15. April 2022
Vor fünfzig Jahren verstarb Otto Brenner, der die IG Metall zu einer der weltweit stärksten Gewerkschaften machte. Als demokratischer Sozialist war er überzeugt: Eine befreite Gesellschaft verlangt nach der Demokratisierung der Wirtschaft.
Otto Brenner: demokratischer Sozialist und linker Gewerkschafter (1907-1972).
Heute vor fünfzig Jahren ist der langjährige IG-Metall-Vorsitzende Otto Brenner verstorben. Er gehörte zu jenem Typus proletarischer Arbeiterführer, die von der Pike auf gelernt hatten, für die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter zu kämpfen. Ein Blick auf Brenners politische und gewerkschaftliche Vita zeigt, dass er zu den einflussreichsten Gewerkschaftsführern der deutschen Nachkriegsgeschichte gehört.
Geboren und aufgewachsen in Hannover, engagierte sich Brenner schon in seiner Jugend in der Hannoveraner Arbeiterbewegung. Zu nennen wären unter anderem der Deutsche Metallarbeiterverband (DMV), die Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ), die SPD, die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) und der Arbeiterabstinenzlerbund. Er stand zudem auch mit dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) in Kontakt, einer klandestin arbeitenden Organisation, die ihren Mitgliedern einen asketischen Lebensstil abverlangte – und einen solchen pflegte Brenner zeit seines Lebens. Er stammte aus bescheidenen Verhältnissen und wurde durch den harten Alltag im damaligen Arbeitermilieu geprägt.
Der Erste Weltkrieg und die bürgerkriegsähnlichen Zustände im nachrevolutionären Deutschland verschlechterten die allgemeinen Lebensbedingungen, sodass Arbeit, Hunger und sozioökonomische Unsicherheit für den jungen Brenner genauso zur Normalität gehörten wie die Schule. Sein Vater, ein Sozialdemokrat, kehrte erst spät aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Schon früh musste der Sohn zum Lebensunterhalt der Familie – für die Mutter und die beiden Schwestern – beitragen.
Während der kurzen Konsolidierungsphase der Weimarer Republik Mitte der 1920er Jahre erkannte der junge Brenner, dass das demokratische Prinzip die Voraussetzung für gewerkschaftliches Handeln bildet und unternehmerische Aktivität daher unter gesellschaftliche Kontrolle gestellt werden muss.
Der Börseneinbruch von 1929 veranschaulichte dies einmal mehr: Er leitete nicht nur die Weltwirtschaftskrise ein, sondern rief insbesondere in Deutschland Massenarbeitslosigkeit und Armut hervor. Die zunehmende politische Instabilität, die durch rasch wechselnde Präsidialkabinette, Auflösungen und Neuwahlen des Reichstages 1931–1933 gekennzeichnet war, verschärfte die Krise zusätzlich. Dies wiederum erleichterte die Machtübernahme der erstarkten NSDAP am 30. Januar 1933.
Brenner war wie viele andere linke Sozialdemokraten unzufrieden über den Anpassungskurs der Parteiführung. In der Folge trat er zur SAPD über, deren Gründung 1931 eine Folge der Panzerkreuzer-Debatte und der umstrittenen »Großen Koalition« war. In seinem Engagement in der SAPD, die neben der Kommunistischen Partei-Opposition (KPD-O) die zweite bedeutende Zwischengruppe darstellte, strebte Brenner eine Einheitsfront aller Arbeiterorganisationen im Kampf gegen die Faschisierung der Weimarer Republik an. Der Bruderkampf zwischen SPD und KPD und deren irriger Sozialfaschismusthese hatten die Arbeiterbewegung gespalten und in eine kampflose Niederlage getrieben. Diese war die gleichsam logische Folge, zumal große Teile der konservativ-reaktionären Eliten einer Machtübergabe an Hitler per se nicht ablehnend gegenüberstanden.
Ab Februar/März 1933 organisierte Brenner die illegale Arbeit der SAPD im Bezirk Hannover. Er war auch einer der sechzig Delegierten, die am 11./12. März 1933 am letzten, bereits illegalen Parteitag der SAPD in Dresden teilnahmen. Eine Mehrzahl der Delegierten, darunter Brenner, widersetzte sich dem Auflösungsbeschluss des Vorstandes. Ende August wurde er verhaftet und wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu zwei Jahren Gefängnishaft verurteilt. Danach stand er bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges unter Polizeiaufsicht.
