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10. November 2025

Ostdeutschlands neue Junker sind unsichtbar

In Ostdeutschland sind die Agrarflächenpreise seit der Finanzkrise um 400 Prozent gestiegen, nur noch Großinvestoren können sie sich leisten. Diese bilden nun eine neue Junkerklasse, die Agrarsubventionen kassiert und auf einen Boom bei Erneuerbaren setzt.

Ein immer größerer Teil der Agrarflächen Ostdeutschlands befindet sich im Besitz anonymer Investmentholdings.

Ein immer größerer Teil der Agrarflächen Ostdeutschlands befindet sich im Besitz anonymer Investmentholdings.

IMAGO / serienlicht

Es muss in Deutschland schon zu einem Aufstand kommen, damit medial über die Probleme des ländlichen Raumes allgemein oder der Landwirtschaft im Speziellen gesprochen wird. Als 2024 wütende Bauern in Deutschland Autobahnauffahrten blockierten, Ampeln als Symbol der gleichnamigen Regierung an Ortseinfahrten am Galgen baumeln ließen und mit ihren Treckern im Herzen des Berliner Regierungsviertels anrückten, war mal wieder so ein Moment erreicht.

Die Rezeption reichte von Sorge (beziehungsweise Freude von entsprechender Seite) vor einem rechtsradikalen Aufstand durch die traditionell als konservativ geltenden Landwirte bis zur Verwunderung über die in hiesigen Gefilden sehr selten gewordene politische Wut, die sich dort entlud. Als Erklärung setzte sich schnell die »geringe Wertschätzung und das fehlende Verständnis bei linksliberalen, urbanen Eliten« oder die »verfehlte Wirtschafts- und Energiepolitik von Robert Habeck« durch, so die rechte Journalistin Julia Ruhs in ihrem mittlerweile abgesetzten ÖRR-Format Klar.

Dabei sind die Probleme viel tiefgreifender und keineswegs mit derlei emotionsgetriebenen Handlungen und Vorurteilen über einzelne Gesellschaftsgruppen, die einem fremd sind, erklärbar. Stattdessen geht es um schnöde, kapitalistische Wirkungsmechanismen auf dem Bodenmarkt. Besonders hart trifft diese Entwicklung eine der ärmsten Regionen der Bundesrepublik: den ländlichen Raum Ostdeutschlands.

»Boden ist als nicht vermehrbares, von Natur aus begrenztes Gut und zugleich unersetzbare Lebens- und Arbeitsgrundlage für Landwirte als langfristiges Anlageobjekt hoch attraktiv.«

Ein verdrehter Erfolg der DDR

Die Landwirtschaft ist der einzige Wirtschaftszweig, der im Osten deutlich profitabler ist als in Westdeutschland. Dies liegt vor allem an der vor achtzig Jahren im Spätsommer 1945 erfolgten Bodenreform, bei dem die alten Landjunker – die vor allem östlich der Elbe große Flächen besaßen – enteignet und das Land an Neubauern und bisherige Knechte verteilt wurde. Der anfängliche Plan, ähnlich wie noch heute in Westdeutschland, eine ländliche Gesellschaft aus Kleinbauern zu errichten, wurde angesichts des steigenden Nahrungsmittelbedarfs zugunsten einer Kollektivierung nach sowjetischem Vorbild aufgegeben. Es entstanden staatliche Volkseigene Güter (VEG) und vor allem Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG), die als (wenn auch nicht immer freiwilliger) Zusammenschluss der Kleinbauern riesige Flächen bewirtschafteten und stark industrialisierte Landwirtschaft betrieben, die hoch profitabel war.

Darum rückte die Bundesregierung nach der Wende schnell von ihrem ursprünglichen Plan ab, die landwirtschaftliche Struktur in Ostdeutschland in Richtung kleiner Familienbetriebe mit eigener Scholle zu drehen. Viele LPGs konnten in hoch produktive Agrarunternehmen überführt werden, in denen zumeist die bereits zu DDR-Zeiten aktiven Vorsitzenden das Ruder übernahmen. Zwar versuchten noch einige Alteigentümer – zumeist mit Adelstiteln – die aristokratische Herrschaft auf dem Land wiederherzustellen, doch bereits im Dezember 1990 wurden ihre Klagen abgewiesen.

Beim Boden galt die Devise »Rückgabe vor Entschädigung« nicht, die Bodenreform von 1945 wurde – vor allem auf Druck der DDR und UdSSR bei Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrags – auch im neuen System als rechtskräftig bestätigt. Mehr als fünfzehn Jahre entwickelte sich die Landwirtschaft im Gegensatz zu praktisch allen anderen Wirtschaftszweigen dank der großen, stark industrialisierten Agrarbetriebe sehr gut und kann als später Erfolg der DDR auch unter kapitalistischen Gesichtspunkten verbucht werden.

