen: »Wenn du im Osten einen Wessi siehst, ist es entweder dein Chef, dein Vermieter oder du stehst vor Gericht.«
Aber nur weil »der Wessi« (also das westdeutsche Kapital) uns gründlich über den Tisch gezogen hat, darf man nicht in eine stumpfe Identitätspolitik verfallen und sagen: Der Wessi ist scheiße, der Ossi ist toll. Nur weil jemand aus dem Osten kommt, heißt es noch lange nicht, dass er oder sie sich auch für diesen einsetzt – siehe Angela Merkel, Joachim Gauck oder Sahra Wagenknecht.
Und auch Wessis können sich für den Osten einsetzen (nehme ich an). Identitätspolitik verleitet einen dazu, in die Falle der Repräsentation zu tappen, die einige ostdeutsche Initiativen immer wieder fordern: mehr Ossis in wichtigen Positionen, mehr Ministerien in Ostdeutschland und so weiter. Wir hatten sechzehn Jahre Merkel als Kanzlerin, Matthias Sammer war Sportvorstand und Manager bei Bayern München und dem DFB und Matthias Schweighöfer ist aus dem deutschen Film nicht mehr wegzudenken. Und was hat’s gebracht? Eben.
Das Thema Osten, »Wende«, DDR und deren Auswirkungen, die bis heute nachwirken, wurde von der deutschen Linken sträflich ignoriert. Auch wenn es über dreißig Jahre her ist, wer sich eine beliebige Statistik auf der Deutschlandkarte anschaut, sieht heute noch die Grenze. Die Zerstörung der Wendejahre hat ein riesiges Vakuum geschaffen. Ganze Strukturen sind zusammengebrochen und um Ersatz wurde sich nie gekümmert.
»Der Osten braucht eine Politik, die die Menschen politisch dazu ermächtigt, ihr Schicksal auch in die eigene Hand nehmen zu können.«
Dass dies zu Frust und Ressentiments führt, ist offensichtlich. Rechte (aus Ost und West) haben diese Lücken und diesen Frust genutzt – wie es Rechte immer wieder tun. Da ist der Osten keine Besonderheit oder ein Novum, man will sich nur nicht der Realität stellen und sich eingestehen, dass die eigene Politik maßgeblich daran schuld ist.
Doch wo soll es in Zukunft hingehen? Die DDR ist Geschichte und kann (und sollte) nicht wiederbelebt werden. Auch eine Abspaltung Ostdeutschlands ist weder möglich noch sinnvoll, da der Osten von westdeutschen Transferleistungen abhängig ist. Nach über dreißig Jahren ist der Osten nicht selbstständig überlebensfähig. Ziel kann daher nicht die Flucht in die Vergangenheit sein, sondern muss in der Umwälzung der gesamtdeutschen Verhältnisse bestehen.
Die Probleme, die der Osten hat, mögen eine einmalige historische Ursache haben, doch finden sie sich genauso auch in Westdeutschland: Veraltete Infrastruktur, verödete Regionen, sozialer Kahlschlag und Perspektivlosigkeit greifen überall um sich und führen zu ähnlichen Problemen. Die AfD beziehungsweise die Rechten mögen im Osten gerade am stärksten sein, doch auch in Westdeutschland bekommen sie Zulauf. Mit kapitalistischer Politik ist dem nicht beizukommen, im Gegenteil. Was also ist die Lösung? Vielleicht könnte man die Forderung der Demonstrierenden in der DRR wieder aufnehmen: ein reformierter Sozialismus, aber diesmal zwischen Rhein und Oder.
Tja, Herr Ramelow, was machen wir nun? Die Wurst, der Senf, das Bier, meine Wohnung, ja selbst der Fernsehturm, gehören einem Wessi. Wir brauchen mehr als ein bisschen DDR-Washing, ein bisschen mehr als billige Ostalgie. Was wir brauchen, auch und gerade von der Linken, ist eine ehrliche und schonungslose Analyse der »Wende«.
Hier ist nichts zusammengewachsen und es gab auch nicht nur ein paar Problemchen. Es war der größte Vermögenstransfer (auch Raub genannt) von einem Land in ein anderes, den es außerhalb von Kriegs- und Nachkriegszeiten, je gegeben hat. Und natürlich merkt man das auch 34 Jahre später noch. Wer hier an die Wurzel will, muss an den Kapitalismus, an die westdeutsche Hegemonie und die westdeutsche Geschichtsschreibung ran.
Der Osten braucht eine Politik, die die Menschen politisch dazu ermächtigt, ihr Schicksal auch in die eigene Hand nehmen zu können. Diese Emanzipation ist längst überfällig, ihr Fehlen ist Grund für den anhaltenden Frust. Doch nicht nur der Ossi ist frustriert und hat die Schnauze voll, auch drüben gibt es genug Ärger. Es ist eigentlich ganz einfach: Wer die Wurzel der Ungerechtigkeit in Ostdeutschland angeht, der tut es auch im Westen. Wer den Ossi emanzipiert, emanzipiert die Menschen in ganz Deutschland. Das erfordert aber ein wenig mehr, als mit Senfeimern zu wedeln.
Stella Bugatti agiert als Ostfluencer auf Twitter und ist ansonsten im internationalen Klimaschutz tätig.