Brenners Briefe aus dem Gefängnis an seine Frau Martha gehören zu den wenigen »privaten« Dokumenten, die einen Einblick in die menschliche Seite Brenners eröffnen. Wichtig sind diese Gefängnisbriefe auch, weil sie trotz Zensur einiges über den politischen Reifungsprozess des jungen Brenner aussagen. Aus der zwölfjährigen NS-Herrschaft, die im Zweiten Weltkrieg und der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden gipfelte, zog Brenner folgende Lehre:
»Als sich im Jahre 1945 die wenigen Gewerkschafter, die manchmal nur durch Zufall das Dritte Reich und seinen Untergang überlebt hatten, in den Trümmern ihrer Städte wieder zusammenfanden, waren sie alle darüber einig: Es darf nie wieder zu einem 1933 kommen! Gerade die jungen Menschen sollten diesen Schwur bekräftigen durch das Gelöbnis, dass wir bereit sind, unsere aus den Trümmern des Dritten Reiches neuerstandene Demokratie gegen alle ihre Feinde von rechts und links mit aller Entschiedenheit zu verteidigen.«
1947 wurde Brenner Bezirksleiter der IG Metall in Hannover. Dieser Schritt erwies sich als Karrieresprung. Zuvor hatte er sich mit der Organisation des ersten Streiks der Nachkriegszeit einen Namen gemacht: der Panzer-Bode-Streik von 1946. Zügig stieg er zu einem avancierten Nachwuchskader der IG Metall auf. Doch politisch steckte er in einem Dilemma: Aufgrund des sich abzeichnenden Kalten Krieges erwiesen sich Vorstellungen einer sozialistischen Neuordnung als illusorisch. Weder die USA und ihre Verbündeten noch die Sowjetunion hatten ein Interesse an einer selbstbestimmten sozialistischen Transformation ihrer deutschen Besatzungszonen, aus denen 1949 die beiden deutschen Staaten als Teil der Westblock-Ostblock-Konfrontation hervorgingen. Überdies verschärfte sich auch die Konkurrenz zwischen SPD und KPD erneut. Ein Eintritt in die stalinistisch geprägte KPD, die 1956 vom Bundesverfassungsgericht verboten wurde, kam für Brenner nicht in Frage und eine Wiederbelebung der SAPD war wenig erfolgversprechend. So blieb nur der Weg in die SPD, den er mit anderen SAPD- und Zwischengruppenkadern vollzog.
Nachdem eine antikapitalistische Neuordnung der Bundesrepublik zum Scheitern verurteilt war, machte sich in Teilen der Gewerkschaften ein gewisser Defätismus breit. Die Mehrheit der Arbeiterschaft war eher an einer Verbesserung ihrer Lebensbedingungen interessiert als an einer Sozialisierung der Produktionsmittel. Nur in der Montanindustrie überwog 1950/1951 die Kampfbereitschaft für mehr Mitbestimmung. Übrig blieb die Einigung zwischen DGB-Chef Hans Böckler und Bundeskanzler Konrad Adenauer, die unter anderem die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie umfasste. Kernforderungen des DGB-Grundsatzprogramms von 1949 – wie etwa die volkswirtschaftliche Gesamtplanung, die Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum und die umfassende Mitbestimmung der Arbeiterschaft –, an denen Brenner festhielt, waren entweder gar nicht oder nur rudimentär erfüllt worden.
Tatsächlich führte Brenner die IG Metall in den 1950er und 60er Jahren zu ihren wichtigsten organisations- und tarifpolitischen Erfolgen, wodurch sie in der bundesdeutschen Gewerkschaftsbewegung bis heute eine Schlüsselposition einnimmt. Zu erinnern ist an den Kampf um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiterinnen und Arbeiter, die 1956 im berühmten 16-wöchigen Schleswig-Holstein-Streik durchgesetzt wurde. Ebenso bedeutsam war die stufenweise Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit von 48 Stunden (1956) auf 40 Stunden (1967). In der Ära Brenner gelang es der IG Metall, ihre Gegner zu schwächen und die soziale Landschaft der Bundesrepublik zu gestalten. Unter Brenners Ägide stieg der Mitgliederbestand in einem Zeitraum von zwanzig Jahren von 1.600.457 auf 2.354.975 an. Seitdem gilt die IG Metall als größte freie Industriegewerkschaft der Welt und spielt auf internationalem Parkett eine wichtige Rolle. Im Jahr 1961 wurde Brenner Vorsitzender des Internationalen Metallarbeiterbundes.