Große Flächen, große Profite

Die großen Betriebe und besonders deren Flächen wecken längst auch Begehrlichkeiten jenseits der altadeligen Gutsbesitzer aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Besonders seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2007 ist ein starkes Interesse am ostdeutschen Boden erkennbar. Denn Boden ist als nicht vermehrbares, von Natur aus begrenztes Gut und zugleich unersetzbare Lebens- und Arbeitsgrundlage für Landwirte als langfristiges Anlageobjekt hoch attraktiv.

Ostdeutschland bietet sich aufgrund der großen Flächen der Betriebe infolge der LPG-Strukturen und der starken Industrialisierung besonders an. Die aus den LPGs entstandenen Betriebe weisen in der Regel eine genossenschaftliche oder GmbH-Struktur auf, was es Investoren von außerhalb ermöglicht, in diese Strukturen als Gesellschafter einzusteigen. Bei einem kleinen Familienbetrieb – wie sie besonders in Süddeutschland verbreitet sind – wäre diese Form des Aufkaufens von landwirtschaftlichen Betrieben nicht so einfach möglich.

Ob Tchibo-, Aldi- oder SAP-Erben, ob Münchener Rück oder Vonovia: Die Liste derjenigen, die inzwischen Anteile an ostdeutschen Landwirtschaftsbetrieben besitzen, liest sich wie das Who is Who der deutschen Großkonzerne und Industriellen. Zudem gibt es mit Firmen wie AgroEnergy oder dem KTG-Konzern Unternehmen, die sich auf die Übernahme landwirtschaftlicher Flächen vor allem in Ostdeutschland spezialisiert haben. So bewirtschaftet KTG mittlerweile knapp 35.000 Hektar Land in Ostdeutschland, wobei ihnen davon ein gutes Drittel selbst gehören. Der Rest ist gepachtet aus einem Flickenteppich an Eigentümern, nicht nur aus Deutschland. Der australische Infrastukturinvestor Agneo kaufte 2023 die Deutsche Agrar Holding und damit 20.000 Hektar Land in Ostdeutschland.

»Während in Westdeutschland der Grundsatz ›Wachsen oder Weichen‹ aufgrund der kleinteiligen Betriebsstruktur ein massives Höfesterben verursacht, sind in Ostdeutschland nur noch Investoren in der Lage, die riesigen Flächen zu übernehmen.«

Die Parameter sind für diese Investoren perfekt: Sie haben mit den ohnehin profitablen landwirtschaftlichen Industriebetrieben eine ziemlich sichere Anlage, die zudem auch noch kräftig durch EU-Agrarsubventionen gefördert werden, da diese nach der Fläche des Landwirtschaftsbetriebs verteilt werden. Zusätzlich dazu ist dieser Wirtschaftsbereich komplett unreguliert, Investoren können ohne Anzeigenpflicht oder gar kartellrechtliche Überprüfung auf ostdeutsche Latifundien zugreifen. So bleiben nur Schätzungen darüber, wem die industriellen Landwirtschaftsbetriebe Ostdeutschlands eigentlich gehören. In einer Studie geht das Thünen-Institut inzwischen davon aus, dass 34 Prozent der Anteile an den ostdeutschen landwirtschaftlichen Betrieben mittlerweile in der Hand von westdeutschen oder ausländischen Investoren sind, Tendenz stark steigend.

Doch nicht nur Beteiligungen an bestehenden Landwirtschaftsbetrieben sind lohnend, auch der Boden an sich ist es. Da nur circa 1 Prozent der Landflächen pro Jahr verkauft werden, herrscht eine permanente Knappheit, die Gebiete sind zudem umkämpft. Die Preise hierfür sind seit 2007 in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern – aufgrund der dünnen Besiedlung traditionell mit den flächenmäßig größten Landwirtschaftsbetrieben ausgestattet – um mehr als 400 Prozent explodiert.

Und mit ihnen auch die Pachtpreise. Selbst für gut laufende landwirtschaftliche Betriebe wird es mittlerweile schwierig, die Pacht aufzubringen oder auch nur geringe Flächen hinzuzukaufen. Jan Brunner von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft kommentiert: »Aufgrund der explodierenden Bodenpreise sind mittlerweile faktisch nur noch Investoren in der Lage, in die Betriebe einzusteigen oder diese aufzukaufen. Ähnlich verhält es sich mit dem Boden. Bäuerinnen und Bauern in Ostdeutschland werden so massiv in ihrer Existenz bedroht und Junglandwirte finden kaum noch Land, um Betriebe zu gründen.« Die Interessenvertretung insbesondere kleiner und mittlerer Agrarbetriebe befindet sich in expliziter Opposition zum Deutschen Bauernverband, der vor allem die Agrarindustrie vertritt.

Erneuerbare verschärfen das Problem

Jeder Verkauf von Boden, jede Beteiligung am örtlichen Landwirtschaftsbetrieb birgt großen sozialen Sprengstoff innerhalb der Dorfgemeinschaften. Vielfach kommt es zu Streit über die Zukunft der wirtschaftlichen Herzkammer des ländlichen Raumes, etwa wenn der frühere LPG-Vorsitzende und jetzige gesellschaftende Geschäftsführer des örtlichen Betriebs sich mit einem goldenen Handschlag in die Rente verabschiedet und Anteile und damit Flächen an den Höchstbietenden verkauft, wie es vielerorts passiert.

Derlei Beziehungsgeflechte und Streitigkeiten sind in Juli Zehs Bestseller Unterleuten anschaulich dargestellt. Der Erfolg des Buches und die Bekanntheit der Autorin – die selbst in Brandenburg auf dem Land lebt – brachte das Thema Bodenspekulation und Beteiligung für einen kurzen Moment in den Blick der Öffentlichkeit, doch eine breitere Auseinandersetzung damit blieb aus. Im Buch geht es um den Bau eines Windparks, denn mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz steht seit Jahren eine noch profitablere Möglichkeit als der Anbau von Nahrungsmitteln oder die Nutztierhaltung in den Startlöchern.

»Noch nicht mal ein Gesicht, das sie bei Streitigkeiten anbrüllen und gegen das sie rebellieren können, haben die Dorfbewohner vor sich.«

Bis 2045 möchte Deutschland klimaneutral sein, schon heute kommen über 80 Prozent der deutschen Energieproduktion aus Erneuerbaren. Besonders in Ostdeutschland sieht man diese Entwicklung an den großen Windparks, die mittlerweile die Landschaft prägen und Betreibern der Anlage wie Eigentümern der Böden stattliche Gewinne bescheren. Dieses für den Klimaschutz löbliche Ziel verschärft den Bodenmarkt noch einmal massiv. »Es fing alles in den 00er-Jahren mit den Biogasanlagen an und geht jetzt mit riesigen Flächensolarparks weiter. Investoren wie Quarterback Immobilien gaben an, Solaranlagen auf bis zu 6 Hektar Land errichten zu wollen«, weiß Jan Brunner zu berichten.

Auch hier bekommen Investoren eine garantierte Vergütung für den erzeugten Strom dank der staatlichen EEG-Umlage. Die Betreiber derlei Projekte für erneuerbare Energien sind nicht selten die bisherigen großen fossilen Umweltsäue. So konnten Bürger im brandenburgischen Karstädt den Bau der größten Biomethangasanlage Europas verhindern. Betreiben wollte diese der Ölmulti Shell.

Gutsherren auf Distanz

Während in Westdeutschland der Grundsatz »Wachsen oder Weichen« aufgrund der kleinteiligen Betriebsstruktur ein massives Höfesterben verursacht, sind in Ostdeutschland nur noch Investoren in der Lage, die riesigen Flächen zu übernehmen. Es scheint kaum umkehrbar, dass der allgemeine Leninsche Grundsatz von der Monopoltendenz im Kapitalismus die bislang davon weitestgehend ausgenommene Landwirtschaft in Ost wie West erfassen wird und eines Tages nur noch einige wenige Big Player die ländlichen Räume besitzen werden. Ob nun von Landwirtschaftsbetrieben, Erneuerbare-Energie-Betrieben oder auch zur weiteren Suburbanisierung der Großstädte.

Die neuen Junker Ostdeutschlands scheinen auf absehbare Zeit Finanzinvestoren mit zumeist vermögendem Erbschaftshintergrund zu werden. Mit dem Unterschied, dass die alten, feudalen Gutsherren noch am Ort ansässig waren und dort die Knechte und Mägde persönlich peinigen konnten. Noch nicht mal ein Gesicht, das sie bei Streitigkeiten anbrüllen und gegen das sie rebellieren können, haben die Dorfbewohner vor sich. Es sind nur noch Beteiligungszahlen anonymer Investitionsholdings, an die die Erträge abgeführt werden. Kein Ostdeutscher wird jemals diese Bodenpreise bezahlen können. Dass die bei rechten Kräften ohnehin unbeliebten erneuerbaren Energien – im Kampf gegen den Klimawandel der entscheidende Hebel – dadurch aus guten Gründen unbeliebter werden, bleibt ein krasses Versagen der kapitalistischen Eigentumsideologie.

Jonas Werner ist studierter Soziologe und arbeitet als freier Journalist und Autor. Ihn beschäftigt hauptsächlich Ostdeutschland, Südosteuropa, Geopolitik und Fußball.