In diesem Kontext sind die Begriffe Gegen- und Ordnungsmacht zentral. Unter Brenner verstand sich die IG Metall als Gegenmacht, der es darauf ankam, tarifpolitische, aber auch gesellschaftspolitische Ziele durchzusetzen. Brenner war sich des Spagats zwischen Gegen- und Ordnungsmacht bewusst, den die IG Metall in der Montanindustrie bisweilen meistern musste – eine Herausforderung, der er sich als Gewerkschaftsvorsitzender und Vize-Aufsichtsratsmitglied bei Krupp stellte. Die Septemberstreiks 1969 und andere »wilde Streiks« in der Metall- und Stahlindustrie legen nahe, dass – auch bedingt durch eine in Regierungsverantwortung stehende SPD – schließlich auch Brenner teilweise die Bedürfnisse der Arbeiterschaft falsch gedeutet hatte und er die Rolle als Ordnungsmacht in dieser Branche mitunter überstrapazierte, wobei er sowohl Vorsicht als auch Konfliktbereitschaft zeigte.
Angesichts einer widersprüchlichen gesellschaftlichen Gemengelage standen die Gewerkschaften vor der schwierigen Aufgabe, zur Schaffung einer freieren und gerechteren Gesellschaftsordnung beizutragen. Am Ende konnte das aus Brenners Perspektive nur ein demokratischer Sozialismus sein, der nur mit demokratischen Mitteln innerhalb des demokratischen Staates zu erreichen sei. Dazu gehörte dessen Fundierung der politischen durch die soziale Demokratie bzw. die Wirtschaftsdemokratie. Denn: »Politische Demokratie allein beseitigt noch nicht wirtschaftliche Unfreiheit und Abhängigkeit der Arbeitnehmer. Wirtschaftliche Unfreiheit aber bildet eine ständige Bedrohung der politischen Demokratie. […] Wenn aber wieder einmal in Krisenzeiten wirtschaftliche Macht politisch missbraucht werden sollte, dann könnte es abermals zu spät sein«.
Eine weitere – damit zusammenhängende – Herausforderung stellte der Kampf gegen die Notstandsgesetze dar. Hierbei ging es Brenner zufolge um die Wahrung des Grundgesetzes und der demokratischen Ordnung – ein Thema, das angesichts der beispiellosen und verfassungswidrigen Außerkraftsetzung von Grundrechten während der Coronakrise von aktueller gesellschaftspolitischer Brisanz ist. Im Spiegel verdeutlichte er seine Position: »Als äußerst gefährlich erscheinen mir: die Einschränkung wesentlicher demokratischer Grundrechte, besonders der Koalitionsfreiheit, des Streikrechts, der freien Arbeitsplatzwahl, der Meinungs-, Informations- und Versammlungsfreiheit, die unklare Abgrenzung des äußeren Notstandes, die teilweise Ausschaltung des Bundestages durch den so genannten gemeinsamen Ausschuss und schließlich der ganze Perfektionismus, der zu einer allgemeinen Verplanung und Militarisierung der Menschen führt«.
Der gemäßigte Radikalismus in der Politik der IG Metall und ihres Vorsitzenden machte sich im Umgang mit den Notstandsgesetzen und der damit verbundenen Verfassungsänderung bemerkbar. Erstmals bildete sich in der Bundesrepublik Deutschland ein Bündnis aus studentischer außerparlamentarischer Opposition (APO), Auszubildenden, Schülern und Gewerkschaften. Auch wenn die politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse durch die Interventionen dieser heterogenen sozialen Bewegungen aufgeweicht wurden und den Notstandsgesetzesentwürfen aus gewerkschaftlicher Perspektive einige »Giftzähne« gezogen werden konnten (etwa bezüglich der Koalitions- und Versammlungsfreiheit und der besseren Einbindung des Parlaments), war es nicht gelungen, die Notstandsgesetze von 1968 zu verhindern.
Als einer der ersten Gewerkschaftsführer entwickelte er ein differenziertes Problembewusstsein über die neuen gesellschaftlichen Strukturbedingungen, die sich aus dem technologischen Fortschritt ergaben. Neben ihren positiven Wirkungen auf den Lebensstandard der Menschen und deren Befreiung von unwürdiger Arbeit war er sich auch ihrer Gefahren bewusst: technologische Arbeitslosigkeit, sinkende Massenkaufkraft, Entwertung von Berufsqualifikationen, wachsende Konzentration von Unternehmen, Monopolisierung der Märkte und die Ballung ökonomischer Macht in den Händen weniger. Bereits im Oktober 1956 forderte der DGB – auch auf Drängen der IG Metall – die volle Mitbestimmung der Gewerkschaften bei der Planung und Durchführung aller Automatisierungen. Ebenso verlangte er einen Rationalisierungsschutz für die betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Maßnahmen zur Humanisierung der Arbeit.
Eine ähnliche ambivalente Belastung erkannte der DGB in der Verwendung der Kernenergie, die einerseits der Entfaltung der Produktivkräfte neue Möglichkeiten eröffnete, andererseits zu einer solchen Bedrohung erwuchs, dass ihre industrielle Nutzung unter keinen Umständen auf privatkapitalistischer Grundlage, sondern nur unter vollständiger demokratischer Kontrolle erfolgen sollte.
Auf dem 8. Gewerkschaftstag der IG Metall 1966 stellte Brenner den zunehmend mit den Umwälzungen in Technik, Wissenschaft, Atomenergie und Weltraumforschung konfrontierten Menschen in den Vordergrund. Ähnlich wie die Wirtschaft für den Menschen da sei, so habe gemäß Brenner auch die Technik für den Menschen da zu sein und ihm das Leben zu erleichtern. Aufgabe der Gewerkschaften sei es, das aktivste und dynamischste Element des Wandels zu sein und dabei die Interessen der arbeitenden Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns zu stellen, da die Ambivalenzen moderner Gesellschaften zunähmen: »Zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit sind uns die Mittel in die Hand gegeben, mit denen wir soziale Probleme lösen können. Gelingt uns das nicht, dann würde sich die paradoxe Situation ergeben, dass eine Zivilisation zerstört wird, für deren großartige Entfaltung der menschliche Geist alle Voraussetzungen geschaffen hat.« Seine Reden, etwa auf der ersten Oberhausener Zukunftskonferenz der IG Metall, veranschaulichen, mit welcher Intensität sich Brenner mit dieser Thematik befasste.
Seit Gründung der Bundesrepublik gehörte Brenner zu den wichtigsten Kritikern des »CDU-Staates«. Implizit wies Brenner der IG Metall ein politisches Mandat zu, das die arbeitnehmer- und gewerkschaftsfeindliche Politik der CDU geführten Bundesregierung heftig kritisierte und politische Alternativen aufzeigte. Es widersprach Brenners Gerechtigkeitsempfinden, einer privilegierten Oberschicht gesellschaftlichen Reichtum zuzugestehen und den breiten Massen Maßhalten und Mehrarbeiten zuzumuten. Dies motivierte ihn, insbesondere Bundeskanzler Erhard mitunter heftig zu attackieren.
Wie bereits die erste Nachkriegsrezession 1966/67 aufzeigte, war die Expansion des Kapitalismus in der Prosperitätsphase kein ehernes Gesetz. Brenner verwies beharrlich auf dessen Instabilität und ging von immer wieder aufkommenden Wirtschaft- und damit gesellschaftspolitischen Krisen aus. Die hegemoniale Annahme, die soziale Marktwirtschaft garantiere »Wohlstand für alle«, hielt er für ein Ammenmärchen.
Noch 1971 gebrauchte er den Begriff »Klassengesellschaft«, um die ungleichen Besitzverhältnisse und Verteilungsmechanismen innerhalb der »sozialen Marktwirtschaft« zu beschreiben. Auch wenn manchem der Begriff des Klassenkampfes antiquiert erscheine, so bleibe doch unbestreitbar, dass es noch immer »Ungerechtigkeit und Ausbeutung, einseitige Verteilung von Macht und Besitz, ungleiche Lebenschancen und zahllose andere Widersprüche, gegen die man angehen muss« gebe. Dazu bedürfe es des gemeinsamen Handelns und der Solidarität, wozu sich die Gewerkschaften von Anfang verpflichtet fühlten. Wenn es darum geht, die Transformation von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft für alle zu gestalten, trägt die IG Metall diesen Anspruch Brenners bis heute weiter. Der Ausgang freilich bleibt offen.
Jens Becker ist Sozialwissenschaftler und Referatsleiter in der Abteilung Studienförderung der Hans-Böckler-Stiftung.